III

[113] Als Pierre in Petersburg angelangt war, benachrichtigte er niemand von seiner Ankunft, ließ sich nirgends blicken und verbrachte ganze Tage mit der Lektüre des Thomas a Kempis; dieses Buch war ihm von einem unbekannten Absender zugegangen. Wenn Pierre in diesem Buch las, hatte er stets dieselbe Empfindung: er empfand den ihm bisher noch unbekannten Genuß, an die Möglichkeit einer Erreichung der Vollkommenheit und an die Möglichkeit einer werktätigen Bruderliebe unter den Menschen zu glauben; daß dies beides möglich war, dafür hatte ihm Osip Alexejewitsch die Augen geöffnet. Eine Woche nach seiner Ankunft trat eines Abends der junge polnische Graf Willarski, den Pierre aus dem Petersburger gesellschaftlichen Leben obeflächlich kannte, zu ihm ins Zimmer, mit derselben offiziellen, feierlichen Miene, mit welcher vor einiger Zeit Dolochows Sekundant zu ihm gekommen war. Nachdem Willarski[113] sorgfältig die Tür hinter sich zugemacht und sich überzeugt hatte, daß außer Pierre niemand im Zimmer war, wandte er sich zu ihm.

»Ich komme mit einem Auftrag und mit einem Anerbieten zu Ihnen, Graf«, sagte er, ohne sich zu setzen. »Eine in unserer Bruderschaft sehr hochgestellte Persönlichkeit hat Ihre Aufnahme unter Wegfall der üblichen Frist befürwortet und mich ersucht, Ihr Bürge zu sein. Ich halte es für meine heilige Pflicht, den Wunsch dieser Persönlichkeit zu erfüllen. Wünschen Sie unter meiner Bürgschaft in die Bruderschaft der Freimaurer einzutreten?«

Der kühle, ernste Ton dieses Mannes, welchen Pierre fast stets auf Bällen, mit einem liebenswürdigen Lächeln auf den Lippen, in der Gesellschaft der glänzendsten Frauen gesehen hatte, war für Pierre überraschend.

»Ja, es ist mein Wunsch«, antwortete Pierre.

Willarski neigte den Kopf.

»Noch eine Frage, Graf«, fuhr er fort, »auf die ich Sie bitte, mir nicht als künftiger Freimaurer, sondern als Ehrenmann (galant homme) mit aller Aufrichtigkeit zu antworten: haben Sie sich von Ihren früheren Anschauungen befreit, glauben Sie an Gott?«

Pierre dachte nach.

»Ja ... ja, ich glaube an Gott«, erwiderte er dann.

»Wenn dem so ist ...«, begann Willarski; aber Pierre unterbrach ihn:

»Ja, ich glaube an Gott«, sagte er noch einmal.

»Wenn dem so ist, können wir sogleich hinfahren«, sagte Willarski. »Mein Wagen steht zu Ihren Diensten.«

Auf dem ganzen Weg schwieg Willarski. Auf Pierres Fragen, was er zu tun und wie er zu antworten habe, erwiderte Willarski[114] nur: »Es werden Sie würdigere Brüder, als ich, prüfen; Sie haben weiter nichts zu tun, als die Wahrheit zu sagen.«

Nachdem sie in das Tor eines großen Hauses, wo die Loge ihren Sitz hatte, eingefahren und eine dunkle Treppe hinaufgestiegen waren, traten sie in ein kleines erleuchtetes Vorzimmer, wo sie ohne Beihilfe von Dienerschaft die Pelze ablegten. Aus dem Vorzimmer gingen sie weiter nach einem anderen Zimmer. Ein Mann in sonderbarer Kleidung zeigte sich an der Tür. Willarski trat beim Hereinkommen auf ihn zu, sagte zu ihm etwas auf französisch und ging dann zu einem kleinen Schrank, in welchem Pierre Kleidungsstücke bemerkte, wie er sie vorher noch nie gesehen hatte. Aus diesem Schrank nahm Willarski ein Tuch heraus, legte es Pierre um die Augen und band es hinten mit einem Knoten zusammen, wobei er in schmerzhafter Weise die Haare mit in den Knoten hineinfaßte. Darauf bog er Pierre zu sich heran, küßte ihn, faßte ihn bei der Hand und führte ihn irgendwohin. Die in den Knoten hineingezogenen Haare verursachten Pierre einen starken Schmerz, so daß er unwillkürlich die Stirn runzelte; aber gleichzeitig lächelte er, wie wenn er sich darüber schämte. Seine große Gestalt mit den herunterhängenden Armen, der gerunzelten Stirn und dem lächelnden Mund ging mit unsicheren, schüchternen Schritten hinter Willarski her.

