VI

[132] Pierres Affäre mit Dolochow war vertuscht worden, und trotz der damaligen Strenge des Kaisers hinsichtlich der Duelle hatte die Sache weder für die beiden Gegner noch für ihre Sekundanten üble Folgen gehabt. Aber die skandalöse Vorgeschichte des Duells, die durch Pierres Bruch mit seiner Frau eine Bestätigung fand, sprach sich in der Gesellschaft herum. Pierre, den man mit herablassender Gönnermiene angesehen hatte, solange er ein illegitimer Sohn war, und den man umschmeichelt und gepriesen hatte, als man in ihm einen der besten Heiratskandidaten im ganzen russischen Reich sah, hatte schon nach seiner Heirat, als die jungen Mädchen und die Mütter nichts mehr von ihm zu erwarten hatten, in der Meinung der Gesellschaft stark verloren, um so mehr, da er sich weder darauf verstand noch darauf ausging, sich das Wohlwollen der Gesellschaft zu erwerben. Jetzt nun maß man ihm allein alle Schuld an dem Vorgefallenen bei; man sagte, er sei von einer sinnlosen Eifersucht[132] und leide an ähnlichen Anfällen blutdürstiger Raserei wie sein Vater. Und als nach Pierres Abreise Helene nach Petersburg zurückkehrte, wurde sie nicht nur freudig, sondern auch mit einem Beiklang von Ehrerbietung, der ihrem Unglück galt, von allen ihren Bekannten empfangen. Sobald sich das Gespräch auf ihren Mann wandte, nahm Helene jedesmal eine ernste, würdige Miene an, die sie sich mit dem ihr eigenen Takt zurechtgemacht hatte, ohne eigentlich ihre Bedeutung zu verstehen. Diese Miene besagte, daß Helene entschlossen sei, ihr Unglück zu tragen, ohne zu klagen, und daß ihr Mann ein ihr von Gott gesandtes Kreuz sei. Fürst Wasili sprach seine Meinung offener aus. Wenn von Pierre die Rede war, zuckte er die Achseln und sagte, indem er auf die Stirn deutete:

»Halbverrückt! Ich habe es ja immer gesagt.«

»Ich habe es vorhergesagt«, behauptete Anna Pawlowna mit Bezug auf Pierre. »Ich habe es damals gleich gesagt, und früher als alle andern« (sie betonte nachdrücklich ihre Priorität), »daß er ein verdrehter junger Mensch ist, den die zuchtlosen Ideen des Jahrhunderts verdorben haben. Das habe ich schon damals gesagt, als alle noch von ihm entzückt waren und er eben erst aus dem Ausland zurückgekehrt war und einmal bei mir auf einer Abendgesellschaft (besinnen Sie sich wohl noch?) sich als eine Art von Marat aufspielte. Und was ist nun das Ende vom Lied gewesen? Ich war schon damals eine Gegnerin dieser Heirat und habe alles vorhergesagt, was sich dann ereignet hat.«

Anna Pawlowna gab wie früher in ihrem Haus an dienstfreien Tagen Abendgesellschaften, für deren Arrangement sie ein einzigartiges Talent besaß. Denn erstens versammelte sich auf diesen Abendgesellschaften die Creme der wahrhaft guten Gesellschaft, die Quintessenz der Petersburger Intelligenz, wie Anna Pawlowna selbst sagte. Und abgesehen von dieser feinfühligen[133] Auswahl der Gäste zeichneten sich Anna Pawlownas Abendgesellschaften zweitens dadurch aus, daß die Wirtin ihren Gästen dabei jedesmal eine neue, interessante Persönlichkeit wie ein delikates Gericht auftischte, und daß nirgends mit solcher Deutlichkeit und Sicherheit wie auf diesen Abendgesellschaften zum Ausdruck kam, wie die politische Stimmung der loyalen Petersburger Hofgesellschaft war.

Gegen Ende des Jahres 1806, als bereits alle die traurigen Einzelheiten über die Vernichtung der preußischen Armee durch Napoleon bei Jena und Auerstedt und über die Übergabe eines großen Teiles der preußischen Festungen bekanntgeworden waren, als unsere Truppen schon in Preußen eingerückt waren und unser zweiter Krieg mit Napoleon begonnen hatte, gab Anna Pawlowna wieder eine Abendgesellschaft in ihrem Haus. Die Creme der wahrhaft guten Gesellschaft bestand an diesem Abend aus der bezaubernden, unglücklichen, von ihrem Mann verlassenen Helene, aus Mortemart, aus dem entzückenden Fürsten Ippolit, der soeben aus Wien angekommen war, aus zwei Diplomaten, der lieben Tante, einem jungen Mann, dem im Salon die ziemlich vage Bezeichnung: »ein Mann von großen Verdiensten« zuteil wurde, einer neu ernannten Hofdame nebst ihrer Mutter und aus einigen anderen minder bedeutenden Persönlichkeiten.

