XVIII

[342] Pierre wurde in das erleuchtete, große Speisezimmer geführt; einige Minuten darauf hörte er Schritte, und die Prinzessin und Natascha traten ins Zimmer. Natascha war ruhig, obgleich jetzt wieder ein tiefernster Ausdruck, ohne die Spur eines Lächelns, auf ihrem Gesicht lag. Prinzessin Marja, Natascha und Pierre hatten alle drei in gleicher Weise jenes Gefühl der Unbehaglichkeit, das gewöhnlich auf ein beendetes ernstes, herzliches Gespräch folgt. Das vorige Gespräch fortzusetzen ist unmöglich; von unbedeutenden Dingen zu reden schämt man sich, und ganz zu schweigen ist einem unangenehm, weil man gern reden möchte und dieses Schweigen einem daher wie Verstellung vorkommt. Sie gingen schweigend zu Tisch. Die Diener rückten die Stühle ab und wieder heran. Pierre faltete die kalte Serviette auseinander, und entschlossen, das Stillschweigen zu brechen, blickte er Natascha und Prinzessin Marja an. Beide waren offenbar gleichzeitig mit ihm zu demselben Entschluß gekommen: in den Augen beider leuchtete ein Gefühl der Zufriedenheit mit dem Leben und das Geständnis, daß es außer dem Kummer auch Freude auf der Welt gibt.

»Trinken Sie ein Gläschen Branntwein, Graf?« sagte Prinzessin[342] Marja, und diese Worte verscheuchten mit einemmal die Schatten der Vergangenheit. »Erzählen Sie uns doch etwas von sich«, fuhr sie fort. »Die Leute erzählen ja über Sie die unglaublichsten Wundergeschichten.«

»Ja«, erwiderte Pierre mit jenem mild spöttischen Lächeln, das ihm jetzt zur Gewohnheit geworden war. »Sogar mir selbst erzählen die Leute über mich Wundergeschichten, von denen ich mir nicht einmal etwas habe träumen lassen. Marja Abramowna hat mich zu sich eingeladen und mir in einem fort erzählt, was mir begegnet sei oder hätte begegnen sollen. Stepan Stepanowitsch hat mich ebenfalls belehrt, und zwar über die Art, wie ich erzählen müsse. Überhaupt habe ich bemerkt, daß es eine sehr gemächliche Situation ist, ein interessanter Mensch zu sein (ich bin nämlich jetzt ein interessanter Mensch): man lädt mich ein und erzählt mir etwas.«

Natascha lächelte und wollte etwas sagen; aber die Prinzessin ließ sie nicht zu Wort kommen.

»Es ist uns erzählt worden«, sagte Prinzessin Marja, »Sie hätten in Moskau zwei Millionen Rubel verloren. Ist das wahr?«

»Ich bin vielmehr dreimal so reich geworden«, antwortete Pierre.

Obgleich die Schulden seiner Frau und die Notwendigkeit zu bauen seine Verhältnisse geändert hatten, so fuhr Pierre doch fort, auseinanderzusetzen, daß er dreimal so reich geworden sei.

»Daß ich gewonnen habe, ist zweifellos«, sagte er. »So gleich die Freiheit ...«, begann er ganz ernst; aber er änderte seine Absicht und fuhr nicht fort, da es ihm vorkam, als sei dieses Gesprächsthema doch gar zu egoistisch.

»Sie bauen?«

»Ja, Saweljitsch will es so.«

»Sagen Sie doch: Sie wußten noch nichts von dem Tod der[343] Gräfin, als Sie hier in Moskau blieben?« sagte Prinzessin Marja, errötete aber in demselben Augenblick, da sie sich bewußt wurde, daß, indem sie diese Frage so unmittelbar nach seiner Bemerkung über die von ihm wiedererlangte Freiheit an ihn richtete, sie seinen Worten einen Sinn beilegte, den sie vielleicht nicht hatten.

»Nein«, antwortete Pierre, den offenbar die Deutung nicht genierte, welche Prinzessin Marja dem gab, was er von seiner Freiheit gesagt hatte. »Ich erfuhr es in Orjol, und Sie können sich gar nicht vorstellen, einen wie starken Eindruck diese Nachricht auf mich machte. Wir waren keine musterhaften Gatten«, fügte er schnell hinzu, als er Natascha ansah und auf ihrem Gesicht eine neugierige Spannung bemerkte, wie er sich wohl über seine Frau äußern werde; »aber dieser Todesfall hat mich tief erschüttert. Wenn zwei Men schen miteinander in Zwietracht leben, tragen sie immer beide schuld daran. Und die eigene Schuld bekommt auf einmal ein furchtbares Gewicht, wenn der andere nicht mehr lebt. Und dann, ein solcher Tod ... ohne Freunde, ohne Tröstung. Sie tut mir sehr, sehr leid«, schloß er und nahm mit Genuß eine freudige Zustimmung auf Nataschas Gesicht wahr.