Willarski blieb, nachdem er ihn ungefähr zehn Schritte weit geführt hatte, stehen.

»Was Ihnen jetzt auch begegnen mag«, sagte er, »Sie müssen alles mannhaft ertragen, wenn Sie den festen Entschluß gefaßt haben, in unsere Bruderschaft einzutreten.« (Pierre antwortete bejahend durch eine Neigung des Kopfes.) »Wenn Sie an die Tür klopfen hören, so nehmen Sie sich das Tuch vor den Augen ab«, fügte Willarski hinzu. »Ich wünsche Ihnen Mannhaftigkeit[115] und gutes Gelingen.« Er drückte Pierre die Hand und ging aus dem Zimmer.

Allein geblieben, fuhr Pierre fort in derselben Weise zu lächeln. Ein paarmal bewegte er die Schultern und hob eine Hand zu dem Tuch auf, als ob er es abnehmen wollte, ließ sie dann aber sogleich wieder sinken. Die fünf Minuten, die er so mit verbundenen Augen dastand, erschienen ihm wie eine Stunde. Die Arme schwollen ihm an, die Beine knickten ihm ein; es kam ihm vor, als sei er sehr müde. Er machte die kompliziertesten, verschiedenartigsten Empfindungen durch. Er fürchtete sich vor dem, was mit ihm vorgehen werde, und er fürchtete sich noch mehr, diese Furcht sichtbar werden zu lassen. Er war neugierig, zu erfahren, was man mit ihm vornehmen, was man ihm enthüllen werde; aber vor allem freute er sich, daß nun der Augenblick gekommen war, wo er endlich den Weg zur geistigen Wiedergeburt und zu einem werktätigen, tugendhaften Leben betreten sollte, den Weg zu den Zielen, die seit seinem Zusammentreffen mit Osip Alexejewitsch den Gegenstand seiner schwärmerischen Gedanken bildeten. Da hörte er starke Schläge gegen die Tür. Er nahm die Binde ab und blickte um sich. Im Zimmer herrschte tiefe Finsternis; nur an einer Stelle brannte ein Lämpchen in etwas Weißem. Pierre trat näher hinzu und sah, daß das Lämpchen auf einem schwarzen Tisch stand, auf dem ein aufgeschlagenes Buch lag. Dieses Buch waren die Evangelien, und das Weiße, worin das Lämpchen brannte, war ein Menschenschädel mit seinen Höhlungen und Zähnen. Pierre las die ersten Worte des Johanneischen Evangeliums: »Im Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott«, ging dann um den Tisch herum und erblickte einen großen, offenen, mit irgend etwas angefüllten Kasten. Dieser Kasten war ein Sarg mit Menschenknochen. Das, was er sah, setzte ihn ganz und gar nicht in Erstaunen. Da er in[116] ein völlig neues, von dem früheren ganz verschiedenes Leben einzutreten hoffte, so war er auf lauter ungewöhnliche Dinge gefaßt, auf noch seltsamere als die, welche er jetzt zu sehen bekam. Der Schädel, der Sarg, das Evangelienbuch – es war ihm, als habe er das alles, ja noch weit Stärkeres erwartet. In dem Bemühen, ein Gefühl der Rührung in seiner Seele hervorzurufen, blickte er um sich. »Gott, der Tod, die Liebe, die Verbrüderung aller Menschen«, sagte er bei sich selbst und verband mit diesen Worten unklare, aber frohe und freudige Vorstellungen. Die Tür öffnete sich, und es trat jemand ein.

