[176] Am Abend setzten sich Fürst Andrei und Pierre in den Wagen und fuhren nach Lysyje-Gory. Fürst Andrei richtete ab und zu seine Blicke auf Pierre und unterbrach das Stillschweigen durch einzelne Bemerkungen, die zeigten, daß er sich in heiterer Stimmung befand.
Er wies auf die Felder und erzählte ihm von seinen landwirtschaftlichen Verbesserungen.
Pierre schwieg mit finsterer Miene, gab nur einsilbige Antworten und schien ganz in seine Gedanken versunken zu sein.[176]
Der Inhalt seiner Gedanken war, daß Fürst Andrei unglücklich sei, auf einem Irrweg wandle, das wahre Licht nicht kenne, und daß er, Pierre, die Pflicht habe, ihm zu Hilfe zu kommen, ihn zu erleuchten und hinaufzuheben. Aber als er es sich nun zurechtzulegen suchte, wie und was er zu ihm reden solle, sah er sofort voraus, daß Fürst Andrei ihm mit einem einzigen Wort, mit einem einzigen Argument seine ganze Lehre über den Haufen stoßen werde, und er fürchtete sich anzufangen, fürchtete sich, sein teures Allerheiligstes der Möglichkeit einer Verspottung auszusetzen.
»Nein, was haben Sie eigentlich für einen Grund, so zu denken?« begann Pierre plötzlich, indem er den Kopf senkte und die Haltung eines stößigen Ochsen annahm. »Warum denken Sie so? Sie dürfen nicht so denken.«
»So denken? Worüber denn?« fragte Fürst Andrei erstaunt.
»Über das Leben, über die Bestimmung des Menschen. Das dürfen Sie nicht. Ich habe ebenso gedacht, und wissen Sie, was mich gerettet hat? Die Freimaurerei. Nein, lächeln Sie nicht. Die Freimaurerei, das ist nicht eine religiöse, sich nur mit Zeremonien abgebende Sekte, wie auch ich früher glaubte; sondern die Freimaurerei ist die beste, einzige Form, in welcher die besten, ewigen Seiten der Menschheit zum Ausdruck kommen.«
Und nun begann er dem Fürsten Andrei die Freimaurerei so zu erklären, wie er sie auffaßte. Er sagte, die Freimaurerei sei die Lehre des Christentums, befreit von staatlichen und religiösen Fesseln; eine Lehre der Gleichheit, der Brüderlichkeit und der Liebe.
»Nur innerhalb unserer heiligen Bruderschaft wird im wahren Sinn des Wortes gelebt; alles übrige Leben ist nur ein Traum«, sagte Pierre. »Sie wissen ja selbst, mein Freund, daß außerhalb dieses Bundes alles voll Lüge und Unwahrheit ist, und ich bin[177] ganz Ihrer Ansicht, daß dort einem verständigen, guten Menschen nichts anderes übrigbleibt, als, wie Sie es tun, still das Ende seines Lebens abzuwarten und nur darauf bedacht zu sein, anderen Menschen nicht lästig zu werden. Aber machen Sie sich unsere Grundanschauungen zu eigen, treten Sie in unsere Bruderschaft ein, geben Sie sich uns vertrauensvoll hin, lassen Sie sich von uns leiten, und Sie werden sofort dieselbe Empfindung haben, die auch ich gehabt habe: Sie werden sich als ein Glied jener gewaltigen, unsichtbaren Kette fühlen, deren Anfang sich im Himmel verbirgt.«
Fürst Andrei hörte schweigend und vor sich hinblickend an, was Pierre sagte. Einige Male, wo er wegen des Geräusches des Wagens nicht deutlich verstanden hatte, bat er Pierre, die Worte, die ihm entgangen waren, zu wiederholen. An dem besonderen Glanz, der aus den Augen des Fürsten Andrei leuchtete, und an seinem Stillschweigen merkte Pierre, daß seine Worte nicht vergeblich waren, daß Fürst Andrei ihn nicht unterbrechen wollte und nicht vorhatte, sich über das Gesagte lustig zu machen.
