XXI

[227] Auf dem Marktplatz, wohin der Kaiser ritt, standen, Front gegen Front, rechts ein Bataillon Preobraschenzen, links ein Bataillon der französischen Garde in Bärenmützen einander gegenüber.[227]

In dem Augenblick, als der Kaiser sich dem einen Flügel der präsentierenden Bataillone näherte, sprengte zu dem entgegengesetzten Flügel eine andere Reiterschar heran, und an ihrer Spitze erkannte Rostow Napoleon. Es konnte kein anderer sein. Er saß auf einem grauen arabischen Pferd von außerordentlich edler Rasse, auf einer karmesinroten, goldgestickten Schabracke, und ritt Galopp; er trug einen kleinen Hut, über der Schulter das Band des Andreasordens, einen offenstehenden blauen Uniformrock und darunter eine weiße Weste. Als er sich dem Kaiser Alexander näherte, lüftete er den Hut, und bei dieser Bewegung konnte es dem Kavalleristenauge Rostows nicht entgehen, daß Napoleon schlecht und unsicher zu Pferde saß. Die beiden Bataillone schrien »Hurra!« und »Vive l'empereur!«. Napoleon sagte etwas zu Alexander. Beide Kaiser stiegen von den Pferden und reichten einander die Hände. Auf Napoleons Gesicht lag ein gekünsteltes, unangenehm wirkendes Lächeln. Alexander sagte mit freundlicher Miene etwas zu ihm.

Obgleich die französischen Gendarmen ihre Pferde hin und her stampfen ließen, um die Menge zurückzudrängen, verfolgte Rostow doch mit unverwandten Blicken jede Bewegung Alexanders und Bonapartes. Auffallend war ihm als etwas Unerwartetes, daß Alexander sich benahm, als wären er und Bonaparte einander gleichgestellt, und daß Bonaparte völlig ungezwungen, als ob eine solche nahe Berührung mit einem Kaiser ihm etwas ganz Natürliches und Gewöhnliches wäre, mit dem russischen Zaren wie ein Gleichgestellter verkehrte.

Alexander und Napoleon gingen samt dem langen Schweif ihres Gefolges zum rechten Flügel des Preobraschenski-Bataillons, gerade auf den Menschenhaufen los, der dort stand. Die Menge befand sich auf einmal unerwarteterweise in solcher[228] Nähe der Kaiser, daß Rostow, der in den ersten Reihen stand, erkannt zu werden fürchtete.

»Sire, ich bitte Sie um die Erlaubnis, dem tapfersten Ihrer Soldaten die Ehrenlegion verleihen zu dürfen«, sagte eine scharfe, klare Stimme, die jeden Buchstaben deutlich aussprach.

Diese Worte kamen aus dem Mund des kleinen Bonaparte, der von unten her dem Kaiser Alexander gerade in die Augen blickte. Alexander hörte aufmerksam an, was Bonaparte ihm sagte, neigte den Kopf und lächelte freundlich.

»Demjenigen, der in diesem letzten Krieg die größte Tapferkeit bewiesen hat«, fügte Napoleon hinzu, indem er jedes Wort mit einer für Rostow empörenden Ruhe und Selbstgewißheit markierte und seinen Blick durch die Reihen der russischen Soldaten schweifen ließ, die in streng militärischer Haltung vor ihm standen, immer noch präsentierten und, ohne sich zu rühren, nach dem Gesicht ihres Kaisers blickten.

»Wollen Euer Majestät mir erlauben, den Obersten um seine Meinung zu fragen?« erwiderte Alexander und trat mit einigen schnellen Schritten zu dem Fürsten Koslowski hin, der das Bataillon kommandierte.

Bonaparte zog unterdessen von seiner kleinen, weißen Hand den Handschuh herunter und warf ihn, da er dabei zerriß, zur Erde. Ein Adjutant stürzte eilig von hinten herzu und hob ihn auf.

»Wem soll es gegeben werden?« fragte Kaiser Alexander den Obersten halblaut auf russisch.

»Wem Euer Majestät befehlen.«

Der Kaiser runzelte unzufrieden die Stirn und sagte, indem er sich umsah: »Ich muß ihm doch eine Antwort geben.«[229]

Koslowski musterte mit festem Blick die Reihen und traf mit diesem Blick auch Rostow.

»Er wird doch nicht gar mich nehmen?« dachte Rostow.

»Lasarew!« kommandierte der Oberst mit finsterer Miene, und der größte der Soldaten, der Flügelmann Lasarew, trat mit strammem Schritt vor.

»Wo willst du hin? Bleib doch da stehen!« wurde ihm, der nicht wußte, wohin er gehen sollte, von seinen Kameraden zugeflüstert. Lasarew blieb stehen und schielte erschrocken zum Obersten hin; sein Gesicht zuckte, wie meistens bei Soldaten, die vor die Front gerufen werden.