Pierre erkannte bei dem schwachen Licht, an das sein Auge sich bereits einigermaßen gewöhnt hatte, daß der Eingetretene ein Mann von kleiner Statur war. An der Art, wie er zuerst stehenblieb, war zu merken, daß er vom Hellen ins Dunkle kam; dann näherte er sich mit vorsichtigen Schritten dem Tisch und legte seine kleinen, mit ledernen Handschuhen bekleideten Hände darauf. Dieser Mann trug eine weiße Lederschürze, welche ihm die Brust und einen Teil der Beine bedeckte; um den Hals hatte er eine Art Halsband, und aus dem Halsband erhob sich eine hohe, weiße Krause, die sein längliches, von unten her beleuchtetes Gesicht umrahmte.

Bei einem Geräusch, das Pierre verursachte, wandte sich der Eingetretene zu ihm hin und redete ihn an.

»Warum sind Sie hierhergekommen?« fragte er ihn. »Warum sind Sie, der Sie nicht an die Wahrheit des Lichtes glauben und das Licht nicht sehen, warum sind Sie hierhergekommen? Was wollen Sie von uns? Weisheit, Tugend, Erleuchtung?«

In dem Augenblick, wo die Tür aufgegangen und der unbekannte Mann hereingekommen war, hatte Pi erre ein Gefühl der Ängstlichkeit und der Andacht empfunden, ähnlich dem, das er[117] als Kind bei der Beichte gehabt hatte: er war überzeugt gewesen, er befinde sich hier Auge in Auge einem Mann gegenüber, der ihm hinsichtlich der äußeren Lebensverhältnisse völlig fremd sei und ihm doch kraft der Verbrüderung der Menschen sehr nahestehe. Aber als er sich mit einem Herzklopfen, das ihm fast den Atem benahm, dem »Redner« (so wurde in der Freimaurerei derjenige Bruder genannt, der den »Suchenden« zum Eintritt in die Bruderschaft vorbereitete) näherte, sah er, daß er einen Bekannten, namens Smoljaninow, vor sich hatte. Und dieser Gedanke, daß der Eingetretene ein Bekannter von ihm sei, war ihm peinlich; nach Pierres Empfindung sollte der Eingetretene ihm lediglich Bruder und Führer zur Tugend sein. Lange Zeit war Pierre nicht imstande, ein Wort herauszubringen, so daß der Redner seine Frage wiederholen mußte.

»Ja, ich ... ich ... habe das Verlangen nach einer geistigen Wiedergeburt«, brachte er endlich mit Mühe heraus.

»Gut«, erwiderte Smoljaninow und fuhr sogleich fort: »Haben Sie einen Begriff von den Mitteln, durch die unser heiliger Orden Ihnen zur Erreichung Ihres Zieles behilflich sein wird?« Er sprach schnell, aber in ruhigem Ton.

»Ich ... ich hoffe ... auf Führung ... und Hilfe ... zur geistigen Wiedergeburt«, antwortete Pierre mit zitternder Stimme und in stockender Rede, was sowohl von seiner Aufregung herrührte als auch von der mangelnden Gewöhnung, über abstrakte Gegenstände russisch zu sprechen.

»Was haben Sie von der Freimaurerei für einen Begriff?«

»Ich stelle mir vor, daß die Freimaurerei eine Verbrüderung und Gleichstellung der Menschen ist und die Tugend zum Ziel hat«, antwortete Pierre, der, je länger er sprach, sich um so mehr darüber schämte, daß seine Worte der Feierlichkeit des Augenblicks so wenig entsprächen. »Ich stelle mir vor ...«[118]

»Gut«, unterbrach ihn eilig der Redner, der durch diese Antwort offenbar vollständig befriedigt war. »Haben Sie die Mittel zur Erreichung Ihres Zieles in der Religion gesucht?«

»Nein, ich hielt die Religion nicht für wahr und folgte ihr nicht«, antwortete Pierre so leise, daß der Redner ihn nicht verstand und fragte, was er gesagt habe. »Ich war Atheist«, sagte Pierre.

»Sie suchen die Wahrheit, um ihren Gesetzen im Leben zu folgen; folglich suchen Sie Weisheit und Tugend, nicht wahr?« fragte der Redner nach kurzem Stillschweigen.

»Ja, ja«, erwiderte Pierre.

Der Redner räusperte sich, faltete die behandschuhten Hände über der Brust und begann dann:

»Jetzt muß auch ich Ihnen den Hauptzweck unseres Ordens mitteilen, und wenn dieser Zweck mit dem Ihrigen zusammenfällt, dann werden Sie mit Nutzen in unsere Bruderschaft eintreten. Die erste und hauptsächlichste Aufgabe und zugleich die Grundlage unseres Ordens, auf der er fest ruht und die keine menschliche Gewalt zerstören kann, besteht darin, ein gewisses wichtiges Geheimnis zu bewahren und den Nachkommen zu überliefern, ein Geheimnis, das von den allerältesten Zeiten, ja von dem ersten Menschen, auf uns gekommen ist und von dem vielleicht das Schicksal des Menschengeschlechts abhängt. Aber da dieses Geheimnis von der Art ist, daß niemand es erkennen und von ihm Nutzen ziehen kann, wenn er sich nicht durch langdauernde, sorgsame Läuterung seines eigenen Selbst vorbereitet hat, so kann nicht jeder hoffen, schnell in den Besitz dieses Geheimnisses zu gelangen. Daher besteht unsere zweite Aufgabe darin, unsere Mitglieder nach Möglichkeit vorzubereiten, ihr Herz zu bessern, ihren Verstand zu läutern und zu erleuchten, und zwar mit denjenigen Mitteln, die uns von Männern überliefert sind, welche an der Erforschung jenes Geheimnisses gearbeitet[119] haben, und sie auf diese Art zur Aufnahme desselben fähig zu machen. Dadurch, daß wir unsere Mitglieder läutern und bessern, arbeiten wir drittens auch an der Besserung des ganzen Menschengeschlechts, indem wir ihm in unseren Mitgliedern Beispiele der Ehrenhaftigkeit und Tugend vor Augen stellen, und wir bemühen uns so mit allen Kräften, das Böse, das in der Welt herrscht, zu bekämpfen. Denken Sie darüber nach; ich komme dann wieder zu Ihnen.« Er verließ das Zimmer.

»Das Böse, das in der Welt herrscht, zu bekämpfen ...«, wiederholte Pierre für sich und malte sich seine künftige Tätigkeit auf diesem Gebiet aus. Er vergegenwärtigte sich ebensolche Menschen, wie er selbst vor zwei Wochen einer gewesen war, und wandte sich in Gedanken mit einer belehrenden, ermahnenden Ansprache an sie. Er vergegenwärtigte sich lasterhafte, unglückliche Menschen, denen er mit Wort und Tat half; er vergegenwärtigte sich Bedrücker, aus deren Händen er ihre Opfer rettete. Von den drei Aufgaben, die der Redner genannt hatte, hatte die letzte, die Besserung des Menschengeschlechts, für Pierre eine besondere Anziehungskraft. Das wichtige Geheimnis, das der Redner erwähnt hatte, reizte zwar auch seine Neugierde, erschien ihm aber nicht als das Wesentlichste; und auch die zweite Aufgabe, die Läuterung und Besserung des eigenen Selbst, interessierte ihn nur wenig, da er in diesem Augenblick die genußreiche Empfindung hatte, er habe sich von seinen früheren Lastern schon völlig gebessert und sei nun einzig und allein zum Guten bereit.

Nach einer halben Stunde kehrte der Redner zurück, um dem Suchenden die sieben Tugenden mitzuteilen, die, wie er sagte, den sieben Stufen des salomonischen Tempels entsprächen und die ein jeder Freimaurer in sich hegen müsse. Diese Tugenden waren: 1. Verschwiegenheit, Bewahrung des Ordensgeheimnisses,[120] 2. Gehorsam gegenüber den Oberen des Ordens, 3. Sittenreinheit, 4. Menschenliebe, 5. Mannhaftigkeit, 6. Mildtätigkeit und 7. Liebe zum Tod.

