XIV

[188] Die Wallfahrerin hatte sich beruhigt, ließ sich wieder zum Reden bringen und erzählte nun lange von dem Vater Amfilochi, der einen so heiligen Lebenswandel geführt hatte, daß seine Hände nach Weihrauch rochen, und weiter erzählte sie, wie bei ihrer letzten Wallfahrt nach Kiew Mönche, mit denen sie bekannt war, ihr die Schlüssel zu den Höhlen gegeben hatten, und wie sie, mit Zwiebacken versehen, zweimal vierundzwanzig Stunden hintereinander in den Höhlen bei den Heiligen zugebracht hatte. »Ich bete bei dem einen und erweise ihm meine Verehrung, und dann gehe ich zu einem andern. Ich schlafe ein bißchen, und dann gehe ich wieder und verrichte meine Andacht. Und eine solche Stille, Mütterchen, ist da, eine Seligkeit, daß man gar nicht wieder an das Tageslicht zurückkehren möchte.«

Pierre hörte ihr aufmerksam und ernsthaft zu. Fürst Andrei verließ das Zimmer. Bald nach ihm ging auch Prinzessin Marja mit Pierre hinaus, den sie in den Salon führte; die Gottesleute ließ sie allein ihren Tee austrinken.

»Sie sind ein sehr guter Mensch«, sagte sie zu ihm.

»Ach, ich hatte die Frau wirklich nicht kränken wollen; ich verstehe diese Empfindungen recht wohl und weiß sie zu schätzen.«

Prinzessin Marja blickte ihn schweigend an und lächelte freundlich.

»Ich kenne Sie ja schon lange und habe Sie lieb wie einen Bruder«, sagte sie dann. »Wie finden Sie Andrei?« fragte sie eilig, ohne ihm Zeit zu lassen, etwas auf ihre freundlichen Worte[188] zu erwidern. »Sein Zustand beunruhigt mich sehr. Es war im Winter mit seiner Gesundheit besser; aber im Frühjahr brach die Wunde wieder auf, und der Arzt meinte, er solle wegreisen und eine Kur gebrauchen. Auch in seelischer Hinsicht habe ich um ihn große Sorge. Er hat nicht einen solchen Charakter wie wir Frauen, daß er sich seinen Kummer durch Klagen erleichtern und ihn ausweinen könnte. Er trägt ihn in seinem Innern eingeschlossen mit sich herum. Heute ist er ja heiter und lebhaft; aber das ist nur die Wirkung Ihrer Ankunft; er ist sonst nur selten so. Wenn Sie ihn doch überreden könnten, ins Ausland zu reisen! Er braucht eine Tätigkeit; dieses gleichmäßige, ruhige Leben richtet ihn zugrunde. Die andern bemerken das nicht; aber ich sehe es.«

Nach neun Uhr abends stürzten die Diener vor das Portal, da sie das Schellengeklingel der herankommenden Equipage des alten Fürsten hörten. Fürst Andrei und Pierre traten ebenfalls hinaus.

»Wer ist das?« fragte der alte Fürst, als er aus dem Wagen stieg und Pierre erblickte.

»Ah, freut mich sehr! Küsse mich!« sagte er, als er erfahren hatte, wer der unbekannte junge Mann war.

Der alte Fürst war guter Laune und behandelte Pierre sehr freundlich.

Vor dem Abendessen kam Fürst Andrei in das Zimmer seines Vaters und fand dort den alten Fürsten in einem hitzigen Disput mit Pierre begriffen. Pierre suchte zu beweisen, daß einmal eine Zeit kommen werde, wo es keine Kriege mehr geben würde. Der alte Fürst bestritt dies, indem er seinen Gegner neckte und foppte, aber ohne sich dabei zu ärgern.

»Laß den Menschen das Blut aus den Adern laufen, und gieße ihnen Wasser hinein; dann wird es keine Kriege mehr geben. Das[189] sind Weiberphantasien, Weiberphantasien«, sagte er; aber er klopfte dabei Pierre freundlich auf die Schulter. Darauf ging er an den Tisch, an welchem Fürst Andrei, der sich offenbar an diesem Gespräch nicht zu beteiligen wünschte, in den Papieren blätterte, die der alte Fürst aus der Stadt mitgebracht hatte. Der alte Fürst trat zu ihm und begann mit ihm von Dienstsachen zu sprechen.

»Der Adelsmarschall Graf Rostow hatte nur die Hälfte der Mannschaften zusammengebracht, die er hatte zusammenbringen sollen. Kam der Mann in die Stadt und ließ sich beikommen, mich zum Diner einzuladen – na, ich habe ihm ein nettes Diner angerichtet ...! Da! Sieh einmal dieses Papier durch ...! Na, mein Sohn«, fuhr er fort, »dein Freund ist ein braver, junger Mann« (er klopfte Pierre auf die Schulter), »ich habe ihn liebgewonnen! Er macht mich warm. Ein anderer redet vernünftig, und doch mag man ihm nicht zuhören; aber dieser hier schwatzt dummes Zeug und macht mich alten Mann warm. Na, nun geht nur, geht«, sagte er. »Vielleicht komme ich noch zum Abendessen und sitze ein Weilchen bei euch. Dann wollen wir weiter disputieren. Freunde dich nur auch mit meiner närrischen Tochter, Prinzessin Marja, an«, rief er dem fortgehenden Pierre noch aus der Tür nach.

Pierre lernte erst jetzt, bei diesem Besuch in Lysyje-Gory, die ganze Bedeutung und Annehmlichkeit seiner Freundschaft mit dem Fürsten Andrei schätzen. Diese Annehmlichkeit kam ihm nicht sowohl in seinem Verhältnis zum Fürsten Andrei selbst, als vielmehr in seinen Beziehungen zu allen Familienmitgliedern und Hausgenossen zur Empfindung. Pierre fühlte sich dem alten, mürrischen Fürsten und der sanften, schüchternen Prinzessin Marja gegenüber, obgleich er beide fast gar nicht kannte, gleich von vornherein wie ein alter Freund. Und auch sie[190] hatten ihn alle bereits liebgewonnen. Nicht nur blickte Prinzessin Marja, deren Herz er durch sein freundliches Benehmen gegen die Wallfahrer gewonnen hatte, ihn mit ganz besonders helleuchtenden Augen an, sondern auch der kleine einjährige Fürst Nikolai, wie ihn der Großvater nannte, lächelte Pierre an und ließ sich von ihm auf den Arm nehmen. Michail Iwanowitsch und Mademoiselle Bourienne sahen ihn mit frohem Lächeln an, wenn er mit dem alten Fürsten ein Gespräch führte.

Der alte Fürst kam zum Abendessen, augenscheinlich um Pierres willen. Er behandelte ihn während der beiden Tage seines Aufenthalts in Lysyje-Gory mit außerordentlicher Freundlichkeit und lud ihn ein, ihn häufiger zu besuchen.

Als Pierre abgefahren war und alle Familienmitglieder zusammenkamen, tauschten sie, wie das immer nach der Abreise eines neuen Bekannten geschieht, ihre Urteile über ihn aus, und, was nur selten vorkommt, alle redeten von ihm nur Gutes.

Quelle:
Tolstoj, Lev Nikolaevic: Krieg und Frieden. 4 Bde., Leipzig 1922, Band 2, S. 188-191.
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