Napoleon drehte kaum den Kopf nach rückwärts und hielt nur seine kleine, dicke Hand nach hinten, wie wenn er etwas in Empfang nehmen wollte. Die Herren von seiner Suite errieten sofort, um was es sich handelte, gerieten in eifrige Bewegung, flüsterten miteinander und reichten einander etwas von Hand zu Hand weiter; ein Page, derselbe, welchen Rostow am Abend bei Boris gesehen hatte, lief vor, und indem er sich ehrerbietig über die ausgestreckte Hand beugte und sie auch nicht eine Sekunde zu lange warten ließ, legte er einen Orden an einem roten Band hinein. Napoleon drückte, ohne hinzublicken, zwei Finger zusammen; der Orden befand sich zwischen ihnen. Napoleon trat zu Lasarew heran, der, die Augen hervorpressend, hartnäckig immer noch nur seinen Kaiser ansah, und blickte nach dem Kaiser Alexander hin, um dadurch zu verstehen zu geben, daß das, was er jetzt tue, ein Akt der Liebenswürdigkeit gegen seinen Verbündeten sei. Die kleine, weiße Hand mit dem Orden berührte einen Knopf des Soldaten Lasarew. Und Napoleon schien überzeugt zu sein, daß, wenn seine, Napoleons Hand die Brust dieses Soldaten einer Berührung würdigte, schon allein dadurch dieser Soldat für immer glücklich und vor allen Menschen in der Welt[230] belohnt und ausgezeichnet sei. Napoleon hielt das Kreuz nur an Lasarews Brust, und die Hand wieder sinken lassend, wandte er sich zu Alexander, wie wenn er wüßte, daß das Kreuz an Lasarews Brust haftenbleiben müsse. Und das Kreuz blieb wirklich haften.

Russische und französische dienstfertige Hände ergriffen im selben Augenblick das Kreuz und befestigten es an der Uniform. Lasarew, welcher finster auf den kleinen Mann mit den weißen Händen geblickt hatte, als dieser irgend etwas mit ihm vornahm, sah nun wieder, indem er fortfuhr regungslos das Gewehr zu präsentieren, dem Kaiser Alexander gerade in die Augen, wie wenn er ihn fragen wollte, ob er noch länger da stehen solle, oder ob man ihm befehle, jetzt umherzumarschieren oder vielleicht sonst irgend etwas zu tun. Aber es wurde ihm nichts befohlen, und er blieb ziemlich lange in dieser Haltung stehen, ohne sich zu rühren.

Die Kaiser stiegen zu Pferd und ritten weg. Die Preobraschenzen lösten ihre Reihen auf, mischten sich mit den französischen Gardisten und setzten sich an die für sie bereitstehenden Tische.

Lasarew saß auf dem Ehrenplatz; russische und französische Offiziere umarmten ihn, beglückwünschten ihn und drückten ihm die Hand. Scharen von Offizieren und Ortsbewohnern kamen hinzu, nur um Lasarew zu sehen. Lautes Geschwirr russischer und französischer Gespräche und munteres Gelächter ertönte auf dem Marktplatz um die Tische herum. Zwei Offiziere, lustig und vergnügt, mit geröteten Gesichtern, kamen an Rostow vorüber.

»Was sagst du zu so einer Bewirtung, Bruder? Alles auf Silber!« sagte der eine. »Hast du Lasarew gesehen?«

»Ja, ich habe ihn gesehen.«[231]

»Es heißt, morgen werden die Preobraschenzen den Franzosen ein Essen geben.«

»Nein, was hat dieser Lasarew für ein Glück! Zwölfhundert Francs lebenslängliche Pension!«

»Na, das ist mal eine Mütze, Kinder!« rief ein Preobraschenze, indem er sich die zottige Mütze eines Franzosen aufsetzte.

»Wundervoll! Ganz prächtig!«

»Hast du die Parole gehört?« fragte ein Gardeoffizier einen andern. »Vorgestern hieß sie: Napoleon, Frankreich, Tapferkeit; gestern: Alexander, Rußland, Größe. Einen Tag gibt unser Kaiser die Parole, den andern Tag Napoleon. Morgen wird der Kaiser dem tapfersten französischen Gardisten ein Georgskreuz verleihen. Das geht nicht anders! Er muß die Liebenswürdigkeit in derselben Form erwidern.«

Auch Boris war mit seinem Kameraden Zilinski hingegangen, um sich das Bankett der Preobraschenzen anzusehen. Auf dem Rückweg bemerkte Boris Rostow, der an der Ecke eines Hauses stand.

»Guten Tag, Rostow! Wir haben uns ja heute noch gar nicht gesehen«, sagte er zu ihm und konnte sich nicht enthalten, ihn zu fragen, was ihm fehle: eine so sonderbar finstere, verstörte Miene zeigte Rostows Gesicht.

»Nichts, nichts«, antwortete Rostow.