Diejenige Person, welche Anna Pawlowna an diesem Abend ihren Gästen wie eine neue Delikatesse vorsetzte, war Boris Drubezkoi, der soeben als Kurier von der preußischen Armee eingetroffen war und bei einer sehr hochgestellten Persönlichkeit die Stelle eines Adjutanten bekleidete.

Der Stand des politischen Thermometers, welcher an diesem Abend zur Kenntnis der Gesellschaft gebracht wurde, war[134] folgender: »Wie sehr auch alle Herrscher und Feldherrn Europas zu meiner und unser aller Empörung und Kränkung sich bemühen mögen, diesem Bonaparte Liebenswürdigkeiten zu erweisen, unsere Meinung über Bonaparte kann dadurch nicht verändert werden. Wir werden nicht aufhören, unsere Anschauungen in dieser Hinsicht ungeschminkt zum Ausdruck zu bringen, und können dem König von Preußen und den andern nur sagen: ›Ihr werdet den Schaden davon haben. Tu l'as voulu, George Dandin.‹ Das ist alles, was wir darüber sagen können.« Das war es, was das politische Thermometer auf Anna Pawlownas Abendgesellschaft besagte. Als Boris, der den Gästen vorgestellt werden sollte, in den Salon trat, war schon fast die ganze Gesellschaft beisammen, und das von Anna Pawlowna geleitete Gespräch drehte sich um unsere diplomatischen Beziehungen zu Österreich und um die Aussichten auf ein Bündnis mit diesem Staat.

Boris, der eine elegante Adjutantenuniform trug, in seiner ganzen Erscheinung männlicher geworden war und recht frisch und gesund aussah, trat mit ungezwungenem Benehmen in den Salon, wurde zunächst, wie es sich gehörte, beiseite geführt, um die liebe Tante zu begrüßen, und dann der allgemeinen Gruppe beigesellt.

Anna Pawlowna reichte ihm ihre magere Hand zum Kuß, machte ihn mit einigen ihm noch fremden Personen bekannt und gab ihm bei einer jeden im Flüsterton eine kurze Charakteristik.

»Fürst Ippolit Kuragin, ein allerliebster junger Mann. Herr Krug, Geschäftsträger aus Kopenhagen, ein tiefer Geist.« Und dann schlechthin: »Herr Schitow, ein Mann von großen Verdiensten«, mit Bezug auf den Herrn, dem dieses Etikett verliehen war.

Boris war nach verhältnismäßig kurzer Dienstzeit dank den unablässigen[135] Bemühungen seiner Mutter Anna Michailowna sowie dank seinen eigenen gewandten Manieren und seinem klug zurückhaltenden Wesen bereits in eine sehr vorteilhafte dienstliche Stellung gelangt. Er war Adjutant bei einer hochgestellten Persönlichkeit, hatte einen sehr wichtigen Auftrag nach Preußen gehabt und war soeben von dort als Kurier zurückgekommen. Er hatte sich in jenes ungeschriebene Reglement über die Subordinationsverhältnisse, das ihm in Olmütz so gut gefallen hatte, vollständig eingelebt, jenes Reglement, nach welchem ein Fähnrich sehr viel höher stehen konnte als ein General, und nach welchem zu einer guten Karriere nicht Anstrengung im Dienst, Arbeit, Tapferkeit, Ausdauer erforderlich waren, sondern nur die Kunst, mit denjenigen gut zu verkehren, die die dienstlichen Belohnungen zu verteilen hatten – und er wunderte sich oft selbst über sein schnelles Vorwärtskommen, und wie es möglich war, daß andere sich auf diesen Weg nicht verstanden. Infolge dieser seiner Entdeckung hatten seine ganze Lebensweise, alle seine Beziehungen zu früheren Bekannten, alle seine Pläne für die Zukunft eine vollständige Umänderung erfahren. Er war nicht reich; aber er verwandte sein letztes Geld darauf, sich besser zu kleiden als andere; er hätte lieber auf viele Vergnügungen verzichtet, als daß er es sich erlaubt hätte, auf den Straßen Petersburgs in einem schlechten Wagen zu fahren oder sich in einer alten Uniform sehen zu lassen. Er unterhielt und suchte Verkehr nur mit solchen Leuten, die über ihm standen und ihm daher nützlich sein konnten. Er liebte Petersburg und verachtete Moskau. Die Erinnerung an das Rostowsche Haus und an seine kindische Liebe zu Natascha war ihm peinlich, und seit seiner Abreise zur Armee war er kein einziges Mal mehr bei Rostows gewesen. In Anna Pawlownas Salon anwesend sein zu dürfen, hielt er für eine bedeutende Förderung auf der dienstlichen Laufbahn,[136] und er erfaßte jetzt sofort mit vollem Verständnis die von ihm zu spielende Rolle. Er überließ es zunächst Anna Pawlowna, was an ihm Interessantes sein mochte, zur Reklame für ihn zu benutzen, beobachtete aufmerksam jeden der Anwesenden, schätzte die Vorteile ab, die er von einem jeden haben konnte, und erwog die Möglichkeit, diesem und jenem näherzutreten. Er setzte sich auf den ihm angewiesenen Platz neben die schöne Helene und hörte dem allgemeinen Gespräch zu.

