[197] Im April versetzte die Nachricht von der Ankunft des Kaisers bei der Armee die Truppen in freudige Erregung. Rostow hatte nicht das Glück, an der Truppenschau teilnehmen zu können, die[197] der Kaiser in Bartenstein abhielt: die Pawlograder befanden sich auf Vorposten, weit vor Bartenstein.
Sie lagen dort im Biwak. Denisow und Rostow wohnten in einer Erdhütte, die die Soldaten für sie ausgegraben und mit Reisig und Rasen gedeckt hatten. Die Erdhütte war in folgender Weise, die damals in Aufnahme gekommen war, konstruiert: es wurde ein Graben ausgehoben, etwa ein Meter breit, anderthalb Meter tief und zweieinhalb Meter lang. An dem einen Ende des Grabens wurden Stufen angelegt, und dies war der Zugang; der Graben selbst bildete das Zimmer; in diesem befand sich bei besonderen Günstlingen des Glücks, wie es der Eskadronchef war, an dem fernsten, den Stufen gegenüberliegenden Ende ein auf Pfählen ruhendes Brett, das den Tisch vorstellte. Auf den beiden Langseiten des Grabens war die Erde in einer Breite von zwei Dritteln Meter abgestochen, so daß zwei Betten oder Sofas entstanden. Das Dach war so konstruiert, daß man in der Mitte stehen konnte, und auf den Betten konnte man sogar sitzen, wenn man nahe an den Tisch heranrückte. Bei Denisow, der eine luxuriöse Wohnung hatte, da ihn die Soldaten seiner Eskadron gut leiden konnten, war an der Giebelseite des Daches noch ein Brett angebracht, und in dieses Brett war eine zerbrochene, aber wieder zusammengeklebte Fensterscheibe eingesetzt. Wenn es sehr kalt war, wurde auf die Stufen (in das Wartezimmer, wie Denisow diesen Teil der Hütte nannte) Glut von den Feuern der Soldaten auf einem gebogenen Eisenblech gestellt, und es wurde davon so warm, daß die Offiziere, von denen immer eine ganze Menge bei Denisow und Rostow zu Besuch war, in Hemdsärmeln zu sitzen pflegten.
Im April hatte Rostow eines Tages Dejour gehabt. Gegen acht Uhr morgens kehrte er nach einer schlaflosen Nacht nach Hause zurück, ließ Glut bringen, wechselte die vom Regen durchnäßte[198] Wäsche, sprach sein Gebet, trank Tee, wärmte sich an den Kohlen, legte seine Sachen in seinem Winkelchen und auf dem Tisch in Ordnung, streckte sich in Hemdsärmeln auf dem Rücken aus und schob die Hände unter den Kopf. Die Gesichtshaut brannte ihm von dem Wind, dem er die Nacht über ausgesetzt gewesen war; aber er überließ sich angenehmen Gedanken über die Beförderung, die ihm nächster Tage als Lohn für seinen letzten Rekognoszierungsritt zuteil werden müsse, und wartete auf Denisow, der irgendwohin gegangen war. Rostow wollte gern mit ihm sprechen.
Hinter der Hütte wurde die laut kreischende Stimme Denisows hörbar, der offenbar sehr erregt war. Rostow rückte an das Fenster heran, um zu sehen, mit wem Denisow denn so zusammengeraten sei, und erblickte den Wachtmeister Toptschejenko.
»Ich habe dir doch befohlen, du sollst sie diese Wurzel, diese Marienwurzel, nicht fressen lassen!« schrie Denisow. »Aber ich habe mit eigenen Augen gesehen, wie Lasartschuk welche vom Feld hergebracht hat.«
»Ich habe es verboten, Euer Hochwohlgeboren«, antwortete der Wachtmeister. »Aber sie hören ja nicht.«
Rostow legte sich wieder auf sein Bett und dachte mit innigem Vergnügen: »Mag er sich jetzt abmühen und abplacken; ich habe meine Arbeit hinter mir und kann hier ruhig liegen. Famos!« Durch die Wand hindurch hörte er, daß außer dem Wachtmeister auch noch Lawrenti sprach, jener gewandte, schlaue Bursche Denisows. Lawrenti erzählte etwas von Fuhren, Zwieback und Ochsen, die er gesehen habe, als er weggeritten sei, um Lebensmittel zu beschaffen.
Hinter der Hütte erscholl wieder die sich entfernende, laut schreiende Stimme Denisows; es waren die Worte vernehmbar: »Satteln! Der zweite Beritt!«[199]
»Wohin mögen die reiten?« dachte Rostow.
Fünf Minuten darauf kam Denisow in die Hütte herein, legte sich mit seinen schmutzigen Füßen auf das Bett, rauchte ärgerlich an seiner Pfeife, warf alle seine Sachen unordentlich durcheinander, hing sich die Kosakenpeitsche über die Schulter, band den Säbel um den Leib und schickte sich an, die Hütte zu verlassen. Auf Rostows Frage, wohin er denn wolle, antwortete er zornig und unbestimmt, er habe etwas zu tun.
»Mögen Gott und der Kaiser meine Richter sein!« sagte Denisow beim Hinausgehen, und Rostow hörte, wie hinter der Hütte die Füße mehrerer Pferde durch den Schmutz patschten. Es lag ihm nichts daran, zu erfahren, wohin Denisow ritt. Nachdem er in seiner Ecke warm geworden war, schlief er ein und trat erst gegen Abend aus der Hütte heraus. Denisow war noch nicht zurückgekehrt. Es war ein schöner, klarer Abend geworden. Bei der benachbarten Erdhütte spielten zwei Offiziere und ein Junker Ring und Nagel; unter Gelächter »pflanzten sie Rettiche« in die weiche, schmutzige Erde. Rostow gesellte sich zu ihnen. Mitten im Spiel erblickten die Offiziere einige Fuhrwerke, die sich ihnen näherten; etwa fünfzehn Husaren auf mageren Pferden ritten hinterher. Die von den Husaren eskortierten Fuhrwerke nahmen ihren Weg zu den Pferdebeständen hin, wo sie sogleich von einem großen Schwarm Husaren umringt wurden.
»Na, nun hat Denisow immer den Kopf hängenlassen, und nun ist doch noch Proviant gekommen«, sagte Rostow.
»Wahrhaftig!« riefen die Offiziere. »Na, das ist mal eine Freude für die Soldaten!«
Ein wenig hinter den Soldaten ritt Denisow, begleitet von zwei Infanterieoffizieren zu Pferd, mit denen er ein erregtes Gespräch führte.
Rostow ging ihm entgegen.[200]
»Ich warne Sie, Major«, sagte einer der Infanterieoffiziere, ein kleiner, magerer Mann, der offenbar sehr ergrimmt war.
»Ich habe Ihnen schon mehrmals gesagt, daß ich es nicht wieder herausgebe«, antwortete Denisow.
»Sie werden sich deswegen zu verantworten haben, Major; das ist ja Gewalt – den eigenen Truppen die Transporte wegzunehmen! Unsere Leute haben seit zwei Tagen nichts zu essen gehabt.«
»Meine seit zwei Wochen nicht«, erwiderte Denisow.
»Das ist Raub; Sie werden dafür zur Verantwortung gezogen werden, mein Herr!« sagte der Infanterieoffizier noch einmal mit erhobener Stimme.
»Warum hängen Sie sich an mich wie die Kletten? He?« schrie Denisow, der plötzlich heftig wurde, den Offizieren zu. »Die Verantwortung trage ich, und nicht Sie; und nun schwadronieren Sie mir hier nicht die Ohren voll, oder es passiert Ihnen etwas. Machen Sie, daß Sie wegkommen!«
»Schön, schön!« rief der kleine Offizier, ohne sich einschüchtern zu lassen und ohne wegzureiten. »Straßenraub begehen, ich will Ihnen zeigen, was das zu bedeuten hat ...«
»Zum Teufel, weg mit Ihnen, aber schleunigst! Oder es passiert was!« Denisow wendete sein Pferd zum Offizier hin.
»Schön, schön!« sagte der Offizier in drohendem Ton, wandte sein Pferd und ritt im Trab davon, wobei er auf dem Sattel hin und her gerüttelt wurde.
»Ein Hund auf einem Zaun, ein lebendiger Hund auf einem Zaun!« rief ihm Denisow nach, die stärkste Spötterei eines Kavalleristen über einen reitenden Infanteristen. Dann ritt er zu Rostow heran und lachte auf.
»Ich habe es der Infanterie weggenommen; ich habe ihnen mit[201] Gewalt einen Transport weggenommen!« sagte er. »Na, sollten etwa unsere Leute Hungers sterben?«
Die Fuhrwerke, die zu den Husaren gekommen waren, waren für ein Infanterieregiment bestimmt gewesen; aber Denisow, der von Lawrenti erfahren hatte, daß keine Bedeckungsmannschaft bei diesem Transport war, hatte ihn mit seinen Husaren gewaltsam weggenommen. Nun wurde Zwieback in Menge an die Soldaten verteilt und sogar den anderen Eskadronen davon abgegeben.
Am andern Tag ließ der Regimentskommandeur Denisow zu sich kommen und sagte zu ihm, indem er sich die Hand mit ausgespreizten Fingern vor die Augen hielt: »Ich will die Sache so ansehen; ich weiß von nichts und werde keine Untersuchung anstellen; aber ich rate Ihnen, nach dem Hauptquartier zu reiten und die Geschichte dort beim Proviantamt in Ordnung zu bringen und womöglich zu quittieren, daß Sie soundsoviel Proviant empfangen haben; sonst wird die Forderung dem Infanterieregiment angeschrieben, es wird eine Untersuchung angestellt, und die Sache kann einen üblen Ausgang nehmen.«
Denisow ritt vom Regimentskommandeur geradewegs nach dem Hauptquartier, mit der aufrichtigen Absicht, diesen Rat zu befolgen. Aber am Abend kehrte er zu seiner Erdhütte in einem Zustand zurück, wie ihn Rostow bei seinem Freund noch nie gesehen hatte. Denisow konnte nicht sprechen und kaum Luft bekommen. Als Rostow ihn fragte, was ihm fehle, stieß er nur mit heiserer, schwacher Stimme unverständliche Schimpfworte und Drohungen aus. Erschrocken über Denisows Zustand, riet ihm Rostow, sich auszukleiden und Wasser zu trinken, und schickte nach dem Arzt.
»Mich wegen Raubes vor Gericht stellen – oh! Gib mir noch mehr Wasser! Meinetwegen können sie mich verurteilen; aber[202] Schurken werde ich immer prügeln, ja, das werde ich ... Und dem Kaiser werde ich es sagen. Gebt mir Eis«, fügte er hinzu.
Der Regimentsarzt kam und erklärte einen Aderlaß für notwendig. Eine Menge schwarzen Blutes, ein tiefer Teller voll, kam aus Denisows haarigem Arm heraus; dann erst war er imstande zu erzählen, was ihm begegnet war.
»Ich komme also hin«, erzählte Denisow. »›Wo ist hier euer Chef?‹ frage ich. Man wies mich zurecht. Ob ich nicht die Güte haben wollte, ein wenig zu warten. ›Ich habe meinen Dienst‹, sage ich. ›Ich bin dreißig Werst hergeritten und habe keine Zeit zu warten; melde mich an.‹ Na schön; da kommt nun dieser Oberspitzbube herein und erlaubt sich ebenfalls, mich zu belehren: ›Das ist Raub!‹ – ›Raub‹, sage ich ihm, ›begeht nicht, wer Proviant nimmt, um seine Soldaten zu ernähren, sondern wer ihn nimmt, um seine eigene Tasche zu füllen.‹ Ob ich nicht gefälligst schweigen wollte. ›Schön‹, sage ich. ›Quittieren Sie‹, sagt er, ›bei dem Intendanten; Ihre Angelegenheit wird vorschriftsmäßig an die höhere Stelle weitergegeben werden.‹ Ich gehe zum Intendanten. Ich trete ein ... am Tisch sitzt ... Nein, wer? Nun denke mal! Wer ist der Kerl, der uns Hungers sterben läßt?« schrie Denisow und schlug mit der Faust des kranken Armes so heftig auf den Tisch, daß dieser beinahe zusammenbrach und die daraufstehenden Gläser hüpften. »Teljanin!! ›Was?‹ schreie ich. ›Du läßt uns verhungern?!‹ Und damit gab ich ihm eins in die Fresse, und noch eins; es war mir gerade so handgerecht. ›So ein Schuft ... so ein Halunke!‹ schrie ich und prügelte auf ihn los. Es war mir eine ordentliche Herzenserleichterung, kann ich sagen«, rief Denisow und fletschte vergnügt und grimmig unter dem schwarzen Schnurrbart seine weißen Zähne. »Ich hätte ihn totgeschlagen, wenn sie ihn mir nicht aus den Händen gerissen hätten.«[203]
»Aber warum schreist du denn so? Beruhige dich doch!« sagte Rostow. »Dein Arm fängt ja wieder an zu bluten. Warte, wir müssen einen neuen Verband machen.«
Denisow wurde noch einmal verbunden und auf das Bett gelegt; er schlief bald ein. Am andern Tag erwachte er in ruhiger, heiterer Stimmung.
Aber am Mittag kam der Regimentsadjutant mit ernster, trüber Miene zu Denisows und Rostows gemeinsamer Erdhütte und überbrachte mit Bedauern ein dienstliches Schreiben vom Regimentskommandeur an den Major Denisow, worin diesem Fragen betreffs des Vorfalls vom vorhergehenden Tag vorgelegt wurden. Der Adjutant teilte mit, die Sache werde voraussichtlich eine recht schlimme Wendung nehmen; es sei eine kriegsgerichtliche Kommission ernannt worden, und bei der jetzt herrschenden Strenge gegen das Marodieren und gegen die Eigenmächtigkeit der einzelnen Truppenteile könne die Sache, im glücklichsten Fall, mit einer Degradation enden.
Von seiten der Beleidigten war der Hergang folgendermaßen dargestellt worden: nach der Wegnahme des Provianttransportes sei der Major Denisow, ohne irgendwie dazu aufgefordert zu sein, in betrunkenem Zustand beim Oberproviantmeister erschienen, habe ihn einen Dieb genannt und ihn mit Schlägen bedroht, und als man ihn dann hinausgebracht habe, sei er in das Bureau gestürzt, habe zwei Beamte mit Schlägen übel zugerichtet und dem einen von ihnen den Arm verrenkt.
Auf die erneuten Fragen Rostows erklärte Denisow lachend, es sei leicht möglich, daß ihm dort noch ein anderer unter die Hände gekommen sei; aber das alles sei Unsinn und dummes Zeug; es fiele ihm gar nicht ein, sich vor irgendeinem Gericht zu fürchten, und wenn diese Schurken sich erdreisten sollten, mit[204] ihm anzubinden, so werde er ihnen eine Antwort erteilen, an die sie lange denken würden.
Denisow sprach geringschätzig von dieser ganzen Angelegenheit; aber Rostow kannte ihn zu gut, als daß er nicht hätte bemerken sollen, daß Denisow im stillen, obwohl er es vor anderen zu verbergen suchte, vor dem Gericht bange war und sich ernste Gedanken über diese Sache machte, von der offenbar zu befürchten war, daß sie für ihn üble Folgen haben werde. Alle Tage kamen nun Dienstschreiben mit Anfragen und gerichtliche Vorladungen, und am ersten Mai wurde Denisow angewiesen, seine Eskadron dem rangältesten Offizier nach ihm zu übergeben und im Hauptquartier des Korps zu erscheinen, um sich wegen der Wegnahme des Provianttransportes und wegen der im Proviantamt verübten Gewalttätigkeiten zu verantworten. Am Tage vor diesem Termin unternahm Platow mit zwei Kosakenregimentern und zwei Husareneskadronen eine größere Rekognoszierung gegen den Feind. Denisow ritt, wie immer, mit seiner Tapferkeit paradierend, über die Vorpostenlinie hinaus; da traf ihn die Kugel eines französischen Tirailleurs in die Weichteile des einen Oberschenkels. Vielleicht hätte sich Denisow zu anderer Zeit um einer so leichten Wunde willen nicht vom Regiment entfernt; aber jetzt benutzte er diesen Unfall, meldete nach dem Hauptquartier, daß er zu dem gerichtlichen Termin nicht erscheinen könne, und begab sich ins Lazarett.
Buchempfehlung
Die ältesten Texte der indischen Literatur aus dem zweiten bis siebten vorchristlichen Jahrhundert erregten großes Aufsehen als sie 1879 von Paul Deussen ins Deutsche übersetzt erschienen.
158 Seiten, 7.80 Euro
Buchempfehlung
Biedermeier - das klingt in heutigen Ohren nach langweiligem Spießertum, nach geschmacklosen rosa Teetässchen in Wohnzimmern, die aussehen wie Puppenstuben und in denen es irgendwie nach »Omma« riecht. Zu Recht. Aber nicht nur. Biedermeier ist auch die Zeit einer zarten Literatur der Flucht ins Idyll, des Rückzuges ins private Glück und der Tugenden. Die Menschen im Europa nach Napoleon hatten die Nase voll von großen neuen Ideen, das aufstrebende Bürgertum forderte und entwickelte eine eigene Kunst und Kultur für sich, die unabhängig von feudaler Großmannssucht bestehen sollte. Dass das gelungen ist, zeigt Michael Holzingers Auswahl von neun Meistererzählungen aus der sogenannten Biedermeierzeit.
434 Seiten, 19.80 Euro