IV

[124] Bald darauf kam zu Pierre in das dunkle Gemach nicht mehr der bisherige Redner, sondern sein Bürge Willarski, den er an der Stimme erkannte. Auf dessen neue Fragen nach der Festigkeit seines Entschlusses antwortete Pierre: »Ja, ja, ich bin willens«, und ging mit einem strahlenden, kindlichen Lächeln, die fleischige Brust entblößt, ungleichmäßig und schüchtern mit einem gestiefelten und einem stiefellosen Fuß auftretend, vorwärts, während Willarski ihm einen Degen gegen die nackte Brust hielt. Er wurde aus diesem Zimmer durch Korridore geleitet, die sich bald zurück, bald wieder vorwärts wanden, und schließlich an die Tür der Loge geführt. Willarski hustete; es wurde ihm durch freimaurerisches Hammerklopfen geantwortet, und die Tür öffnete sich vor ihnen. Eine Baßstimme (Pierres Augen waren immer noch verbunden) richtete Fragen an ihn: wer er wäre, wo und wann er geboren sei usw. Dann führte man ihn wieder irgendwohin, ohne ihm die Binde von den Augen zu nehmen, und redete während des Gehens zu ihm von den Mühseligkeiten seiner Wanderung, womit allegorisch das Erdendasein bezeichnet wurde, von der heiligen Freundschaft, von dem urewigen Baumeister der Welt und von der Mannhaftigkeit, mit der er Mühen und Gefahren ertragen müsse. Bei dieser Wanderung bemerkte Pierre, daß man ihn bald den »Suchenden«, bald den »Leidenden«, bald den »Verlangenden« nannte und dabei in verschiedener Weise mit Hammern und Degen aufklopfte. Während er zu[124] irgendeinem Gegenstand hingeführt wurde, spürte er, daß unter seinen Führern eine Unordnung und Verwirrung entstand. Er hörte, wie die ihn umgebenden Männer flüsternd miteinander stritten, und wie einer von ihnen darauf bestand, er sollte über einen Teppich geführt werden. Darauf ergriffen sie seine rechte Hand und legten sie auf irgend etwas, mit der linken aber mußte er einen Zirkel gegen seine linke Brust setzen, und so ließen sie ihn den Eid der Treue gegen die Gesetze des Ordens leisten, indem er die Worte wiederholen mußte, die ein anderer vorsprach. Dann wurden Kerzen ausgelöscht und Spiritus angezündet, was Pierre an dem Geruch merkte, und man sagte ihm, er werde nun das kleine Licht sehen. Man nahm ihm die Binde ab, und Pierre sah wie im Traum bei dem schwachen Schein der Spiritusflamme mehrere Männer, die, mit ebensolchen Schürzen wie der Redner angetan, ihm gegenüberstanden und Degen auf seine Brust gerichtet hielten. Unter ihnen stand ein Mann in einem weißen, mit Blut befleckten Hemd. Bei diesem Anblick machte Pierre mit der Brust eine Bewegung nach vorn auf die Degen zu, in dem Wunsch, daß diese in seine Brust eindringen möchten. Aber die Degen wichen von ihm zurück, und man legte ihm sogleich wieder die Binde um.

»Jetzt hast du das kleine Licht gesehen«, hörte er einen der Männer sagen. Dann wurden die Kerzen wieder angezündet; man sagte ihm, er solle nun auch das volle Licht sehen; die Binde wurde ihm wieder abgenommen, und mehr als zehn Stimmen sagten zugleich: »Sic transit gloria mundi.«

Allmählich begann Pierre sich zu sammeln und das Zimmer, in dem er war, und die darin befindlichen Menschen zu betrachten. Um einen langen, mit schwarzem Tuch bedeckten Tisch saßen etwa zwölf Männer, alle in derselben Tracht wie die, die er vorher gesehen hatte. Einige von ihnen kannte Pierre von der[125] Petersburger Gesellschaft her. Auf dem Platz des Vorsitzenden saß ein ihm unbekannter junger Mann, mit einem eigenartigen Kreuz um den Hals. Rechts von diesem saß der italienische Abbé, welchen Pierre vor zwei Jahren bei Anna Pawlowna gesehen hatte. Ferner war da noch ein sehr hochgestellter Beamter und ein Schweizer, der früher im Kuraginschen Haus als Erzieher tätig gewesen war. Alle beobachteten ein feierliches Stillschweigen und warteten auf die Worte des Vorsitzenden, der einen Hammer in der Hand hielt. In eine Wand war ein leuchtender Stern eingefügt; auf der einen Seite des Tisches lag ein kleiner Teppich mit verschiedenen bildlichen Darstellungen; auf der andern stand eine Art Altar mit einem Evangelienbuch und einem Totenkopf. Um den Tisch herum standen sieben große Kandelaber, von der Art, wie sie in Kirchen gebraucht werden. Zwei der Brüder führten Pierre zu dem Altar hin, stellten ihm die Füße so, daß sie einen rechten Winkel bildeten, und forderten ihn auf, sich hinzulegen, wobei sie bemerkten, er werfe sich vor dem Tor des Tempels nieder.

»Er muß vorher eine Kelle bekommen«, sagte flüsternd einer der Brüder.

»Ach, bitte, lassen Sie es nur gut sein!« erwiderte ein andrer.

Pierre gehorchte nicht sogleich, sondern blickte mit seinen kurzsichtigen Augen verlegen um sich, und auf einmal befiel ihn ein Zweifel. »Wo bin ich? Was tue ich? Macht man sich auch nicht über mich lustig? Wird mir auch die Erinnerung daran später nicht beschämend sein?« Aber dieser Zweifel dauerte nur einen Augenblick. Pierre blickte in die ernsten Gesichter der ihn umgebenden Männer, er erinnerte sich an alles, was er hier bereits durchgemacht hatte, und sah ein, daß er nicht auf halbem Weg stehenbleiben konnte. Er erschrak über seinen Zweifel, und eifrig bemüht, in seiner Seele das frühere Gefühl der Rührung wieder[126] wachzurufen, warf er sich vor dem Tor des Tempels nieder. Und wirklich kam jenes Gefühl der Rührung wieder über ihn, sogar in noch höherem Grad als vorher. Nachdem er eine Zeitlang gelegen hatte, hieß man ihn aufstehen, band ihm eine ebensolche weiße Lederschürze um, wie sie die andern trugen, gab ihm eine Kelle in die Hand sowie drei Paar Handschuhe, und dann wandte sich der Meister vom Stuhl zu ihm. Er sagte zu ihm, er solle darauf bedacht sein, die Weiße dieses Schurzfelles, welches symbolisch die Charakterfestigkeit und die Sittenreinheit bedeute, nicht zu beflecken; über die Kelle, deren Bedeutung er nicht erklärte, fügte er hinzu, er solle sich bemühen, mit ihr sein eigenes Herz von Fehlern zu reinigen und das Herz des Nächsten nachsichtig zu glätten und zu besänftigen. Darauf sagte er über das erste Paar Männerhandschuhe, ihre Bedeutung könne Pierre noch nicht verstehen; aber er solle sie aufbewahren; über das zweite Paar, gleichfalls Männerhandschuhe, sagte er, er solle sie zu den Versammlungen anziehen, und endlich sagte er über das dritte Paar, ein Paar Frauenhandschuhe: »Lieber Bruder, auch diese Frauenhandschuhe sind für Sie bestimmt. Geben Sie sie derjenigen Frau, die Sie höher achten werden als alle andern. Durch diese Gabe werden Sie derjenigen, die Sie sich als würdige Freimaurerin erlesen werden, die Versicherung geben, daß Ihr Herz rein und lauter ist.« Und nach einer kurzen Pause fügte er hinzu: »Aber gib acht, lieber Bruder, daß diese Handschuhe nicht unreine Hände schmücken.« Als der Meister vom Stuhl diese letzten Worte sprach, hatte Pierre die Empfindung, daß der Vorsitzende in Verlegenheit gerate. Pierre selbst wurde noch mehr verlegen, errötete so, daß ihm die Tränen in die Augen kamen, wie Kinder oft erröten, und begann unruhig um sich zu sehen. Es trat ein unbehagliches Schweigen ein.

Dieses Schweigen wurde von einem der Brüder unterbrochen,[127] welcher Pierre zu dem Teppich führte und ihm aus einem Heft eine Erklärung aller darauf dargestellten Figuren vorzulesen begann: der Sonne, des Mondes, des Hammers, des Richtlotes, der Kelle, des rohen und des kubisch behauenen Steines, der Säule, der drei Fenster usw. Dann wurde ihm sein Platz angewiesen, man zeigte ihm die Erkennungszeichen der Loge, sagte ihm das Losungswort für den Eintritt und gestattete ihm schließlich, sich hinzusetzen. Der Meister vom Stuhl las nun die Satzungen vor. Diese Satzungen waren sehr lang, und Pierre war vor Freude, Aufregung und Verlegenheit nicht imstande, das, was vorgelesen wurde, zu verstehen. Nur auf die letzten Sätze der Satzungen gab er besser acht, und diese prägten sich seinem Gedächtnis ein:

»In unsern Tempeln kennen wir keine anderen Verschiedenheiten«, las der Meister vom Stuhl, »als diejenigen, die zwischen der Tugend und dem Laster bestehen. Hüte dich, irgendeinen Unterschied zu machen, der die Gleichheit stören könnte. Eile dem Bruder zu Hilfe, wer er auch sei; belehre den Irrenden; richte den Gefallenen auf, und hege niemals Groll oder Feindschaft gegen einen Bruder. Sei freundlich und liebreich. Erwecke in allen Herzen die Glut der Tugend. Freue dich über das Glück deines Nächsten, und möge niemals Neid diesen reinen Genuß stören. Verzeihe deinem Feind; räche dich nicht an ihm, es sei denn dadurch, daß du ihm Gutes tust. Wenn du so das höchste Gesetz erfüllst, so wirst du etwas von der urzeitlichen Seelengröße wiedergewinnen, die du verloren hast.«

Er schloß, stand auf, umarmte Pierre und küßte ihn. Mit Freudentränen in den Augen blickte Pierre um sich und wußte gar nicht, was er allen antworten sollte, die ihn umringten, ihn beglückwünschten und zum Teil eine frühere Bekanntschaft erneuerten. Aber er machte zwischen alten und neuen Bekannten[128] keinen Unterschied; in allen diesen Männern sah er nur Brüder und brannte vor Ungeduld, sich mit ihnen gemeinsam ans Werk zu machen.

Der Meister vom Stuhl klopfte mit dem Hammer auf; alle setzten sich auf ihre Plätze, und einer von ihnen las eine ermahnende Ansprache über die Notwendigkeit der Demut vor.

Dann forderte der Meister vom Stuhl die Brüder auf, die letzte ihnen obliegende Pflicht zu erfüllen, und der hohe Beamte, der den Titel »Almosensammler« führte, begann bei den Brüdern umherzugehen. Pierre hätte am liebsten in die Almosenliste alles Geld eingezeichnet, das er verfügbar hatte; aber er fürchtete, dadurch Hochmut zu bekunden, und trug nur ungefähr ebensoviel ein wie die andern.

Die Sitzung wurde geschlossen. Als Pierre nach Hause kam, war ihm zumute, als kehrte er von einer weiten Reise zurück, auf der er Jahrzehnte zugebracht, sich völlig verändert und sich seiner ganzen früheren Lebenseinrichtung und allen seinen ehemaligen Gewohnheiten entfremdet hätte.

Quelle:
Tolstoj, Lev Nikolaevic: Krieg und Frieden. 4 Bde., Leipzig 1922, Band 2, S. 124-129.
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