»Was die siebente Tugend anlangt«, sagte der Redner, »so müssen Sie sich durch häufiges Nachdenken über den Tod bemühen, dahin zu gelangen, daß er Ihnen nicht mehr als ein furchtbarer Feind, sondern als ein Freund erscheint, der die Seele, nachdem sie sich in den Werken der Tugend abgemüht hat, von diesem elenden Leben befreit und zu der Stätte der Belohnung und der Ruhe führt.«

»Ja, so muß es sein«, dachte Pierre, als nach diesen Worten der Redner wieder von ihm weggegangen war und ihn seinem einsamen Nachdenken überlassen hatte. »So muß es sein; aber ich bin noch so schwach, daß ich mein Leben liebe, dessen Sinn und Bedeutung mir erst jetzt allmählich klarzuwerden beginnt.«

Aber die übrigen fünf Tugenden, auf die sich Pierre, an den Fingern zählend, besinnen konnte, meinte er in seiner Seele vorzufinden: die Mannhaftigkeit und die Mildtätigkeit und die Sittenreinheit und die Menschenliebe und namentlich den Gehorsam, der ihm nicht einmal als eine Tugend, sondern als ein Glück erschien. Er war jetzt sehr froh darüber, dem Zustand unbeschränkter Willensfreiheit entrückt zu werden und sich demjenigen und denen unterzuordnen, die die zweifellose Wahrheit wüßten. Die siebente Tugend hatte Pierre vergessen und konnte sich schlechterdings nicht auf sie besinnen.

Der Redner kehrte zum drittenmal schneller zurück und richtete an Pierre die Frage, ob er immer noch bei seiner Absicht bleibe und entschlossen sei, sich allem zu unterwerfen, was man von ihm verlangen werde.

»Ich bin zu allem bereit«, erwiderte Pierre.

»Ferner muß ich Ihnen noch mitteilen«, sagte der Redner,[121] »daß unser Orden seine Belehrung nicht nur in Worten erteilt, sondern auch durch andere Mittel, die auf denjenigen, der aufrichtig nach Weisheit und Tugend sucht, vielleicht noch stärker wirken als lediglich mündliche Erklärungen. Dieses Gemach hier mit seiner Einrichtung, die Sie sehen, hat Ihrem Herzen, wenn anders dieses aufrichtig sucht, gewiß schon mehr kundgetan, als es bloße Worte vermöchten; und bei weiterer Zulassung werden Ihnen vielleicht noch mehr derartige Offenbarungen zuteil werden. Unser Orden folgt darin dem Vorgang älterer Genossenschaften, die ihre Lehre durch Hieroglyphen mitteilten. Eine Hieroglyphe«, sagte der Redner, »ist ein bildlicher Ausdruck für ein übersinnliches Ding, welches ähnliche Eigenschaften besitzt, wie das bildlich dargestellte.«

Pierre wußte sehr wohl, was Hieroglyphen sind, wagte aber nicht, dies zu sagen. Er hörte dem Redner schweigend zu und merkte an allem, daß nun gleich die Prüfungen beginnen würden.

»Wenn Sie in Ihrem Entschluß fest sind, dann liegt es mir ob, zu Ihrer Einführung zu schreiten«, sagte der Redner und trat dabei näher an Pierre heran. »Zum Zeichen der Mildtätigkeit ersuche ich Sie, mir alle Ihre Wertsachen einzuhändigen.«

»Aber ich habe nichts bei mir«, erwiderte Pierre, welcher glaubte, man verlange von ihm die Herausgabe aller Kostbarkeiten, die er besäße.