»Du kommst doch noch einmal zu mir heran?«

»Ja, ich werde kommen.«

Rostow stand lange an der Ecke und betrachtete von weitem die Schmausenden. In seinem Kopf ging eine qualvolle Gedankenarbeit vor, die er schlechterdings nicht imstande war zu einem befriedigenden Ende zu führen. Entsetzliche Zweifel waren in seiner Seele wach geworden. Bald dachte er an Denisow und an dessen veränderten Gesichtsausdruck und schließliche Unterwerfung[232] und an das ganze Lazarett mit all diesen verkrüppelten Soldaten, mit seinem Schmutz und seinen Krankheiten. Er glaubte mit solcher Bestimmtheit, in diesem Augenblick den Leichengeruch des Lazaretts zu spüren, daß er sich umsah, um festzustellen, woher dieser Geruch kommen könne. Bald trat ihm dieser selbstzufriedene Bonaparte mit seiner kleinen, weißen Hand vor die Seele, der jetzt Kaiser war und den der Kaiser Alexander liebte und verehrte. Welchen Zweck hatten denn nun all die abgeschossenen Arme und Beine und die getöteten Menschen? Dann wieder dachte er an den dekorierten Lasarew und an den bestraften und nicht begnadigten Denisow. Er ertappte sich auf so seltsamen Gedanken, daß er über sie geradezu erschrak.

Der Speisengeruch von dem Festessen der Preobraschenzen und der französischen Gardisten und der ihm zum Bewußtsein kommende Hunger weckten ihn aus diesem Zustand der Versunkenheit: vor seiner Abreise mußte er notwendig etwas essen. Er ging in ein Gasthaus, das er am Morgen bemerkt hatte. In diesem Gasthaus traf er so viel Gäste, namentlich Offiziere, die ebenso wie er in Zivil nach Tilsit gekommen waren, daß er nur mit Mühe zu einem Mittagessen gelangen konnte. Zwei Offiziere, die mit ihm derselben Division angehörten, gesellten sich zu ihm. Es war nur natürlich, daß die Rede auf den Friedensschluß kam. Diese beiden Kameraden Rostows waren, wie der größte Teil der Armee, unzufrieden mit dem Friedensschluß, der auf die Schlacht bei Friedland gefolgt war. Die allgemeine Ansicht war, wir hätten uns nur noch ein Weilchen zu halten brauchen, dann wäre Napoleon verloren gewesen, da er weder Proviant noch Munition mehr für seine Truppen gehabt habe. Nikolai beschäftigte sich schweigend damit, zu essen und vor allem zu trinken. Er hatte allein schon zwei Flaschen Wein geleert. Jene[233] innerliche Gedankenarbeit, die in seinem Kopf in Gang gekommen, aber nicht zum Abschluß gelangt war, quälte ihn noch immer in gleicher Weise. Er fürchtete sich davor, sich seinen Gedanken zu überlassen, und war doch nicht imstande, sich von ihnen loszumachen. Da äußerte einer der beiden Offiziere, es errege einem die Galle, jetzt auf einmal die Franzosen als Freunde ansehen zu müssen; und nun schrie Rostow plötzlich mit einer jähen Heftigkeit los, die durch nichts gerechtfertigt war und daher die Offiziere in das größte Erstaunen versetzte.

»Wie können Sie darüber urteilen, was das beste sein würde!« schrie er mit dunkelrotem Kopf. »Wie können Sie über die Handlungen des Kaisers urteilen? Welches Recht haben wir zu kritisieren? Wir können weder die Absichten noch die Handlungen des Kaisers verstehen!«

»Aber ich habe ja kein Wort vom Kaiser gesagt«, erwiderte der Offizier zu seiner Rechtfertigung; er konnte sich Rostows Jähzorn nur durch die Annahme erklären, daß er betrunken sei.

Aber Rostow hörte gar nicht auf ihn.

»Wir sind keine Diplomaten; wir sind Soldaten und weiter nichts«, fuhr er fort. »Wenn uns befohlen wird, zu sterben, so sterben wir; und wenn man uns bestraft, dann haben wir es eben verdient; uns steht darüber kein Urteil zu. Wenn es unserm Kaiser beliebt, Bonaparte als Kaiser anzuerkennen und mit ihm ein Bündnis zu schließen, dann wird das eben notwendig sein. Aber wenn wir anfangen wollen über alles zu urteilen und alles zu kritisieren, dann bleibt bald nichts Heiliges mehr übrig. Dann kommen wir dahin, zu sagen, daß es keinen Gott und überhaupt nichts gibt!« schrie Nikolai und schlug mit der Faust auf den Tisch; was er da sagte, war sehr unmotiviert nach der Auffassung seiner Tischgenossen, bildete aber das folgerichtige Resultat seines Gedankenganges. »Wir haben einfach, ohne zu überlegen, unsere[234] Pflicht zu tun und mit dem Feind zu kämpfen, weiter nichts!« schloß er.

»Und zu trinken«, fügte einer der Offiziere hinzu, der dem Streit ein Ende zu machen wünschte.

»Jawohl, und zu trinken!« stimmte ihm Nikolai bei. »He, du! Noch eine Flasche!« rief er.

Quelle:
Tolstoj, Lev Nikolaevic: Krieg und Frieden. 4 Bde., Leipzig 1922, Band 2, S. 227-235.
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