IX

[148] Bilibin befand sich jetzt in der Stellung eines diplomatischen Beamten beim Hauptquartier der Armee und schilderte in diesem Brief den ganzen Feldzug, zwar in französischer Sprache und mit französischen Scherzen und Phrasen, aber mit jener unerschrockenen Selbstverurteilung und Selbstverspottung, die die Russen vor allen anderen Nationen auszeichnet. Bilibin schrieb, seine diplomatische Schweigepflicht werde ihm zur Pein, und er sei glücklich darüber, daß er an dem Fürsten Andrei einen zuverlässigen Freund habe, dem er brieflich all die Galle ausschütten könne, die sich bei ihm, angesichts der Vorgänge beim Heer, angesammelt habe. Der Brief war schon älteren Datums, vor der Schlacht bei Preußisch-Eylau geschrieben.

»Sie wissen, lieber Fürst«, schrieb Bilibin, »daß ich seit unseren großartigen Erfolgen bei Austerlitz die Hauptquartiere nicht mehr verlasse. Ich habe am Krieg entschieden Geschmack gefunden und habe davon großen Vorteil. Was ich in diesen drei Monaten gesehen habe, ist unglaublich.

Ich beginne ab ovo. Der Feind des Menschengeschlechts[148] greift, wie sie wissen, die Preußen an. Die Preußen sind unsere treuen Verbündeten, die uns in drei Jahren nur dreimal betrogen haben. Wir ergreifen für sie Partei. Aber es stellt sich heraus, daß der Feind des Menschengeschlechts sich um unsere schönen Reden nicht im geringsten kümmert, sondern sich in seiner unmanierlichen, rohen Art auf die Preußen stürzt, ohne ihnen Zeit zu lassen, ihre begonnene Parade zu beendigen, sie im Handumdrehen gründlich zusammenhaut und sich im Potsdamer Schloß einquartiert.

›Ich wünsche auf das lebhafteste‹, schreibt der König von Preußen an Bonaparte, ›daß Euer Majestät in meinem Schloß in einer Ihren Wünschen entsprechenden Weise aufgenommen und behandelt werden, und ich habe mich bemüht, zu diesem Zweck alle Maßregeln zu treffen, die die Umstände mir gestatten. Möchte mir dies gelungen sein!‹ Die preußischen Generale können sich in Höflichkeiten gegen die Franzosen gar nicht genugtun und legen bei der ersten Aufforderung die Waffen nieder.

Der Kommandant von Glogau, der zehntausend Mann zu seiner Verfügung hat, fragt bei dem König von Preußen an, was er tun solle, wenn er aufgefordert werde, sich zu ergeben ... All das ist Tatsache.

Um es kurz zu machen: während wir dem Feind durch unsere bloße kriegerische Attitüde zu imponieren gehofft hatten, zeigt es sich, daß wir jetzt allen Ernstes in einen Krieg hineingeraten sind, und was noch schlimmer ist, in einen Krieg an unseren Grenzen avec et pour le roi de Prusse. Unsere Truppen sind schlagfertig; es fehlt uns nur eine Kleinigkeit, nämlich der Oberkommandierende. Da man zu der Überzeugung gelangt ist, daß die Erfolge bei Austerlitz hätten entscheidender sein können, wenn der Oberkommandierende nicht so jung gewesen wäre, so läßt[149] man die achtzigjährigen Generale Revue passieren, und als die Wahl zwischen Prosorowski und Kamenski schwankt, gibt man dem letzteren den Vorzug. Der Oberkommandierende trifft bei uns nach Suworows Manier in einem Bauernschlitten ein und wird mit Freudenrufen und Triumphgeschrei empfangen.

Am 4. kommt der erste Kurier aus Petersburg an. Die Briefsäcke werden in das Arbeitszimmer des Feldmarschalls gebracht, der alles gern selbst macht. Ich werde gerufen, um beim Sortieren der Briefe zu helfen und diejenigen in Empfang zu nehmen, die für die diplomatische Kanzlei bestimmt sind. Der Feldmarschall sieht uns bei unserer Tätigkeit zu und wartet auf die an ihn adressierten Briefschaften. Wir suchen und suchen – es sind keine dabei. Der Feldmarschall wird ungeduldig, macht sich selbst an die Arbeit und findet Briefe des Kaisers an den Grafen T., an den Fürsten W. und an andere Persönlichkeiten. Da bekommt er einen seiner Wutanfälle. Er speit Feuer und Flammen gegen jedermann, bemächtigt sich der Briefe, erbricht sie und liest die des Kaisers, die an andere adressiert sind. ›Ah, so behandelt man mich! Man hat kein Zutrauen zu mir! Ah, es wird befohlen, mich zu beaufsichtigen! Schön, schön! Macht mal alle, daß ihr hinauskommt!‹ Und er setzt sich hin und schreibt den famosen Tagesbefehl an den General Bennigsen:

