II

[271] Außer dem allgemeinen Gefühl der Entfremdung gegen alle Menschen empfand Natascha in dieser Zeit ein besonderes Gefühl der Entfremdung gegen die Mitglieder ihrer eigenen Familie. Alle ihre Angehörigen: der Vater, die Mutter, Sonja, waren ihr so gewohnte, alltägliche Erscheinungen, daß alle Worte und Gefühle derselben ihr wie eine Profanierung jener Welt vorkamen, in der sie in der letzten Zeit gelebt hatte, und sie benahm sich gegen sie nicht nur gleichgültig, sondern befand sich ihnen gegenüber in einer feindseligen Stimmung. Sie hatte gehört, was Dunjascha über Petja Iljitsch und ein Unglück gesagt hatte, es aber nicht verstanden.

»Was ist da bei denen für ein Unglück geschehen, was kann bei ihnen überhaupt für ein Unglück vorkommen? Bei denen nimmt ja alles seinen alten, gewohnten, ruhigen Gang«, sagte sich Natascha in Gedanken.

Als sie in den Saal trat, kam der Vater eilig aus dem Zimmer der Gräfin heraus. Sein Gesicht war von Falten überzogen und feucht von Tränen. Augenscheinlich war er aus jenem Zimmer herausgelaufen, um den Tränen, die ihn zu ersticken drohten, freien Lauf zu lassen. Als er Natascha erblickte, machte er mit beiden Armen eine Gebärde der Verzweiflung und brach in ein schmerzliches, krampfhaftes Schluchzen aus, bei dem sich sein rundes, weiches Gesicht verzerrte.[271]

»Pe ... Petja ... Geh hinein, geh hinein, sie ruft nach dir ...« Und wie ein Kind aufschluchzend, ging er hastig mit kleinen Schritten auf seinen schwach gewordenen Beinen auf einen Stuhl zu, fiel beinah auf ihn nieder und bedeckte sein Gesicht mit den Händen.

Auf einmal lief gleichsam ein elektrischer Strom durch Nataschas ganzes Wesen. Eine Art von furchtbarem, schmerzhaftem Schlag traf ihr Herz. Sie empfand einen entsetzlichen Schmerz; es war ihr, als wäre in ihrem Innern etwas von ihr losgerissen und als sei sie dem Tod nahe. Aber gleich nach diesem Schmerz fühlte sie eine Befreiung von dem Verbot zu leben, das auf ihr gelastet hatte. Als sie den Vater sah und durch die Tür einen schrecklichen, lauten Schrei der Mutter hörte, hatte sie augenblicklich sich und ihren Gram vergessen.

Sie lief auf den Vater zu; der aber winkte ihr matt mit der Hand ab und wies auf die Tür der Mutter. Prinzessin Marja, blaß, mit zitternder Kinnlade, kam aus der Tür, ergriff Natascha bei der Hand und sagte etwas zu ihr. Natascha sah sie nicht und hörte sie nicht. Mit schnellen Schritten trat sie in die Tür, blieb, wie im Kampf mit sich selbst, einen Augen blick stehen und lief dann zu ihrer Mutter hin.

Die Gräfin lag in seltsamer, unbequemer Haltung ausgestreckt auf einem Lehnstuhl und schlug mit dem Kopf gegen die Wand. Sonja und die Stubenmädchen hielten sie an den Armen.

»Ruft Natascha, ruft Natascha!« schrie die Gräfin. »Es ist nicht wahr, es ist nicht wahr ... Er lügt ... Ruft Natascha!« schrie sie und stieß die Umstehenden von sich. »Geht alle fort, es ist nicht wahr! Er soll tot sein? Hahaha ...! Es ist nicht wahr!«

Natascha kniete sich mit dem einen Bein auf den Lehnstuhl, beugte sich über die Mutter, umarmte sie, hob sie mit überraschender[272] Kraft in die Höhe, drehte das Gesicht der Mutter zu sich hin und schmiegte sich an sie.

»Mamachen ...! Täubchen ...! Hier bin ich, du Liebe, Gute. Mamachen ...«, flüsterte sie ihr zu, ohne auch nur eine Sekunde lang zu schweigen.

Sie ließ die Mutter nicht los, rang zärtlich mit ihr, forderte Kissen und Wasser und knöpfte und riß ihr das Kleid auf.

»Du Liebe, Gute, Täubchen ... Liebstes Mamachen ...«, flüsterte sie unaufhörlich, küßte ihr den Kopf, die Hände, das Gesicht, und fühlte, wie ihr selbst die Tränen stromweise aus den Augen liefen und sie an Nase und Wangen kitzelten.

Die Gräfin drückte die Hand der Tochter, schloß die Augen und wurde für einen Augenblick ruhig. Plötzlich aber erhob sie sich mit einer Schnelligkeit, die ihr sonst nicht eigen war, sah verstört um sich, und als sie Natascha erblickte, begann sie aus Leibeskräften deren Kopf zusammenzudrücken. Dann wandte sie Nataschas Gesicht, das sich vor Schmerz in Falten verzogen hatte, zu sich und blickte lange hinein.

»Natascha, du hast mich lieb«, sagte sie in leisem, zutraulichem Flüsterton. »Natascha, du wirst mich nicht täuschen? Du wirst mir die ganze Wahrheit sagen?«

Natascha sah sie mit Augen, die in Tränen schwammen, an, und auf ihrem Gesicht lag nur eine Bitte um Verzeihung und um Liebe.

»Mamachen, du Liebe, Gute«, sagte sie noch einmal und strengte alle Kraft ihrer Liebe an, um nach Möglichkeit das Übermaß des Kummers, der die Mutter erdrückte, dieser abzunehmen und es auf die eigenen Schultern zu laden.

Aber die Mutter, die es durchaus nicht für möglich halten wollte, daß sie selbst lebe, während ihr geliebter, blühender Junge tot sei, rettete sich aus der Wirklichkeit, mit der sie[273] in hoffnungslosem Kampf rang, wieder in die Welt des Irrsinns.

Natascha hatte später keine Erinnerung dafür, wie dieser Tag und diese Nacht und der folgende Tag und die folgende Nacht vergangen waren. Sie schlief nicht und wich ihrer Mutter nicht von der Seite. Nataschas beharrliche, geduldige Liebe hielt gleichsam die Gräfin ununterbrochen fest umschlungen, nicht in dem Sinn, als ob sie sie zu belehren oder zu trösten versuchte, sondern als wollte sie sie auffordern, zum Leben zurückzukehren.

In der dritten Nacht beruhigte sich die Gräfin für ein Weilchen, und Natascha schloß die Augen, stützte den Arm auf die Lehne des Sessels, auf dem sie saß, und legte den Kopf in die Hand. Das Bett knarrte; Natascha öffnete die Augen. Die Gräfin saß aufrecht auf dem Bett und sprach leise vor sich hin.

»Wie freue ich mich, daß du gekommen bist, lieber Sohn. Du wirst müde sein; möchtest du Tee?« Natascha trat zu ihr. »Du bist hübscher und männlicher geworden«, fuhr die Gräfin fort und ergriff die Tochter bei der Hand.

»Mamachen, was sprechen Sie da!«

»Natascha, er lebt nicht mehr, er lebt nicht mehr.«

Die Gräfin umarmte ihre Tochter und begann zum erstenmal zu weinen.

Quelle:
Tolstoj, Lev Nikolaevic: Krieg und Frieden. 4 Bde., Leipzig 1922, Band 4, S. 271-274.
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