I

[265] Wenn der Mensch ein Tier sterben sieht, so ergreift ihn Entsetzen: ein Leben, wie es ihm selbst innewohnt und ihn zu dem macht, was er ist, wird da vor seinen Augen vernichtet und hört auf zu sein. Aber wenn das sterbende Wesen ein Mensch ist und ein geliebter Mensch, dann empfindet man, außer dem Entsetzen über die Vernichtung eines Lebens, in der Seele einen Riß und eine Wunde, die, ebenso wie eine leibliche Wunde, machmal den Tod herbeiführt, manchmal zwar wieder heilt, aber immer schmerzhaft bleibt und sich vor jeder äußeren Berührung scheut, durch die sie wieder gereizt werden könnte.

Nach dem Tod des Fürsten Andrei hatten Natascha und Prinzessin Marja beide in gleicher Weise diese Empfindung. Seelisch gebeugt und niedergedrückt von der drohend über ihnen hängenden Wolke des Todes, wagten sie nicht dem Leben ins Antlitz zu schauen. Vorsichtig hüteten sie ihre offenen Wunden vor verletzenden, schmerzlichen Berührungen. Alles mögliche: eine schnell auf der Straße vorüberfahrende Equipage, die mahnende Mitteilung, daß es Zeit sei zum Mittagessen zu kommen, die Anfrage des Stubenmädchens, welches Kleid sie bereitmachen solle, und als das Schlimmste eine Äußerung unaufrichtiger, lauer Teilnahme, all dergleichen reizte in schmerzhafter Weise die Wunde, erschien ihnen als eine Kränkung, störte die notwendige Stille, in der sie beide auf den ersten, furchtbaren Chorgesang lauschten, den sie mit ihren Seelen immer noch zu hören glaubten, und hinderte sie, in jene geheimnisvollen, unendlichen Fernen hineinzublicken, die sich ihnen für einen Augenblick erschlossen hatten.

Nur wenn sie beide miteinander allein waren, fühlten sie sich[265] sicher vor schmerzlichen Verletzungen. Sie redeten nur wenig miteinander, und immer nur über ganz unwichtige Gegenstände. Eine wie die andere vermied es in gleicher Weise, irgend etwas zu erwähnen, was auf die Zukunft hindeutete.

Bei dem, was sie sagten, die Voraussetzung zugrunde zu legen, daß sie noch eine Zukunft vor sich hatten, das erschien ihnen als eine Beleidigung gegen sein Andenken. Noch vorsichtiger vermieden sie in ihren Gesprächen alles, was auf den Verstorbenen Bezug haben konnte. Sie hatten das Gefühl, daß das, was sie durchlebt und empfunden hatten, sich nicht mit Worten ausdrücken lasse. Sie hatten das Gefühl, daß, wenn sie mit Worten Einzelheiten seines Lebens erwähnten, dadurch die Erhabenheit und Heiligkeit des Mysteriums verletzt werde, das sich vor ihren Augen vollzogen hatte.

Indem sie so in ihren Reden beständig Zurückhaltung übten, fortwährend sorgsam alles vermieden, wodurch das Gespräch auf ihn hingelenkt werden konnte, immer von allen Seiten her an der Grenze dessen, was nicht gesagt werden durfte, haltmachten, trat ihnen das, was sie empfanden, noch reiner und klarer vor die Seele.

Aber eine reine, volle Trauer ist ebenso unmöglich wie eine reine, volle Freude. Zuerst von den beiden erfuhr dies Prinzessin Marja. Infolge ihrer Stellung als alleinige, unabhängige Herrin ihres Schicksals und als Vormund und Erzieherin ihres Neffen wurde sie durch das Leben aus jener Welt der Trauer herausgerissen, in der sie die ersten zwei Wochen hindurch gelebt hatte. Sie hatte von Verwandten Briefe erhalten, auf die sie antworten mußte; das Zimmer, in dem Nikolenka untergebracht war, erwies sich als feucht, und er begann zu husten; Alpatytsch kam nach Jaroslawl mit geschäftlichen Abrechnungen sowie mit dem Vorschlag und Rat, Prinzessin Marja möge nach[266] Moskau in das Haus in der Wosdwischenka-Straße ziehen, das unversehrt geblieben war und nur geringer Reparaturen bedurfte. Das Leben blieb nicht stehen, und Prinzessin Marja konnte sich seinen Anforderungen nicht entziehen. So schwer es ihr wurde, aus jener Welt einsamer Beschaulichkeit, in der sie bisher gelebt hatte, herauszutreten, so sehr sie es bedauerte und sich gewissermaßen schämte, Natascha allein zu lassen: die Sorgen des Lebens verlangten ihre tätige Teilnahme, und sie konnte nicht umhin, sich ihnen zu widmen. Sie sah mit Alpatytsch die Rechnungen durch, konferierte mit Dessalles über ihren Neffen und traf Anordnungen und Vorbereitungen für ihre Übersiedelung nach Moskau.

Natascha blieb allein und begann auch ihrerseits der Prinzessin Marja aus dem Weg zu gehen, seit diese sich mit den Vorbereitungen zu ihrem Umzug beschäftigte.

Prinzessin Marja machte der Gräfin den Vorschlag, ihr Natascha nach Moskau mitzugeben, und Mutter und Vater erklärten sich freudig damit einverstanden, da sie sahen, daß die körperlichen Kräfte ihrer Tochter von Tag zu Tag mehr abnahmen, und der Meinung waren, eine Ortsveränderung und eine Behandlung durch Moskauer Ärzte würde ihr Nutzen bringen.

»Ich reise nirgends hin«, antwortete Natascha, als sie ihr von diesem Vorschlag Mitteilung machten. »Laßt mich nur, bitte, ganz in Ruhe!« Und damit lief sie aus dem Zimmer, nur mühsam die Tränen nicht sowohl des Grams als des Ärgers und Ingrimms zurückhaltend.

Seit Natascha sich von der Prinzessin Marja verlassen und in ihrem Gram allein fühlte, saß sie den größten Teil des Tages über allein in ihrem Zimmer mit hinaufgezogenen Beinen in einer Sofaecke, zerriß oder zerknetete etwas mit ihren schlanken, nervös zuckenden Fingern und blickte starr und regungslos nach[267] irgendeinem Gegenstand hin, auf den sich ihre Augen einmal geheftet hatten. Diese Einsamkeit machte sie matt und war ihr eine Qual; aber trotzdem war sie ihr geradezu notwendig. Sowie jemand zu ihr ins Zimmer trat, stand sie schnell auf, änderte die Richtung und den Ausdruck ihres Blickes, griff nach einem Buch oder einer Näharbeit und wartete offenbar mit Ungeduld darauf, daß der, welcher sie gestört hatte, wieder hinausginge.

Es war ihr stets so zumute, als werde sie im nächsten Augenblick das verstehen und durchdringen, worauf ihr geistiger Blick mit furchtbarer, ihre Kräfte übersteigender Anstrengung fragend gerichtet war.

Gegen Ende des Dezembers saß Natascha eines Tages in einem schwarzen Wollkleid, den Zopf nachlässig in einen Kauz zusammengesteckt, mager und blaß, mit hinaufgezogenen Beinen in ihrer Sofaecke, knitterte nervös die Enden ihres Gürtels zusammen und breitete sie wieder auseinander und blickte unverwandt nach der Türnische.

Sie schaute dahin, wohin er fortgegangen war, nach dem jenseitigen Leben. Und das jenseitige Leben, an das sie früher nie gedacht hatte und das ihr früher so fern, so unwahrscheinlich vorgekommen war, erschien ihr jetzt näher, vertrauter, verständlicher als das diesseitige Leben, in welchem alles entweder Öde und Verwüstung oder Leid und Kränkung war.

Sie schaute dorthin, wo sie wußte, daß er war; aber sie konnte ihn nicht anders sehen als in der Gestalt, die er hier gehabt hatte. Sie sah ihn wieder so, wie er in Mytischtschi, in Troiza und in Jaroslawl gewesen war.

Sie sah sein Gesicht, hörte seine Stimme und wiederholte seine Worte und die Worte, die sie zu ihm gesprochen hatte, und ersann sich manchmal für sich und für ihn neue Worte, die sie beide damals hätten sagen können.[268]

Er hatte vor ihr gelegen auf seinem Lehnstuhl in seinem samtenen Pelz, den Kopf auf die magere, blasse Hand gestützt, die Brust furchtbar eingesunken, die Schultern hochgezogen, die Lippen fest zusammengepreßt; die Augen hatten geglänzt, und auf seiner bleichen Stirn hatte sich eine Falte zusammengezogen und war dann wieder verschwunden. Sein eines Bein hatte ein ganz klein wenig gezittert. Natascha hatte gewußt, daß er mit einem qualvollen Schmerz rang. »Was hat es für eine Bewandtnis mit diesem Schmerz? Wozu ist dieser Schmerz da? Was fühlt der Kranke? Wie tut es ihm weh?« hatte Natascha gedacht. Er hatte bemerkt, daß ihre Aufmerksamkeit auf ihn gerichtet war, hatte die Augen in die Höhe gehoben und, ohne daß er gelächelt hätte, zu reden begonnen.