Sie gelangten zu dem über die Ufer getretenen Fluß, den sie auf einer Fähre übersetzen mußten. Die Wagen und die Pferde wurden auf die Fähre gebracht und dort zurechtgestellt, und sie selbst gingen ebenfalls auf die Fähre.
Auf das Geländer gestützt, blickte Fürst Andrei schweigend über die weite Fläche des Wassers hin, die in den Strahlen der untergehenden Sonne blitzte.
»Nun, wie denken Sie darüber?« fragte Pierre. »Warum schweigen Sie?«
»Wie ich darüber denke?« erwiderte Fürst Andrei. »Ich habe dich angehört, und das ist ja alles ganz schön; aber du sagst: ›Tritt in unsere Bruderschaft ein, und wir werden dir den Zweck des Lebens und die Bestimmung des Menschen und die Gesetze,[178] die die Welt regieren, zeigen.‹ Aber wer ist das: ›wir‹? Menschen? Woher wißt ihr denn alles? Woher kommt es denn, daß ich allein das nicht sehe, was ihr seht? Ihr seht auf Erden ein Reich des Guten und der Wahrheit, und ich sehe es nicht.«
Pierre unterbrach ihn.
»Glauben Sie an ein zukünftiges Leben?« fragte er.
»An ein zukünftiges Leben?« wiederholte Fürst Andrei Pierres Worte; aber Pierre ließ ihm nicht Zeit zu antworten und faßte diese Wiederholung als Verneinung auf, um so mehr, da ihm die früheren atheistischen Ansichten des Fürsten Andrei bekannt waren.
»Sie sagen, daß Sie ein Reich des Guten und der Wahrheit auf Erden nicht sehen können. Auch ich habe dieses Reich früher nicht gesehen, und man kann es überhaupt nicht sehen, wenn man meint, daß mit unserem Leben alles zu Ende ist. Auf der Erde, namentlich auf diesem Teil der Erde« (Pierre wies auf das Feld) »gibt es keine Wahrheit; da ist alles Lüge und Schlechtigkeit; aber in der Welt, in der ganzen Welt, da gibt es ein Reich der Wahrheit, und wir sind jetzt Kinder der Erde, aber für alle Ewigkeit Kinder der Welt. Fühle ich denn nicht in meiner Seele, daß ich einen Teil dieses gewaltigen, harmonischen Ganzen bilde? Fühle ich denn nicht, daß ich in dieser ungeheuren, zahllosen Menge von Wesen, in denen sich die Gottheit (oder, wenn Sie es anders nennen wollen, die höchste Kraft) offenbart, ein Zwischenglied, eine Zwischenstufe von niedrigeren Wesen zu höheren bin? Wenn ich diese von der Pflanze zum Menschen führende Stufenleiter sehe, sie deutlich sehe, mit welchem Recht kann ich dann annehmen, daß diese Stufenleiter mit mir abbricht und nicht vielmehr weiter und weiter führt? Ich fühle, daß ich nicht verschwinden kann, wie denn überhaupt nichts auf der Welt verschwindet, sondern immer existieren werde und immer existiert[179] habe. Ich fühle, daß es außer mir noch Geister gibt, Geister, die über mir leben, und daß in dieser Welt Wahrheit herrscht.«
»Ja, das ist die Lehre Herders«, erwiderte Fürst Andrei, »aber, lieber Freund, nicht diese Beweisführung ist es, die mich überzeugt, sondern die Erfahrung von Leben und Tod, die ist imstande zu überzeugen. Überzeugt fühlt man sich, wenn man sieht, wie ein liebes, teures Wesen, mit dem man eng verbunden war, dem gegenüber man eine Schuld auf sich geladen hatte, eine Schuld, die man wiedergutzumachen hoffte« (die Stimme begann ihm zu zittern, und er wandte das Gesicht ab), »... und nun muß man sehen, wie dieses Wesen auf einmal leidet, entsetzliche Qualen leidet und aufhört zu sein ... Warum? Es muß, es muß darauf eine Antwort vorhanden sein. Und ich glaube, daß eine Antwort vorhanden ist ... Siehst du, das ist's, was zu überzeugen imstande ist; das ist's, was mich überzeugt hat.«