»Wien ist der Ansicht«, sagte der dänische Geschäftsträger, »die Basis des vorgeschlagenen Vertrages sei so unerreichbar, daß man nicht einmal durch eine Reihe der glänzendsten Erfolge würde zu ihr gelangen können, und bezweifelt, daß wir die Mittel hätten, solche Erfolge zu erzielen. Dies ist der authentische Text der Hauptstelle in der Antwort des Wiener Kabinetts.« Und dann fügte er als tiefer Geist mit feinem Lächeln hinzu: »Der Ausdruck des Zweifels kann nur schmeichelhaft sein!«

»Man muß zwischen dem Wiener Kabinett und dem Kaiser von Österreich unterscheiden«, bemerkte Mortemart. »Dem Kaiser von Österreich hat ein solcher Gedanke nie kommen können; es ist nur das Kabinett, das in dieser Weise spricht.«

»Ach, mein lieber Vicomte«, mischte sich hier Anna Pawlowna in das Gespräch. »Europa« (das Gespräch wurde in französischer Sprache geführt, und Anna Pawlowna bediente sich dabei der Aussprache: »l'Urope«, eine besondere Feinheit, die sie meinte sich im Gespräch mit einem Franzosen gestatten zu dürfen), »Europa wird niemals unser aufrichtiger Bundesgenosse sein.«

Hierauf lenkte Anna Pawlowna das Gespräch auf die Mannhaftigkeit und Festigkeit des Königs von Preußen, in der Absicht, Boris zur Beteiligung zu veranlassen.

Boris hatte bisher einem jeden, der sprach, aufmerksam zugehört und gewartet, bis die Reihe an ihn selbst kommen werde,[137] hatte aber dabei gleichzeitig Gelegenheit gefunden, wiederholt seine Nachbarin, die schöne Helene, anzuschauen, welche die Blicke des hübschen jungen Adjutanten mehrmals mit einem Lächeln erwiderte.

Da Anna Pawlowna von der Lage sprach, in der sich Preußen befand, so machte es sich ganz natürlich, daß sie Boris bat, von seiner Reise nach Glogau und von dem Zustand zu erzählen, in dem er das preußische Heer getroffen habe. Boris erzählte in ruhiger Redeweise und in reinem, korrektem Französisch eine Menge interessanter Einzelheiten über die Truppen und über den Hof, vermied es aber während seiner ganzen Erzählung sorgfältig, über die Tatsachen, die er berichtete, seine eigene Meinung zum Ausdruck zu bringen. Eine Zeitlang bildete Boris den Mittelpunkt für die allgemeine Aufmerksamkeit, und Anna Pawlowna merkte, daß er von allen ihren Gästen mit Vergnügen angenommen wurde. Noch größeres Interesse als alle übrigen legte für die Erzählung des jungen Adjutanten Helene an den Tag. Sie befragte ihn mehrmals nach allerlei Einzelheiten seiner Fahrt und schien sich für die Lage der preußischen Armee außerordentlich zu interessieren. Sobald er mit seinen Mitteilungen zu Ende war, wandte sie sich an ihn mit ihrem gewöhnlichen Lächeln:

»Sie müssen mich unbedingt besuchen«, sagte sie zu ihm in einem Ton, als ob dies aus gewissen Gründen, die er nicht wissen dürfe, schlechterdings notwendig sei. »Dienstag zwischen acht und neun Uhr. Sie werden mir damit eine große Freude bereiten.«

Boris versprach, ihren Wunsch zu erfüllen, und wollte ein Gespräch mit ihr beginnen, als Anna Pawlowna die Tante zum Vorwand benutzte, um ihn wegzurufen: diese wünsche eine Auskunft von ihm zu erhalten.[138]

»Sie kennen ja wohl ihren Mann?« sagte Anna Pawlowna, indem sie die Augen einen Augenblick schloß und mit einer traurigen Gebärde nach Helene hindeutete: »Ach, sie ist eine so unglückliche, so reizende Frau! Reden Sie in ihrer Gegenwart nie von ihm; bitte, ja nicht! Es ist ihr zu schmerzlich.«

Quelle:
Tolstoj, Lev Nikolaevic: Krieg und Frieden. 4 Bde., Leipzig 1922, Band 2, S. 132-139.
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