»Eines ist schrecklich«, hatte er gesagt, »sich für das ganze Leben mit einem leidenden Menschen zu verbinden. Das ist eine lebenslängliche Qual.« Und er hatte sie mit einem prüfenden Blick angeschaut. Natascha hatte, wie sie das immer tat, so auch damals geantwortet, ehe sie das, was sie antworten wollte, überdacht hatte; sie hatte gesagt: »Das kann ja nicht so bleiben, das wird nicht so bleiben; Sie werden wieder gesund werden, ganz gesund.«

Jetzt sah sie ihn wieder vor sich und durchlebte noch einmal von Anfang alles, was sie damals empfunden hatte. Sie erinnerte sich an den langen, traurigen, ernsten Blick, mit dem er sie bei diesen ihren Worten angeschaut hatte, und verstand, welch ein Vorwurf und welch eine Verzweiflung in diesem langen Blick gelegen hatte.

»Ich stimmte ihm darin zu«, sagte Natascha jetzt zu sich selbst, »daß es schrecklich wäre, wenn er immer leidend bliebe. Meine Antwort damals hatte nur den Sinn, daß es für ihn schrecklich sein würde, und er faßte sie anders auf. Er glaubte, es würde[269] für mich schrecklich sein. Er hatte damals noch den Wunsch weiterzuleben und fürchtete sich vor dem Tod. Und ich habe ihm so plump, so dumm geantwortet. Das habe ich nicht gemeint. Ich meinte etwas ganz anderes. Wenn ich gesagt hätte, was ich wirklich meinte, so hätte ich gesagt: selbst wenn er immerzu im Sterben läge, immerzu vor meinen Augen dahinstürbe, so würde ich dennoch glücklich sein im Vergleich mit dem, was ich jetzt bin. Jetzt ist nichts und niemand mehr da. Hat er wohl gewußt, wie ich dachte? Nein. Er hat es nicht gewußt und wird es nie erfahren. Und jetzt läßt sich das nie, nie wiedergutmachen.« Und nun sprach er wieder zu ihr dieselben Worte; aber jetzt antwortete ihm Natascha in ihrer Phantasie anders. Sie unterbrach ihn und sagte: »Schrecklich für Sie, aber nicht für mich. Sie wissen, daß ohne Sie mir das Leben leer und öde ist; mit Ihnen zu leiden ist für mich das schönste Glück.« Und er ergiff ihre Hand und drückte sie so, wie er sie an jenem furchtbaren Abend vier Tage vor seinem Tod gedrückt hatte. Und in ihrer Phantasie sagte sie ihm jetzt noch andere zärtliche Liebesworte, die sie ihm damals hätte sagen können. »Ich liebe dich ...! Dich ... Ich liebe dich, liebe dich ...«, sagte sie, indem sie die Hände krampfhaft zusammendrückte und die Zähne mit grausamer Anstrengung aufeinanderpreßte. Und ein süßer Gram überkam sie, und schon traten ihr die Tränen in die Augen; aber auf einmal fragte sie sich, wem sie das alles sage, wo er sei und was er jetzt sei. Und wieder wurde alles von einem trockenen, harten Zweifel verhüllt, und wieder schaute sie mit nervös zusammengezogenen Brauen im Geist dahin, wo er war. Und da, da war es ihr, als durchdringe sie das Geheimnis. Aber gerade in dem Augenblick, als das Unbegreifliche sich ihr schon zu offenbaren schien, traf ein lautes Klappern der Türklinke schmerzlich ihr Ohr. Eilig und ohne Vorsicht,[270] mit einem ängstlichen, ihr sonst fremden Gesichtsausdruck trat das Stubenmädchen Dunjascha ins Zimmer.

»Bitte, kommen Sie recht schnell zum Papa«, sagte Dunjascha mit eigentümlich erregter Miene. »Ein Unglück ... es ist ein Brief gekommen über Petja Iljitsch«, stieß sie schluchzend hervor.

Quelle:
Tolstoj, Lev Nikolaevic: Krieg und Frieden. 4 Bde., Leipzig 1922, Band 4, S. 265-271.
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