›Ich bin verwundet und kann nicht reiten, somit auch nicht das Heer kommandieren. Sie haben Ihr geschlagenes Armeekorps nach Pultusk geführt; dort ist es ungedeckt und hat weder Holz noch Furage; daher ist Abhilfe nötig, und da Sie sich gestern schon selbst an den Grafen Buxhöwden gewandt haben, so müssen Sie an den Rückzug nach unserer Grenze denken und diesen heute noch ausführen.‹

›Vom vielen Reiten‹, schreibt er an den Kaiser, ›habe ich mich durchgerieben, was, zu meinen früheren Körperbeschwerden[150] hinzukommend, mich völlig unfähig macht, zu reiten und eine so große Armee zu befehligen, und daher habe ich das Kommando über dieselbe dem rangältesten General nach mir, dem Grafen Buxhöwden, übertragen, den ganzen Stab, und was sonst noch dazugehört, zu ihm geschickt und ihm geraten, wenn das Brot zu Ende sein wird, sich mehr in das Innere Preußens zurückzuziehen, da nur noch für einen Tag Brot übrig ist und bei manchen Regimentern gar keins mehr, wie die Divisionskommandeure Ostermann und Sedmorjezki gemeldet haben; auch bei den Bauern ist alles aufgezehrt. Ich selbst werde bis zu meiner Herstellung im Hospital zu Ostrolenka bleiben. Über dessen Krankenbestand überreiche ich alleruntertänigst einen Rapport und berichte nur noch, daß, wenn die Armee in dem jetzigen Biwak noch vierzehn Tage bleibt, im Frühjahr auch nicht ein Mann mehr gesund sein wird.

Gestatten Sie einem Greis, der sich entehrt fühlt, weil er die große, ruhmvolle Aufgabe nicht hat erfüllen können, zu der er auserwählt war, auf sein Landgut zurückzukehren. Ihre allergnädigste Erlaubnis dazu werde ich hier im Hospital erwarten, um nicht bei der Armee die Rolle eines Schreibers statt der des Oberkommandierenden zu spielen. Mein Ausscheiden aus der Armee wird nicht das geringste Aufsehen machen, da in meiner Person eben nur ein Erblindeter die Armee verläßt. Männer, wie ich einer bin, hat Rußland Tausende.‹

Der Feldmarschall ist aufgebracht über den Kaiser und läßt es uns alle entgelten. Das ist doch durchaus logisch!

Dies ist also der erste Akt der Komödie. Bei den folgenden Akten steigert sich selbstverständlich die Komik und die Spannung. Nach dem Abgang des Feldmarschalls stellt sich heraus, daß wir dem Feind dicht gegenüberstehen und eine Schlacht liefern müssen. Buxhöwden ist nach dem Recht der Anciennität Oberkommandierender;[151] aber der General Bennigsen ist anderer Meinung, um so mehr, da gerade er mit seinem Korps dem Feind am nächsten gegenübersteht und die Gelegenheit benutzen möchte, selbständig eine Schlacht zu liefern. Er liefert sie also.

Dies ist die Schlacht bei Pultusk, die als ein großer Sieg gilt, meiner Ansicht nach aber keineswegs ein solcher ist. Wir Zivilisten haben, wie Sie wissen, eine sehr häßliche Art, darüber zu urteilen, ob eine Schlacht gewonnen oder verloren ist. Wir sagen: ›Wer sich nach der Schlacht zurückgezogen hat, der hat sie verloren‹, und von diesem Standpunkt aus sind wir es, die die Schlacht bei Pultusk verloren haben. Aber obgleich wir uns nach der Schlacht zurückziehen, schicken wir doch nach Petersburg einen Kurier mit einer Siegesnachricht, und der General stellt sich nicht unter Buxhöwdens Kommando, in der Hoffnung, er selbst werde zum Dank für seinen Sieg aus Petersburg den Titel des Oberkommandierenden erhalten. Während dieses Interregnums führen wir eine Reihe außerordentlich interessanter, origineller Manöver aus. Unser Zweck besteht nicht, wie er eigentlich sollte, darin, dem Feind aus dem Weg zu gehen oder ihn anzugreifen, sondern einzig und allein darin, dem General Buxhöwden aus dem Weg zu gehen, der nach dem Recht der Anciennität unser Vorgesetzter sein sollte. Wir verfolgen diesen Zweck mit einer derartigen Energie, daß wir sogar nach Überschreitung eines Flusses, der keine Furten hat, die Brücken verbrennen, um unsern Feind von uns abzuhalten, der zur Zeit nicht Bonaparte, sondern Buxhöwden ist. Einmal fehlte nicht viel daran, daß der General Buxhöwden infolge eines unserer schönen Manöver, das uns vor ihm gerettet hatte, von überlegenen feindlichen Streitkräften angegriffen und überwältigt wurde. Buxhöwden verfolgt uns, wir fliehen vor ihm. Kaum kommt er auf unsere Seite des Flusses[152] herüber, so überschreiten wir den Fluß wieder nach der andern Seite hin. Endlich gelingt es unserem Feind Buxhöwden doch, uns zu fassen, und er greift uns an. Es kommt zu einer scharfen Auseinandersetzung. Die beiden Generale werden heftig gegeneinander. Buxhöwden fordert sogar seinen Gegner zum Duell, und Bennigsen bekommt einen epileptischen Anfall. Aber im kritischen Augenblick bringt der Kurier, der die Nachricht von unserem Sieg bei Pultusk nach Petersburg gebracht hat, uns von dort unsere Ernennung zum Oberkommandierenden zurück, und der erste Feind, Buxhöwden, ist besiegt: nun können wir an den zweiten denken, an Bonaparte. Aber da erhebt sich in diesem Augenblick gar ein dritter Feind gegen uns, das ›rechtgläubige Kriegsheer‹, das unter lautem Geschrei Brot, Fleisch, Zwieback, Heu, und ich weiß nicht was sonst noch alles, verlangt! Die Magazine sind leer, die Wege unpassierbar. Das rechtgläubige Kriegsheer beginnt zu marodieren, und zwar in einer Weise, von der Sie sich sogar nach den Erfahrungen des letzten Feldzuges nicht im entferntesten eine Vorstellung machen können. Die Hälfte aller Regimenter verwandelt sich in unordentliche Haufen, die das Land durchziehen und alles mit Feuer und Schwert verwüsten. Die Einwohner sind vollständig ruiniert, die Hospitäler von Kranken überfüllt, überall herrscht Hungersnot. Zweimal ist das Hauptquartier von marodierenden Truppen angegriffen worden, und der Oberkommandierende selbst hat sich genötigt gesehen, sich ein Bataillon Soldaten geben zu lassen, um sie zu vertreiben. Bei einem dieser Angriffe sind mir mein leerer Koffer und mein Schlafrock geraubt worden. Der Kaiser will allen Divisionskommandeuren die Berechtigung erteilen, Marodeure erschießen zu lassen; aber ich fürchte sehr, daß dann die eine Hälfte des Heeres genötigt sein wird, die andere zu erschießen.«

Fürst Andrei hatte anfangs nur mit den Augen gelesen; aber[153] dann begann das, was er las (obwohl er wußte, wieweit man Bilibin glauben durfte), ihn unwillkürlich mehr und mehr zu interessieren. Als er jedoch bis zu dieser Stelle gelesen hatte, ballte er den Brief zusammen und warf ihn von sich. Er ärgerte sich nicht sowohl über das, was er in dem Brief las, als vielmehr darüber, daß diese Nachrichten von dem dortigen, ihm jetzt fremden Leben imstande waren, ihn zu erregen. Er schloß für einen Moment die Augen, fuhr sich mit der Hand über die Stirn, als ob er alles Interesse für das Gelesene verscheuchen wollte, und horchte auf das, was in der Kinderstube vorging. Plötzlich glaubte er hinter der Tür einen sonderbaren Laut zu hören. Eine Angst überfiel ihn; er fürchtete, es könne mit dem Kind, während er den Brief las, schlimmer geworden sein. Er näherte sich auf den Zehen der Tür des Kinderzimmers und öffnete sie.

In dem Augenblick, als er eintrat, sah er, daß die Kinderfrau mit erschrockener Miene etwas vor ihm verbarg, und daß Prinzessin Marja nicht mehr bei dem Bettchen stand.

»Lieber Bruder«, hörte er hinter sich Prinzessin Marja flüstern, und er glaubte aus ihrem Ton die Verzweiflung herauszuhören.

Wie das nach langer Schlaflosigkeit und langer Aufregung häufig vorkommt, überfiel ihn eine grundlose Angst; es fuhr ihm der Gedanke durch den Kopf, das Kind sei gestorben. Alles, was er sah und hörte, erschien ihm als eine Bestätigung dieser Befürchtung.

»Es ist alles zu Ende«, dachte er, und kalter Schweiß trat ihm auf die Stirn. Fast besinnungslos näherte er sich dem Bettchen, überzeugt, daß er es leer finden werde, daß das, was die Kinderfrau vor ihm versteckte, das tote Kind gewesen sei. Er schlug die Bettvorhänge auseinander, und lange vermochten seine angstvoll umherirrenden Augen nicht, das Kind zu finden. Endlich sah[154] er es: der Knabe, dessen Gesichtsfarbe jetzt gut aussah, hatte sich im Schlaf umhergeworfen und lag nun quer im Bett; sein Kopf war ganz vom Kopfkissen heruntergerutscht; die Lippen bewegten sich saugend und schmatzend; das Kind atmete gleichmäßig.

Bei dem Anblick des Knaben freute sich Fürst Andrei so, als ob er ihn bereits verloren gehabt hätte. Er beugte sich herab und suchte, wie ihn das die Schwester gelehrt hatte, mit den Lippen festzustellen, ob das Kind Hitze habe. Die zarte Stirn war feucht; er berührte den Kopf mit der Hand – auch die Haare waren feucht: so stark schwitzte das Kind. Nicht nur, daß es nicht gestorben war, augenscheinlich war sogar die Krisis jetzt überstanden und das Kind in der Genesung begriffen. Er hätte das kleine, hilflose Wesen am liebsten erfaßt, aufgehoben, an seine Brust gedrückt; aber er wagte nicht, dies zu tun. Er stand da, über das Kind gebeugt, und betrachtete sein Köpfchen, seine Ärmchen und die sich unter der Bettdecke abzeichnenden Beinchen. Ein Geräusch wurde neben ihm hörbar, und er bemerkte einen Schatten innerhalb der Vorhänge. Er sah sich nicht danach um, sondern blickte immer nur nach dem Gesicht des Kindes und horchte auf sein gleichmäßiges Atmen. Der dunkle Schatten war Prinzessin Marja, die mit unhörbaren Schritten zu dem Bettchen herangekommen war, den Vorhang aufgehoben und hinter sich wieder hatte niederfallen lassen. Fürst Andrei erkannte sie, ohne nach ihr hinzusehen, und streckte ihr seine Hand hin. Sie drückte sie ihm herzlich.

»Er schwitzt«, sagte Fürst Andrei.

»Ich kam, um dir das zu sagen«, erwiderte sie.

Das Kind bewegte sich im Schlaf ein wenig, lächelte und rieb sich mit der Stirn am Kopfkissen.

Fürst Andrei sah seine Schwester an. Die leuchtenden Augen[155] der Prinzessin Marja glänzten in dem matten Halbdunkel, das hinter den Vorhängen herrschte, noch heller als sonst, da sie voll glückseliger Tränen standen. Sie beugte sich zu ihrem Bruder hin und küßte ihn, wobei der Vorhang ein wenig an ihr hängenblieb. Sie drohten einer dem andern und blieben noch ein Weilchen in der matten Beleuchtung hinter den Vorhängen stehen, wie wenn sie sich von dieser kleinen Welt gar nicht trennen wollten, wo sie drei von der ganzen Menschheit getrennt und geschieden waren. Fürst Andrei war der erste, der von dem Bett zurücktrat; er brachte dabei an dem Musselinvorhang seine Haare in Unordnung.

»Ja, das ist das einzige, was mir jetzt noch geblieben ist«, sagte er mit einem Seufzer.

Quelle:
Tolstoj, Lev Nikolaevic: Krieg und Frieden. 4 Bde., Leipzig 1922, Band 2, S. 148-156.
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