XVII

[205] Im Juni fand die Schlacht bei Friedland statt, an welcher die Pawlograder nicht teilnahmen, und gleich darauf wurde der Waffenstillstand verkündigt. Rostow, der die Abwesenheit seines Freundes schmerzlich empfand und seit dessen Weggang keine[205] Nachricht von ihm hatte und sich über den Gang seiner Gerichtssache und um seine Wunde beunruhigte, benutzte den Waffenstillstand und erbat sich Urlaub, um sich im Lazarett nach Denisow umzusehen.

Das Lazarett befand sich in einem kleinen preußischen Städtchen, das zweimal durch russische und französische Truppen verwüstet worden war. Gerade weil es Sommer und draußen auf dem Feld so schön war, bot dieses Städtchen mit den durchlöcherten Dächern, den zerbrochenen Zäunen, den schmutzigen Straßen, den zerlumpten Einwohnern und den betrunkenen und kranken Soldaten, die sich dort umhertrieben, ein besonders trauriges Schauspiel.

In einem steinernen Gebäude, an welchem die Fensterrahmen und Fensterscheiben zum Teil herausgeschlagen waren, war das Lazarett untergebracht. Auf dem Hof, der von Überresten eines zerbrochenen Zaunes umgeben war, gingen und saßen in der Sonne einige blaß und geschwollen aussehende Soldaten mit Verbänden.

Sowie Rostow in die Haustür trat, schlug ihm der Krankenhaus- und Verwesungsgeruch entgegen. Auf der Treppe begegnete er einem russischen Militärarzt mit der Zigarre im Mund. Hinter dem Arzt her kam ein russischer Heilgehilfe.

»Ich kann mich doch nicht zerreißen«, sagte der Arzt. »Komm heut abend zu Makar Alexejewitsch; ich werde dasein.«

Der Heilgehilfe fragte ihn nach etwas.

»Ach, mach das, wie du willst! Es ist ja ganz gleich!« Der Arzt erblickte Rostow, der die Treppe heraufkam. »Was wollen Sie hier, Euer Wohlgeboren?« sagte er. »Was wollen Sie hier? Sie wollen sich wohl, da Sie keine Kugel getroffen hat, hier den Typhus holen? Das ist hier ein Haus der Ansteckung, bester Herr!«[206]

»Wieso?« fragte Rostow.

»Typhus, bester Herr! Wer hereinkommt, stirbt. Nur wir beide, ich und Makjejew« (er zeigte auf den Heilgehilfen), »rackern uns hier noch ab. Von uns Ärzten sind hier schon fünfe weggestorben. Wenn ein neuer hier antritt, so ist er in einer Woche fertig«, sagte der Arzt mit sichtlichem Vergnügen. »Wir haben um preußische Ärzte gebeten; aber unsere Verbündeten haben keine Neigung herzukommen.«

Rostow erklärte ihm, er wünsche einen Husarenmajor Denisow, der hier liege, zu besuchen.

»Weiß nichts von ihm; kenne ich nicht, bester Herr. Bedenken Sie nur: ich allein habe drei Lazarette mit mehr als vierhundert Kranken! Ein Glück noch, daß wohltätige preußische Damen uns Kaffee und Scharpie schicken, zwei Pfund monatlich; sonst wären wir ganz verloren.« Er lachte. »Vierhundert, bester Herr, und dabei schicken sie mir immer noch neue her. Es sind ja doch wohl vierhundert, nicht wahr?« wandte er sich an den Heilgehilfen. Der Heilgehilfe sah erschöpft aus. Offenbar wartete er mit Ungeduld, ob der redselige Doktor nicht bald weggehen werde.

»Ein Major Denisow«, sagte Rostow noch einmal. »Er ist bei Molitten verwundet worden.«

»Der wird wohl gestorben sein. Nicht wahr, Makjejew?« fragte der Arzt in gleichgültigem Ton den Heilgehilfen.

Der Heilgehilfe jedoch gab keine bejahende Antwort.

»War das so ein langer, mit rötlichem Haar?« fragte der Arzt.

Rostow beschrieb Denisows Äußeres.

»Ja, ja, so einer ist hiergewesen!« rief der Arzt erfreut. »Der ist wahrscheinlich gestorben; übrigens kann ich es ja genauer feststellen lassen; es ist eine Liste bei uns vorhanden. Hast du die Liste, Makjejew?«[207]

»Die Liste ist bei Makar Alexejewitsch«, antwortete der Heilgehilfe. »Aber kommen Sie doch in die Offiziersstuben herein; da können Sie ja selbst sehen, ob der Herr da ist«, fügte er, sich zu Rostow wendend, hinzu.

»Ach, gehen Sie lieber nicht hinein, bester Herr«, sagte der Arzt, »sonst müssen Sie am Ende noch selbst hierbleiben.«

Aber Rostow machte dem Arzt eine Abschiedsverbeugung und bat den Heilgehilfen, ihn zu führen.

»Aber machen Sie mir nachher keine Vorwürfe!« rief ihm der Arzt noch vom Fuß der Treppe aus nach.

Rostow betrat mit dem Heilgehilfen einen Korridor. Der Lazarettgeruch war auf diesem dunklen Korridor so stark, daß Rostow nach seiner Nase griff und einen Augenblick stehenbleiben mußte, um zum Weitergehen Kraft zu sammeln. Auf der rechten Seite öffnete sich eine Tür, und es schob sich ein auf Krücken gehender, hagerer Mann mit gelblicher Hautfarbe heraus; er war barfuß und nur mit Unterzeug bekleidet. Sich an den Türpfosten lehnend, blickte er mit neidisch funkelnden Augen die Vorübergehenden an. Bei einem Blick durch die Tür sah Rostow, daß die Kranken und Verwundeten dort auf dem Fußboden lagen, auf Stroh und Mänteln.

»Darf ich hineingehen und es mir ansehen?« fragte Rostow.

»Was ist daran zu sehen?« erwiderte der Heilgehilfe.

Aber gerade weil der Heilgehilfe ihn augenscheinlich nicht gern hineinließ, trat Rostow in dieses Soldatenzimmer ein. Der Geruch, an den er sich auf dem Korridor schon einigermaßen gewöhnt gehabt hatte, war hier noch stärker. Er nahm sich hier etwas anders aus: er war schärfer, und es war zu merken, daß er gerade von hier ausging.

In einem langen Zimmer, in das die Sonne durch große Fenster grell hereinschien, lagen die Kranken und Verwundeten[208] in zwei Reihen, mit den Köpfen nach den Wänden zu, so daß in der Mitte ein Durchgang frei blieb. Ein großer Teil von ihnen schlief oder lag in stumpfer Teilnahmslosigkeit da und beachtete die Eintretenden nicht. Diejenigen, die bei klarem Bewußtsein waren, richteten sich sämtlich auf oder hoben wenigstens ihre mageren, gelblichen Gesichter in die Höhe, und alle blickten mit dem gleichen Gesichtsausdruck, in welchem sich die Hoffnung auf Hilfe mit vorwurfsvollem Neid auf fremde Gesundheit paarte, nach Rostow hin. Rostow ging bis in die Mitte des Zimmers, blickte durch die offenstehenden Türen in die beiden danebenliegenden Zimmer hinein und sah auf beiden Seiten dasselbe Bild. Er blieb stehen und schaute schweigend um sich herum. So etwas zu sehen, darauf war er nicht gefaßt gewesen. Dicht vor ihm lag, fast quer über dem Durchgang in der Mitte, auf dem bloßen Fußboden ein Kranker, wahrscheinlich ein Kosak, da sein Kopf den eigenartigen runden Haarschnitt aufwies. Dieser Kosak lag auf dem Rücken, die großen Arme und Beine weit auseinandergespreizt. Sein Gesicht war blaurot, die Augen vollständig verdreht, so daß nur das Weiße sichtbar war, und an seinen nackten Füßen und den noch rot aussehenden Händen traten die geschwollenen Adern wie Stricke hervor. Er schlug fortwährend mit dem Hinterkopf auf den Fußboden und murmelte etwas mit heiserer Stimme, indem er immer dasselbe Wort wiederholte. Rostow horchte auf das, was er sagte, hin und verstand das Wort, das er fortwährend sprach. Dieses Wort war: »Trinken, trinken, trinken!« Rostow blickte um sich und suchte mit den Augen jemand, der den Kranken auf seinen Platz legen und ihm Wasser reichen könnte.

»Wer wartet hier die Kranken?« fragte er den Heilgehilfen.

In diesem Augenblick kam aus dem anstoßenden Zimmer ein Trainsoldat herein, der den Dienst eines Krankenwärters versah,[209] ging mit strammem Schritt auf Rostow zu und machte vor ihm militärisch Front.

»Wünsche Gesundheit1, Euer Hochwohlgeboren!« schrie dieser Soldat mit lauter Stimme und blickte, die Augen herauspressend, Rostow starr an; er hielt ihn offenbar für einen höheren Lazarettbeamten.

»Schaff doch diesen Mann fort, und gib ihm Wasser«, sagte Rostow, auf den Kosaken weisend.

»Zu Befehl, Euer Hochwohlgeboren«, erwiderte der Soldat mit vergnügtem Gesicht; er verwandte noch größere Anstrengung darauf, die Augen herauszudrücken und strammzustehen, rührte sich aber nicht vom Fleck.

»Nein, hier ist nichts auszurichten«, dachte Rostow und schlug die Augen nieder; er wollte schon das Zimmer verlassen, da bemerkte er, daß von der rechten Seite her ein Blick mit besonderer Absichtlichkeit auf ihn gerichtet war, und sah danach hin. Fast ganz in der Ecke saß auf einem Mantel, mit gelbem, skelettartigem, finsterem Gesicht und unrasiertem grauen Bart, ein alter Soldat und blickte Rostow unverwandt an. Der Nebenmann des alten Soldaten auf der einen Seite flüsterte ihm etwas zu und zeigte dabei auf Rostow. Rostow merkte, daß der Alte ihn um etwas zu bitten beabsichtigte. Er trat näher heran und sah, daß der Alte nur das eine Bein gebogen hielt, das andere aber ihm bis über das Knie hinauf fehlte. Der andere Nebenmann des Alten lag etwas weiter von ihm entfernt, ohne sich zu rühren, mit zurückgeworfenem Kopf; es war ein junger Soldat mit einer wachsartigen Blässe auf dem stumpfnasigen, mit Sommersprossen bedeckten Gesicht; die Augen waren ganz unter die Lider verdreht. Rostow warf einen forschenden Blick auf den[210] stumpfnasigen Soldaten, und ein Schauder lief ihm über den Rücken.

»Aber dieser hier ist ja, wie es scheint ...«, wandte er sich an den Heilgehilfen.

»Wir haben schon so gebeten, Euer Wohlgeboren«, sagte der alte Soldat mit zitterndem Unterkiefer. »Schon frühmorgens ist er gestorben. Wir sind ja doch auch Menschen und keine Hunde ...«

»Ich werde gleich Leute herschicken und ihn fortschaffen lassen«, sagte der Heilgehilfe eilig. »Bitte, kommen Sie, Euer Wohlgeboren.«

»Ja, wir wollen gehen, wir wollen gehen«, erwiderte Rostow hastig, und indem er mit niedergeschlagenen Augen und in gekrümmter Haltung sich bemühte, unbemerkt durch die Doppelreihe dieser vorwurfsvoll und neidisch nach ihm hinblickenden Augen hindurchzugehen, verließ er das Zimmer.

Fußnoten

1 Der vorschriftsmäßige Gruß.

Anmerkung des Übersetzers.


Quelle:
Tolstoj, Lev Nikolaevic: Krieg und Frieden. 4 Bde., Leipzig 1922, Band 2, S. 205-211.
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