»Ja, da sind Sie ja wieder Junggeselle und ein Heiratskandidat«, sagte Prinzessin Marja.

Pierre wurde plötzlich dunkelrot und bemühte sich lange Zeit, Natascha nicht anzusehen. Als er sich endlich wieder dazu entschloß, war ihr Gesicht kalt, streng und sogar, wie es ihm vorkam, verächtlich.

»Aber Sie haben doch wirklich Napoleon gesehen und mit ihm gesprochen, wie man uns erzählt hat?« fragte Prinzessin Marja.

Pierre lachte auf.

»Kein einziges Mal, niemals. Alle Leute bilden sich immer ein, gefangensein wäre dasselbe wie bei Napoleon zu Besuch sein.[344] Ich habe ihn nicht gesehen, ja nicht einmal etwas von ihm gehört. Ich war in weit schlechterer Gesellschaft.«

Das Abendessen war beendet, und Pierre, der anfangs nicht hatte von seiner Gefangenschaft erzählen mögen, geriet nun doch allmählich ins Erzählen hinein.

»Aber das ist doch richtig, daß Sie hierblieben, um Napoleon zu töten?« fragte ihn Natascha mit leisem Lächeln. »Ich habe es mir damals gleich gedacht, als wir Sie beim Sucharew-Turm trafen; besinnen Sie sich?«

Pierre gestand, daß das richtig sei, und von dieser Frage an ließ er sich, durch weitere Fragen der Prinzessin Marja und namentlich Nataschas geleitet, allmählich und unvermerkt dazu bringen, eingehende Mitteilungen über seine Erlebnisse zu machen.

Anfangs erzählte er mit jener mild spöttischen Anschauungsweise, die er jetzt für die Menschen und insonderheit für sich selbst an sich hatte; als er aber dann zu der Schilderung der Greuel und Leiden kam, die er mitangesehen hatte, wurde er, ohne es selbst zu merken, warm und sprach mit der verhaltenen Erregung eines Menschen, der starke Eindrücke in der Erinnerung noch einmal durchlebt.

Prinzessin Marja blickte mit mildem Lächeln bald auf Pierre, bald auf Natascha. Sie sah in dieser ganzen Erzählung nur Pierre und seine Herzensgüte. Natascha hatte den Kopf in die Hand gestützt und folgte, ohne sich auch nur einen Augenblick ablenken zu lassen, der Erzählung Pierres, wobei ihr Gesichtsausdruck sich beständig im Einklang mit dem Gehörten änderte; sie durchlebte offenbar mit ihm in Gedanken alles, was er erzählte. Nicht nur ihr Blick, sondern auch ihre Ausrufe und die kurzen Fragen, die sie stellte, zeigten Pierre, daß sie aus dem, was er erzählte, gerade das heraushörte, was er sagen wollte. Augenscheinlich verstand[345] sie nicht nur das, was er erzählte, sondern auch das, was er mit Worten gern ausgedrückt hätte, ohne es doch zu können. Sein Erlebnis mit dem kleinen Kind und der jungen Frau, bei dem er gefangengenommen worden, erzählte Pierre folgendermaßen: »Es war ein schreckliches Schauspiel: verlassene Kinder, manche im Feuer ... In meiner Gegenwart wurde ein Kind gerettet ... Frauen, denen Plünderer ihre Sachen raubten, den Schmuck vom Hals rissen ...« Pierre errötete und stockte. »Da kam eine Patrouille und arretierte alle Männer, die nicht zu den Plünderern gehörten, auch mich.«

»Sie erzählen gewiß nicht alles; Sie haben gewiß etwas getan ...«, sagte Natascha und schwieg einen Augenblick, »etwas Gutes.«

Pierre erzählte weiter. Bei der Schilderung der Hinrichtung wollte er über die furchtbaren Einzelheiten hinweggehen; aber Natascha verlangte, er solle nichts auslassen.

Pierre wollte anfangen von Karatajew zu erzählen (er war schon vom Tisch aufgestanden und ging auf und ab, wobei Natascha ihm mit den Augen folgte), hielt aber inne.

»Nein«, sagte er, »Sie können doch nicht begreifen, was ich von diesem närrischen Menschen, der nicht einmal lesen und schreiben konnte, alles gelernt habe.«

»Nicht doch, nicht doch, erzählen Sie nur«, sagte Natascha. »Wo ist er denn jetzt?«

»Er ist erschossen worden, fast vor meinen Augen.«

Und Pierre begann von der letzten Zeit ihres Rückzuges zu erzählen, von Karatajews Krankheit (seine Stimme zitterte hierbei fortwährend) und von seinem Tod.

Pierre erzählte seine Erlebnisse in einer Weise, wie er sie sich selbst noch nie in der Erinnerung wieder vergegenwärtigt hatte. Er fand jetzt in allem, was er durchlebt hatte, gewissermaßen[346] einen neuen Sinn. Jetzt, wo er dies alles Natascha erzählte, empfand er jenen seltenen Genuß, welchen Frauen durch die Art ihres Zuhörens einem Mann gewähren können, nicht die sogenannten geistreichen Frauen, deren Streben beim Zuhören entweder danach geht, sich das Gehörte einzuprägen, um ihren Verstand zu bereichern und dasselbe bei Gelegenheit wieder vorzubringen, oder danach, das Erzählte gegen ihren eigenen geistigen Besitz zu halten und so schnell wie möglich kluge Äußerungen darüber von sich zu geben, die sie sich in ihrer kleinen Verstandeswirtschaft zurechtmachen; sondern Pierre empfand den Genuß, welchen echte Frauen gewähren können, Frauen, die mit der Fähig keit begabt sind, das Beste, was in den Darlegungen eines Mannes enthalten ist, herauszufinden und in sich aufzunehmen. Natascha war, ohne sich dessen selbst bewußt zu sein, ganz Ohr: es entging ihr kein Wort, kein Schwanken der Stimme, kein Blick, kein Zucken eines Gesichtsmuskels, keine Handbewegung Pierres. Im Flug fing sie das kaum ausgesprochene Wort auf und trug es geradewegs in ihr geöffnetes Herz; sie erriet den geheimen Sinn der ganzen seelischen Arbeit Pierres.

Prinzessin Marja folgte der Erzählung und interessierte sich für sie; aber sie sah jetzt etwas anderes, was ihre ganze Aufmerksamkeit in Anspruch nahm: sie sah für Natascha und Pierre die Möglichkeit der Liebe und des Glückes. Und dieser Gedanke, der ihr jetzt zum erstenmal kam, erfüllte ihre Seele mit Freude.

Es war drei Uhr nachts. Die Diener kamen mit traurig-ernsten Gesichtern, um die Kerzen zu wechseln; aber niemand beachtete sie.

Pierre hatte seine Erzählung beendet. Natascha blickte ihn immer noch mit lebhaften, glänzenden Augen unverwandt und aufmerksam an, als wünschte sie auch noch das übrige zu verstehen, das er vielleicht nur nicht ausgesprochen hatte. Pierre sah[347] ab und zu mit verschämter, glückseliger Verlegenheit zu ihr hin und überlegte, was er jetzt sagen könnte, um das Gespräch auf einen andern Gegenstand zu bringen. Prinzessin Marja schwieg. Keiner von ihnen dachte daran, daß es drei Uhr in der Nacht und Zeit zum Schlafengehen sei.

»Da reden nun die Menschen immer von Unglück und Leiden«, sagte Pierre. »Aber wenn jemand jetzt gleich, diesen Augenblick, zu mir sagte: ›Willst du bleiben, was du vor der Gefangenschaft warst, oder all dies noch einmal von Anfang an durchleben?‹, bei Gott, ich würde noch einmal Gefangenschaft und Pferdefleisch wählen. Wenn uns etwas aus dem gewohnten Geleise wirft, so denken wir, alles sei verloren; und dabei beginnt doch nur etwas Neues, Gutes. Solange Leben da ist, gibt es auch Glück. Die Zukunft kann noch viel, viel Gutes bringen. Das sage ich Ihnen«, schloß er, zu Natascha gewendet.

»Ja, ja«, sagte sie, auf etwas ganz anderes antwortend, »auch ich würde nichts anderes wünschen, als alles noch einmal von Anfang an zu durchleben.« Pierre blickte sie aufmerksam an.

»Ja, und weiter nichts!« fügte Natascha bekräftigend hinzu.

»Das kann nicht richtig sein, das kann nicht richtig sein«, rief Pierre. »Ich kann nichts dafür, daß ich lebe und leben will; und so ist es auch mit Ihnen.«

Auf einmal ließ Natascha den Kopf auf die Arme sinken und brach in Tränen aus.

»Was ist dir, Natascha?« fragte Prinzessin Marja.

»Nichts, nichts.« Sie lächelte durch ihre Tränen hindurch Pierre zu. »Gute Nacht, es ist Zeit, schlafen zu gehen.«

Pierre stand auf und empfahl sich.

Prinzessin Marja und Natascha redeten, wie immer, im Schlafzimmer noch eine Weile miteinander. Sie sprachen von dem,[348] was Pierre erzählt hatte. Über Pierre selbst sprach Prinzessin Marja ihre Meinung nicht aus. Auch Natascha sprach nicht von ihm.

»Nun, gute Nacht, Marja«, sagte Natascha. »Weißt du, was ich oft fürchte? Wir reden nicht von ihm« (dem Fürsten Andrei), »als fürchteten wir, unserer Empfindung dadurch etwas von ihrer Erhabenheit zu nehmen, und gelangen dadurch schließlich dazu, ihn zu vergessen.«

Prinzessin Marja seufzte schwer und erkannte durch diesen Seufzer Nataschas Bemerkung als richtig an; aber mit Worten stimmte sie ihr nicht zu.

»Ist es denn möglich, ihn zu vergessen?« erwiderte sie.

»Mir hat es heute so wohl getan, alles zu erzählen«, sagte Natascha. »Es war mir peinlich und schmerzlich, tat mir aber doch wohl, sehr wohl. Ich bin überzeugt, daß er ihn wirklich geliebt hat. Darum habe ich es ihm auch erzählt ... Es schadet doch nichts, daß ich es ihm erzählt habe?« fragte sie plötzlich errötend.

»Daß du es Pierre erzählt hast? O nein! Was ist das für ein prächtiger Mensch!« sagte Prinzessin Marja.

»Weißt du, Marja«, sagte Natascha auf einmal mit einem schelmischen Lächeln, das Prinzessin Marja auf ihrem Gesicht seit langer Zeit nicht gesehen hatte. »Er ist, ich möchte sagen, so rein und glatt und frisch geworden, wie wenn er aus dem Bad käme; verstehst du, wie ich es meine? Im geistigen Sinn. Nicht wahr?«

»Ja«, erwiderte Prinzessin Marja. »Er hat sehr gewonnen.«

»Und der kurze Oberrock und das kurzgeschnittene Haar; wirklich, ganz wie aus dem Bad ... wie Papa manchmal ...«

»Ich begreife es, daß er« (Fürst Andrei) »niemand so sehr geliebt hat wie ihn«, sagte Prinzessin Marja.

»Ja, und dabei ist er von ihm so verschieden. Man sagt ja,[349] Männer können nur dann miteinander befreundet sein, wenn sie voneinander ganz verschieden sind. Das muß wohl richtig sein. Er ist ihm doch ganz unähnlich, in allem, nicht wahr?«

»Ja, und doch ist er ein prächtiger Mensch.«

»Nun, gute Nacht«, antwortete Natascha.

Und das schelmische Lächeln blieb, wie in Selbstvergessenheit, noch lange auf ihrem Gesicht.

Quelle:
Tolstoj, Lev Nikolaevic: Krieg und Frieden. 4 Bde., Leipzig 1922, Band 4, S. 342-350.
Lizenz:
Kategorien:

Buchempfehlung

Lewald, Fanny

Jenny

Jenny

1843 gelingt Fanny Lewald mit einem der ersten Frauenromane in deutscher Sprache der literarische Durchbruch. Die autobiografisch inspirierte Titelfigur Jenny Meier entscheidet sich im Spannungsfeld zwischen Liebe und religiöser Orthodoxie zunächst gegen die Liebe, um später tragisch eines besseren belehrt zu werden.

220 Seiten, 11.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Geschichten aus dem Biedermeier. Neun Erzählungen

Geschichten aus dem Biedermeier. Neun Erzählungen

Biedermeier - das klingt in heutigen Ohren nach langweiligem Spießertum, nach geschmacklosen rosa Teetässchen in Wohnzimmern, die aussehen wie Puppenstuben und in denen es irgendwie nach »Omma« riecht. Zu Recht. Aber nicht nur. Biedermeier ist auch die Zeit einer zarten Literatur der Flucht ins Idyll, des Rückzuges ins private Glück und der Tugenden. Die Menschen im Europa nach Napoleon hatten die Nase voll von großen neuen Ideen, das aufstrebende Bürgertum forderte und entwickelte eine eigene Kunst und Kultur für sich, die unabhängig von feudaler Großmannssucht bestehen sollte. Dass das gelungen ist, zeigt Michael Holzingers Auswahl von neun Meistererzählungen aus der sogenannten Biedermeierzeit.

434 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon