XIII

[182] Es dunkelte schon, als Fürst Andrei und Pierre sich dem Haupteingang des Gutshauses von Lysyje-Gory näherten. In diesem Augenblick lenkte Fürst Andrei lächelnd Pierres Aufmerksamkeit auf einen Tumult, der an der Hintertür stattfand. Eine gekrümmte Alte, mit einem Quersack auf der Schulter, und eine Mannsperson von kleinem Wuchs, in schwarzem Anzug und mit langem Haar waren soeben aus dem Tor herausgekommen, stürzten aber, sowie sie die herbeifahrende Kalesche erblickten, Hals über Kopf wieder hinein. Zwei zum Gut gehörige Frauen kamen auf den Hof herausgelaufen, um die beiden zurückzurufen, und alle vier rannten nun, sich häufig nach der Kalesche umblickend, erschrocken in die Hintertür hinein.

»Das sind Marjas Gottesleute«, sagte Fürst Andrei. »Sie haben uns für meinen Vater gehalten. Das ist das einzige, worin Marja unserm Vater nicht gehorcht: er befiehlt, diese vagabundierenden Wallfahrer wegzujagen; aber sie nimmt sie auf.«

»Was sind denn das: Gottesleute?« fragte Pierre.

Fürst Andrei fand keine Zeit mehr, ihm zu antworten. Die Dienerschaft kam heraus, um die Ankommenden zu empfangen, und er erkundigte sich, wo der alte Fürst wäre und ob er bald erwartet würde.

Der alte Fürst war noch in der Stadt und wurde jeden Augenblick zurückerwartet.[182]

Fürst Andrei führte Pierre in seine eigenen Zimmer, die im Haus seines Vaters stets in voller Ordnung bereit waren, ihn zu empfangen, und begab sich selbst nach der Kinderstube.

»Wir wollen zu meiner Schwester gehen«, sagte Fürst Andrei, als er zu Pierre zurückkam. »Ich habe sie noch nicht gesehen; sie versteckt sich jetzt und sitzt in ihrem Zimmer mit ihren Gottesleuten. Sie wird verlegen werden; aber das ist ihre verdiente Strafe. Und du bekommst dabei die Gottesleute zu sehen. Die Sache ist wirklich interessant, mein Wort darauf.«

»Was sind denn das: Gottesleute?« erkundigte sich Pierre noch einmal.

»Du wirst ja sehen.«

Prinzessin Marja wurde, als sie bei ihr eintraten, wirklich verlegen, und ihr Gesicht bedeckte sich mit roten Flecken. In ihrem behaglichen Zimmer, mit den Lämpchen vor den Heiligenschreinen, saß neben ihr auf dem Sofa hinter dem Samowar ein junger Mensch mit langer Nase und langem Haar, in einer Mönchskutte.

Auf einem Lehnstuhl daneben saß eine runzlige, hagere Alte mit einem sanften Ausdruck in dem kindlichen Gesicht.

»Andrei, warum hast du mich von deinem Kommen nicht vorher benachrichtigt?« sagte die Prinzessin Marja mit sanftem Vorwurf und stellte sich vor ihre Wallfahrer wie eine Glucke vor ihre Küchlein.

»Es ist mir ein großes Vergnügen, Sie zu sehen; ich freue mich sehr«, sagte sie zu Pierre, während er ihr die Hand küßte. Sie hatte ihn schon gekannt, als er noch ein Kind war, und jetzt gewannen ihm seine Freundschaft mit Andrei, sein Unglück mit seiner Frau und vor allem sein gutes, harmloses Gesicht ihr Wohlwollen. Sie blickte ihn mit ihren schönen, leuchtenden Augen an und schien zu sagen: »Ich habe Sie sehr gern; aber bitte, lachen[183] Sie nicht über meine Leutchen hier.« Nachdem sie die ersten Begrüßungsworte gewechselt hatten, setzten sie sich.

»Ah, der liebe, kleine Iwan ist ja auch hier«, sagte Fürst Andrei und deutete lächelnd auf den jungen Wallfahrer.

»Andrei!« rief Prinzessin Marja in flehendem Ton.

»Sie müssen wissen, daß das eine Frau ist«, sagte Andrei zu Pierre auf französisch, wie denn überhaupt die drei untereinander französisch sprachen.