»Nun ja, nun ja!« antwortete Pierre. »Sage ich denn nicht ganz dasselbe?«
»Nein. Meines Erachtens können uns von der Notwendigkeit eines zukünftigen Lebens nicht Beweise überzeugen, sondern nur die eigene Erfahrung: wenn man im Leben Hand in Hand mit einem Menschen geht und dieser Mensch auf einmal dort im leeren Raum verschwindet und man selbst vor diesem Abgrund stehenbleibt und hineinschaut. Und ich habe hineingeschaut ...«
»Nun also! Sie wissen, daß es ein Dort gibt, und daß ein Jemand da ist. Das Dort ist das zukünftige Leben. Der Jemand ist Gott.«
Fürst Andrei antwortete nicht. Der Wagen und die Pferde waren schon längst aus der Fähre an das andere Ufer herausgebracht und die Pferde wieder angespannt, und die Sonne war zur Hälfte untergegangen, und der Abendfrost überzog die Lachen[180] an der Überfahrtstelle mit Eissternchen; aber Pierre und Andrei standen zur Verwunderung der Diener, Kutscher und Fährleute immer noch auf der Fähre und redeten miteinander.
»Wenn es einen Gott und ein zukünftiges Leben gibt«, sagte Pierre, »so gibt es auch Wahrheit und Tugend; und das höchste Glück des Menschen besteht in dem Streben, die Wahrheit und die Tugend zu erreichen. Wir müssen leben, wir müssen lieben, wir müssen glauben, daß wir nicht nur heute und auf diesem Stückchen Erde leben, sondern immer gelebt haben und ewig leben werden, dort, im All« (er wies nach dem Himmel).
Fürst Andrei stand, auf das Geländer der Fähre gelehnt, und hörte seinem Freund zu; dabei blickte er unverwandt in den roten Widerschein der Sonne auf der bläulichen Wasserfläche. Pierre schwieg jetzt. Es herrschte tiefe Stille. Die Fähre lag schon längst ruhig am Ufer, und nur die Wellen der Strömung schlugen mit leisem Geräusch an den Boden der Fähre. Dem Fürsten Andrei kam es vor, als ob dieses Plätschern der Wellen zu Pierres Worten hinzufügte: »Das ist wahr; glaube es nur!«
Fürst Andrei seufzte und schaute mit leuchtendem, kindlichem, freundlichem Blick in Pierres gerötetes, begeistertes Gesicht, auf dem sich aber doch eine gewisse Schüchternheit vor dem geistig überlegenen Freund ausprägte.
»Ja, wenn es doch so wäre!« sagte Fürst Andrei. »Aber komm, wir wollen einsteigen«, fügte er hinzu und blickte beim Hinausgehen aus der Fähre zum Himmel auf, nach welchem Pierre hingewiesen hatte. Zum erstenmal nach Austerlitz erblickte er wieder jenen hohen, ewigen Himmel, den er gesehen hatte, als er auf dem Schlachtfeld von Austerlitz lag, und ein längst eingeschlafenes, gutes Gefühl, das in seiner Seele ruhte, erwachte plötzlich wieder freudig und jugendfrisch. Dieses Gefühl verschwand dann allerdings, sobald Fürst Andrei wieder in seine gewöhnlichen[181] Lebensverhältnisse eintrat; aber er war sich bewußt, daß dieses Gefühl, obwohl er nicht verstand, es weiterzuentwickeln, doch in seiner Seele fortlebte. Die Wiederbegegnung mit Pierre bildete für den Fürsten Andrei eine Epoche, in welcher, mochte sein Leben auch äußerlich dasselbe bleiben, doch in seiner inneren Welt ein neues Leben begann.
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