»Das, was Sie bei sich haben: Uhr, Geld, Ringe ...«

Pierre zog eilig seine Uhr und seine Geldbörse heraus, konnte aber seinen Trauring lange nicht von dem fleischigen Finger herunterbekommen. Als dies erledigt war, sagte der Freimaurer:

»Zum Zeichen des Gehorsams ersuche ich Sie, sich zu entkleiden.«[122]

Nach Anweisung des Redners zog Pierre den Frack, die Weste und den linken Stiefel aus. Der Freimaurer machte ihm das Hemd über der linken Brust auf; dann bückte er sich und zog ihm am linken Bein die Hose bis über das Knie hinauf. Pierre wollte eilig auch am rechten Bein den Stiefel ausziehen und die Hose aufstreifen, um dem fremden Mann diese Mühe zu ersparen; aber der Freimaurer sagte ihm, das sei nicht erforderlich, und gab ihm einen Pantoffel für den linken Fuß. Ein kindliches Lächeln der Scham, des Zweifels und des Spottes über sich selbst trat unwillkürlich auf Pierres Gesicht. So stand er mit herabhängenden Armen und gespreizten Beinen vor dem Bruder Redner da und wartete auf dessen weitere Anweisungen.

»Und endlich ersuche ich Sie, zum Zeichen der Aufrichtigkeit mir Ihre wichtigste Leidenschaft anzugeben«, sagte dieser.

»Meine Leidenschaft! Ich hatte ihrer eine Menge«, erwiderte Pierre.

»Diejenige Leidenschaft, die mehr als andere Sie auf dem Weg zur Tugend straucheln ließ«, sagte der Freimaurer.

Pierre schwieg ein Weilchen und sann nach.

»Wein? Gutes Essen? Müßiggang? Trägheit? Heftigkeit? Bosheit? Weiber?« So musterte er seine Laster, wägte sie in Gedanken gegeneinander ab und wußte nicht, welches er für das schlimmste halten sollte.

»Die Weiber«, sagte er endlich mit leiser, kaum hörbarer Stimme.

Der Freimaurer rührte sich nicht und schwieg nach dieser Antwort lange. Dann ergriff er das auf dem Tisch liegende Tuch, trat zu Pierre heran und verband ihm wieder die Augen.

»Ich ermahne Sie noch ein letztes Mal: achten Sie auf sich selbst mit der größten Aufmerksamkeit, legen Sie Ihren Affekten Fesseln an, und suchen Sie das Glück nicht in den Leidenschaften,[123] sondern in Ihrem Herzen. Die Quelle der Glückseligkeit befindet sich nicht außer uns, sondern in uns.«

Pierre fühlte diese erfrischende Quelle der Glückseligkeit, die seine Seele mit freudiger Rührung erfüllte, bereits in sich.

Quelle:
Tolstoj, Lev Nikolaevic: Krieg und Frieden. 4 Bde., Leipzig 1922, Band 2, S. 113-124.
Lizenz:
Kategorien:

Buchempfehlung

Lewald, Fanny

Clementine

Clementine

In ihrem ersten Roman ergreift die Autorin das Wort für die jüdische Emanzipation und setzt sich mit dem Thema arrangierter Vernunftehen auseinander. Eine damals weit verbreitete Praxis, der Fanny Lewald selber nur knapp entgehen konnte.

82 Seiten, 5.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Geschichten aus dem Biedermeier III. Neun weitere Erzählungen

Geschichten aus dem Biedermeier III. Neun weitere Erzählungen

Biedermeier - das klingt in heutigen Ohren nach langweiligem Spießertum, nach geschmacklosen rosa Teetässchen in Wohnzimmern, die aussehen wie Puppenstuben und in denen es irgendwie nach »Omma« riecht. Zu Recht. Aber nicht nur. Biedermeier ist auch die Zeit einer zarten Literatur der Flucht ins Idyll, des Rückzuges ins private Glück und der Tugenden. Die Menschen im Europa nach Napoleon hatten die Nase voll von großen neuen Ideen, das aufstrebende Bürgertum forderte und entwickelte eine eigene Kunst und Kultur für sich, die unabhängig von feudaler Großmannssucht bestehen sollte. Für den dritten Band hat Michael Holzinger neun weitere Meistererzählungen aus dem Biedermeier zusammengefasst.

444 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon