XX

[221] Der Tag, an welchem Rostow nach Tilsit kam, war der ungünstigste, den er hätte treffen können, um etwas für Denisow zu tun. Er selbst konnte nicht zu dem General du jour gehen, da er Zivilkleidung, den Frack, trug und ohne Erlaubnis seines Kommandeurs nach Tilsit gekommen war; und auch Boris konnte, selbst wenn er gewollt hätte, dies am Tag nach Rostows Ankunft nicht tun. An diesem Tag, dem 27. Juni, wurden die Friedenspräliminarien unterzeichnet. Die Kaiser tauschten miteinander Orden aus: Alexander erhielt die Ehrenlegion, Napoleon den Andreasorden erster Klasse; auch war für diesen Tag ein Festessen angesetzt, welches ein Bataillon der französischen Garde einem Bataillon des Preobraschenski-Regiments gab. Die Kaiser sollten diesem Bankett beiwohnen.

Es war Rostow so unbehaglich und unangenehm, mit Boris zu verkehren, daß er, als Boris nach dem Souper zu ihm hereinblickte, sich schlafend stellte und am andern Tag frühmorgens, unter Vermeidung einer nochmaligen Begegnung, das Haus verließ. Im Frack und Zylinderhut trieb sich Nikolai in der Stadt umher; er besah sich die Franzosen und ihre Uniformen sowie die Straßen und Häuser, wo die Kaiser von Rußland und Frankreich wohnten. Auf dem Marktplatz sah er die aufgestellten Tische und die Vorbereitungen zu dem Festessen, auf den Straßen die quer herübergezogenenen Girlanden mit Fahnen in den russischen und französischen Farben und mit den riesigen Initialen A und N. An den Fenstern der Häuser waren ebenfalls Fahnen und Initialen angebracht.

»Boris will mir nicht helfen, und ich mag mich auch gar nicht noch einmal an ihn wenden«, dachte Nikolai. »Soviel steht fest: zwischen uns ist alles aus. Aber ich will von hier nicht weggehen,[222] ohne für Denisow alles getan zu haben, was in meinen Kräften steht, und vor allem nicht, ohne dem Kaiser den Brief übergeben zu haben. Dem Kaiser?! Hier ist er!« sprach Rostow bei sich und näherte sich unwillkürlich wieder dem Haus, in welchem Alexander wohnte.

Vor diesem Haus standen Reitpferde, und das Gefolge versammelte sich und machte sich offenbar bereit, den Kaiser, der auszureiten beabsichtigte, zu begleiten.

»Jeden Augenblick kann er kommen«, dachte Rostow. »Wenn ich ihm nur den Brief persönlich überreichen und ihm alles sagen könnte! Ob ich wohl wegen des Fracks arretiert würde! Unmöglich! Er würde einsehen, auf wessen Seite das Recht ist. Er versteht alles, weiß alles. Wer kann gerechter und großmütiger sein als er? Na, und selbst, wenn ich dafür arretiert würde, daß ich hier bin, was wäre das für ein Unglück?« dachte er und blickte nach einem Offizier hin, der in das vom Kaiser bewohnte Haus hineinging. »Da gehen ja doch auch andere Leute hinein. Ach was! Es ist alles dummes Zeug. Ich will hingehen und den Brief selbst dem Kaiser überreichen: die Schuld trägt Drubezkoi, der mich in diese Notlage versetzt hat.« Und plötzlich ging Rostow mit einer Entschlossenheit, die er sich selbst nicht zugetraut hatte, nachdem er noch nach dem Brief in seiner Tasche gefühlt hatte, geradewegs auf das Haus los, wo der Kaiser Quartier genommen hatte.

»Nein, jetzt will ich mir die Gelegenheit nicht wieder entgehen lassen wie damals nach der Schlacht bei Austerlitz«, dachte er, indem er jeden Augenblick dem Kaiser zu begegnen erwartete und fühlte, wie ihm bei diesem Gedanken alles Blut zum Herzen strömte. »Ich will ihm zu Füßen fallen und ihn bitten; er wird mich aufheben, mich anhören und mir sogar noch danken.« – ›Ich bin glücklich, wenn ich Gutes tun kann; aber eine Ungerechtigkeit[223] wiedergutzumachen, das ist das allergrößte Glück‹, so stellte sich Rostow die Worte vor, die der Kaiser zu ihm sagen werde. Und an den dort Stehenden vorbei, die ihn neugierig anblickten, stieg er die Stufen vor dem Portal des Hauses hinan.

Von dem Portal führte im Innern eine breite Treppe geradeaus nach oben; rechts war dort eine geschlossene Tür zu sehen. Unten führte unter der Treppe eine Tür in das Erdgeschoß.

»Zu wem wollen Sie?« fragte ihn jemand.

»Ich möchte einen Brief überreichen, eine Bittschrift an Seine Majestät«, antwortete Nikolai mit zitternder Stimme.

»Eine Bittschrift ... Wollen Sie sich an den Offizier du jour wenden; bitte dort!« (Der Redende wies auf die Tür unten.) »Aber Sie werden jetzt von Seiner Majestät nicht empfangen werden.«

Als Rostow diese gleichmütige Stimme hörte, bekam er einen Schreck über sein Vorhaben; der Gedanke, vielleicht im nächsten Augenblick dem Kaiser gegenüberzustehen, hatte für ihn etwas so Verführerisches und eben darum etwas so Furchtbares, daß er nahe daran war, davonzulaufen; aber der Kammerfourier, der ihn soeben in Empfang genommen hatte, öffnete ihm die Tür zu dem Dienstzimmer, und Rostow trat ein.

Ein kleiner, wohlbeleibter Mann von etwa dreißig Jahren, in weißen Beinkleidern, Reitstiefeln und einem augenscheinlich soeben erst angezogenen Batisthemd stand in diesem Zimmer; ein Kammerdiener knöpfte ihm von hinten ein Paar schöne, neue, mit Seide gestickte Hosenträger an, die sonderbarerweise Rostows Aufmerksamkeit erregten. Dieser Mann unterhielt sich mit jemand, der in einem anderen Zimmer war.

»Sie hat eine schöne Gestalt und die ganze Taufrische der Jugend«, sagte er; als er Rostow erblickte, brach er ab und zog die Augenbrauen zusammen.[224]

»Was steht zu Ihren Diensten? Eine Bittschrift?«

»Was gibt es denn?« fragte jemand aus dem anstoßenden Zimmer.

»Noch ein Bittsteller«, antwortete der Mann mit den Hosenträgern.

»Sagen Sie ihm, daß es zu spät ist. Der Kaiser wird gleich herunterkommen; wir müssen wegreiten.«

»Ein andermal, ein andermal, morgen! Jetzt ist es zu spät ...«

Rostow drehte sich um und wollte hinausgehen; aber der Mann mit den Hosenträgern hielt ihn zurück.

»Von wem ist denn die Bittschrift? Und wer sind Sie?«

»Von dem Major Denisow«, antwortete Rostow.

»Und wer sind Sie? Offizier?«

»Leutnant, Graf Rostow.«

»Welch eine Dreistigkeit! Überreichen Sie doch die Bittschrift auf dem vorschriftsmäßigen Weg durch die Vorgesetzten! Und nun gehen Sie, gehen Sie!« – Er zog sich die Uniform an, die ihm der Kammerdiener reichte.

Rostow ging wieder auf den Flur hinaus und bemerkte, daß vor dem Portal bereits eine Menge Offiziere und Generäle in voller Paradeuniform standen, an denen er vorbeigehen mußte.

Er verwünschte seine Dreistigkeit und wurde ganz starr bei dem Gedanken, daß er jeden Augenblick dem Kaiser begegnen und in dessen Gegenwart schmählich gescholten und in Arrest geschickt werden könne; er begriff die Ungehörigkeit seines Verhaltens in ihrem ganzen Umfang und empfand darüber ernstliche Reue. In dieser Stimmung schlich sich Rostow mit niedergeschlagenen Augen aus dem Haus, dessen Portal die glänzende Suite in dichtem Schwarm umdrängte, da rief ihn eine ihm bekannt klingende Stimme an, und er fühlte sich von einer Hand festgehalten.[225]

»Nun, lieber Freund, was tun Sie denn hier im Frack?« fragte ihn diese Baßstimme.

Es war ein Kavalleriegeneral, der sich in diesem Feldzug die besondere Gunst des Kaisers erworben hatte, der frühere Kommandeur der Division, bei welcher Rostow stand.

Erschrocken begann Rostow sich zu entschuldigen; aber als er die gutmütige Miene des Generals gewahrte, trat er mit ihm an die Seite, trug ihm in aufgeregtem Ton die ganze Angelegenheit vor und bat ihn, für Denisow, der dem General bekannt war, Fürsprache einzulegen. Als der General Rostow angehört hatte, wiegte er ernst den Kopf hin und her.

»Schade, jammerschade um den braven Menschen; geben Sie den Brief her.«

Kaum hatte Rostow die Angelegenheit Denisows erzählt und den Brief übergeben, als von der Treppe her schnelle Schritte und Sporenklirren ertönten; der General trat von Rostow weg und ging zum Portal. Die Herren der nächsten Umgebung des Kaisers kamen die Treppe herabgeeilt und begaben sich zu ihren Pferden. Der Stallmeister Ainé, derselbe, der bei Austerlitz mit dabeigewesen war, führte das Pferd des Kaisers vor, und nun ließen sich auf der Treppe mit leisem Stiefelknarren Schritte vernehmen, die Rostow sofort erkannte. Er vergaß die Gefahr, erkannt zu werden, trat mit einigen neugierigen Ortsbewohnern dicht an das Portal heran und erblickte wieder nach einer Zwischenzeit von zwei Jahren dieselben von ihm angebeteten Züge, dasselbe Gesicht, denselben Blick, denselben Gang, dieselbe Vereinigung von Majestät und Milde. Und das Gefühl enthusiastischer Liebe zum Kaiser lebte in Rostows Seele wieder mit der früheren Kraft auf. Der Kaiser trug die Uniform des Preobraschenski-Regiments, weiße Lederhosen und hohe Reitstiefel, auf der Brust einen Ordensstern, den Rostow nicht kannte[226] (es war die Ehrenlegion); so trat er vor das Portal, den Hut unter dem Arm haltend und damit beschäftigt, sich den einen Handschuh anzuziehen. Er blieb stehen und blickte um sich, und es war, als ob er alles ringsum mit seinem Blick erleuchtete. Zu einem und dem andern der Generale sagte er ein paar Worte. Auch den ehemaligen Kommandeur von Rostows Division erkannte er, lächelte ihm zu und rief ihn zu sich heran.

Das ganze Gefolge trat zurück, und Rostow sah, daß der General ziemlich lange dem Kaiser etwas vortrug.

Der Kaiser sagte einige Worte zu ihm und ging dann einen Schritt weiter, um zu seinem Pferd zu gelangen. Der Haufe des Gefolges und der Haufe des Straßenpublikums, zu welchem letzteren auch Rostow gehörte, rückte wieder näher an den Kaiser heran. Bei seinem Pferd stehenbleibend und mit der Hand den Sattel anfassend, wandte sich der Kaiser nochmals zum Kavalleriegeneral und sagte laut, augenscheinlich in der Absicht, von allen gehört zu werden:

»Ich kann es nicht, General, und zwar kann ich es deshalb nicht, weil das Gesetz stärker ist als ich.« Dann setzte er den Fuß in den Steigbügel.

Der General neigte ehrerbietig den Kopf; der Kaiser schwang sich auf und ritt im Galopp die Straße entlang. Rostow, der vor Begeisterung kaum von sich selbst wußte, lief mit dem Menschenschwarm hinter ihm her.

Quelle:
Tolstoj, Lev Nikolaevic: Krieg und Frieden. 4 Bde., Leipzig 1922, Band 2, S. 221-227.
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