»Andrei, ich bitte dich inständig!« wiederholte Prinzessin Marja.

Es war leicht zu merken, daß sowohl die spöttischen Bemerkungen des Fürsten Andrei über die Wallfahrer als auch die vergeblichen Versuche der Prinzessin Marja, sie in Schutz zu nehmen, eine hergebrachte, feststehende Form des Verkehrs zwischen den beiden waren.

»Aber, liebe Schwester«, sagte Fürst Andrei, »du solltest mir doch im Gegenteil dafür dankbar sein, daß ich meinem Freund Pierre eine Erklärung für deine Intimität mit diesem jungen Mann gebe.«

»Ist es denn wahr?« fragte Pierre interessiert und blickte ernst (wofür ihm Prinzessin Marja besonders dankbar war) durch seine Brille diesem Iwan ins Gesicht, der, als er merkte, daß von ihm die Rede war, seine schlauen Augen von einem zum andern gehen ließ.

Prinzessin Marja war ganz unnötigerweise für »ihre Leutchen« verlegen geworden. Diese selbst zeigten sich ganz und gar nicht ängstlich. Die Alte saß, ohne sich zu rühren, auf ihrem Lehnstuhl; sie hielt die Augen niedergeschlagen, warf aber mitunter schräge Blicke nach den Eingetretenen; ihre Tasse hatte sie, mit dem Boden nach oben, auf die Untertasse gestülpt, das Stückchen Zucker, von dem sie vorher beim Trinken abgebissen hatte, danebengelegt[184] und wartete nun ruhig darauf, daß ihr noch mehr Tee angeboten werde. Iwan trank seinen Tee aus der Untertasse und blickte dabei von unten her mit seinen schlauen, weiberhaften Augen zu den jungen Männern hin.

»Nun, wo bist du denn gewesen? In Kiew?« fragte Fürst Andrei die Alte.

»Jawohl, Väterchen«, antwortete diese redselig. »Gerade zu Weihnachten wurde ich gewürdigt, bei den lieben Heiligen das heilige, himmlische Sakrament zu empfangen. Aber jetzt komme ich aus Kaljasin, Väterchen; da ist großes Heil erschienen ...«

»Ging denn der liebe Iwan mit dir zusammen?«

»Ich wandere für mich allein, Wohltäter«, sagte Iwan, der sich Mühe gab, mit tiefer Stimme zu sprechen. »Erst in Juchnow bin ich mit Pelagia zusammengetroffen.«

Pelagia unterbrach ihren Gefährten; sie hatte offenbar die größte Lust zu erzählen, was sie da mitangesehen hatte.

»In Kaljasin, Väterchen, ist großes Heil erschienen.«

»Wieso? Sind neue Reliquien gefunden?« fragte Fürst Andrei.

»Hör doch auf, Andrei!« bat Prinzessin Marja. »Erzähle nicht, Pelagia.«

»Nicht? ... Aber Mütterchen, warum soll ich denn nicht erzählen? Ich habe ihn sehr gern. Er ist ein guter Mensch, ein Auserwählter Gottes; ich weiß noch recht gut, wie er, mein Wohltäter, mir einmal zehn Rubel geschenkt hat ... Also, als ich in Kiew war, da sagte zu mir ein Verzückter, Kirill ... er ist blöden Geistes, aber sehr fromm, ein wahrer Mann Gottes, Sommer und Winter geht er barfuß ... also der sagte zu mir: ›Warum wallfahrst du nicht in deiner eigenen Gegend?‹ sagte er. ›Geh nach Kaljasin; da wurde ein wundertätiges Bild der hochheiligen Mutter Gottes gefunden.‹ Als ich das hörte, nahm ich von den lieben Heiligen Abschied und machte mich auf den Weg.«[185]

Alle schwiegen. Nur die Wallfahrerin sprach, in gemessenem Tonfall, wobei sie die Luft in sich hineinzog.

»Ich kam also hin, Väterchen, und da sagten mir die Leute: ›Großes Heil ist erschienen; der hochheiligen Mutter Gottes tröpfelt heiliges Salböl aus dem Bäckchen ...‹«

»Nun gut, gut; du kannst ja nachher weitererzählen«, unterbrach Prinzessin Marja errötend die Erzählerin.

»Gestatten Sie eine Frage an die Frau«, sagte Pierre. »Hast du das selbst gesehen?« fragte er.

»Gewiß, Väterchen; ich bin selbst gewürdigt worden, es zu sehen. Auf dem Gesicht der Mutter Gottes war ordentlich so ein Glanz, wie der helle Himmel, und aus dem Bäckchen der Mutter Gottes, da träufelte es nur so, immerzu träufelte es ...«

»Aber das ist ja Betrug!« rief Pierre, der der Wallfahrerin aufmerksam zugehört hatte, in seiner Naivität unwillkürlich.

»Ach, Väterchen, was redest du da!« rief Pelagia ganz entsetzt und wandte sich wie um Schutz suchend zu der Prinzessin Marja.

»So wird das Volk betrogen!« sagte Pierre noch einmal.

»Herr Jesus Christus!« rief die Wallfahrerin und bekreuzte sich. »Ach, sage doch so etwas nicht, Väterchen! Da war ein General, der glaubte auch nicht und sagte: ›Die Mönche betrügen das Volk.‹ Und wie er das gesagt hatte, da wurde er sogleich blind. Und da träumte ihm, daß die Mutter Gottes vom Höhlenkloster zu ihm kam und zu ihm sagte: ›Glaube an mich, dann will ich dich heilen.‹ Und da fing er an zu bitten: ›Führt mich zu ihr, führt mich zu ihr!‹ Ich sage dir die reine Wahrheit; ich habe es selbst gesehen. Da brachten sie den Blinden geradewegs zu ihr, und er trat heran und fiel vor ihr nieder und sagte: ›Heile mich! Ich will dir auch alles geben‹, sagte er, ›was mir der Zar verliehen hat.‹ Ich habe es selbst gesehen, Väterchen: ein Ordensstern war an ihr befestigt. Und wirklich, er wurde wieder sehend. Es ist eine[186] Sünde, so zu sprechen. Dafür schickt Gott seine Strafe«, sagte sie in ermahnendem Ton zu Pierre.

»Was soll denn aber der Ordensstern an dem Muttergottesbild?« fragte Pierre.

»Die Mutter Gottes wird eben zum General befördert sein«, sagte Fürst Andrei lächelnd.

Pelagia wurde auf einmal ganz blaß und schlug die Hände zusammen.

»Väterchen, Väterchen, was begehst du da für eine Sünde! Denke daran, daß du einen Sohn hast!« rief sie, und ihr soeben noch blasses Gesicht überzog sich plötzlich mit dunkler Röte. »Väterchen, Gott möge dir verzeihen, was du da gesagt hast!« Sie bekreuzte sich. »Lieber Herrgott, verzeihe ihm! Mütterchen, was gehen hier für Dinge vor!« wandte sie sich an die Prinzessin Marja. Sie stand auf und machte sich, beinahe weinend, daran, ihr Bündel zurechtzumachen. Man konnte ihr anmerken, daß es ihr einerseits ängstlich und wider das Gewissen war, Wohltaten in einem Haus zu genießen, wo solche Reden geführt wurden, und es ihr andererseits leid tat, jetzt auf die Wohltaten dieses Hauses verzichten zu müssen.

»Aber wie kann euch beiden das nur Vergnügen machen!« sagte Prinzessin Marja. »Warum seid ihr denn zu mir gekommen?«

»Nein, nein, ich mache ja nur Spaß, liebe Pelagia«, sagte Pierre. »Prinzessin, mein Wort darauf, ich hatte die Frau nicht kränken wollen; ich habe es nur so hingeredet. Nimm es dir nicht zu Herzen, ich habe nur gescherzt«, wandte er sich, in dem Wunsch, seine Schuld wiedergutzumachen, mit schüchternem Lächeln an Pelagia. »Ich habe es nicht böse gemeint, und er hat es auch nur so hingeredet, er hat nur gescherzt.«

Pelagia blieb mißtrauisch stehen; aber auf Pierres Gesicht[187] prägte sich eine so aufrichtige Reue aus, und Fürst Andrei blickte so milde und freundlich bald die Wallfahrerin, bald Pierre an, daß sie sich allmählich beruhigte.

Quelle:
Tolstoj, Lev Nikolaevic: Krieg und Frieden. 4 Bde., Leipzig 1922, Band 2, S. 182-188.
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