XIX

[350] Pierre konnte in dieser Nacht lange nicht einschlafen. Er ging im Zimmer auf und ab, bald die Stirn runzelnd, wie wenn er irgend etwas Schwieriges überlegte, bald plötzlich die Achseln zuckend und zusammenfahrend, bald glückselig lächelnd.

Er dachte an den Fürsten Andrei, an Natascha, an die Liebe dieser beiden und war bald eifersüchtig auf Nataschas Vergangenheit, bald machte er sich wegen dieser Eifersucht Vorwürfe, bald verzieh er es sich. Es war schon sechs Uhr morgens, und er ging immer noch im Zimmer auf und ab.

»Nun, was ist da zu machen? Wenn es doch nun einmal nicht anders geht? Was ist da zu machen? Dann muß es also geschehen«, sagte er zu sich selbst, kleidete sich schnell aus und legte sich ins Bett, glückselig und aufgeregt, aber frei von Zweifeln und von Unentschlossenheit.

»Mag auch dieses Glück noch so seltsam, noch so unmöglich scheinen, ich muß alles tun, damit sie meine Frau wird«, sagte er sich.

Noch vor ein paar Tagen hatte Pierre seine Abreise nach Petersburg auf den Freitag angesetzt. Als er am Donnerstag aufwachte, trat Saweljitsch zu ihm, um sich Befehle wegen des Packens der Sachen für die Reise zu erbitten.[350]

»Nach Petersburg? Was ist mit Petersburg? Wer soll nach Petersburg reisen?« fragte er sich unwillkürlich, wiewohl nur im stillen. »Ja, so etwas hatte ich ja vor längerer Zeit vor; ehe sich dies noch begab, hatte ich wirklich aus irgendeinem Grund vor, nach Petersburg zu reisen«, fiel ihm ein. »Weshalb auch nicht? Vielleicht fahre ich wirklich hin. Wie gut er ist, wie aufmerksam, wie er an alles denkt!« dachte er weiter, indem er Saweljitschs altes Gesicht ansah. »Und was für ein angenehmes Lächeln!« dachte er.

»Nun, wie ist's? Willst du noch immer nicht frei werden, Saweljitsch?« fragte Pierre.

»Was hätte ich von der Freiheit, Euer Erlaucht? Ich habe bei dem alten Herrn Grafen (Gott schenke ihm das Himmelreich) ein gutes Leben gehabt, und Sie haben mir ja auch nie etwas zuleide getan.«

»Nun, und deine Kinder?«

»Die Kinder werden auch gern in demselben Stand bleiben, Euer Erlaucht; bei solchen Herren kann man schon leben.«

»Nun, und meine Erben?« fragte Pierre. »Ich könnte mich ja auf einmal verheiraten ... Das wäre nicht unmöglich«, fügte er mit einem unwillkürlichen Lächeln hinzu.

»Ich bin so frei zu sagen: das wäre sehr gut, Euer Erlaucht.«

»Ja, das denkt er sich so leicht«, dachte Pierre. »Er weiß nicht, wie schrecklich und gefährlich das ist. Man handelt dabei entweder zu früh oder zu spät ... Es ist schrecklich!«

»Wie befehlen Sie? Belieben Sie morgen zu reisen?« fragte Saweljitsch.

»Nein, ich möchte es noch eine Weile aufschieben. Ich werde es dir dann schon sagen. Nimm es mir nicht übel, daß ich dir unnütz Umstände gemacht habe«, sagte Pierre, und als er[351] Saweljitschs Lächeln sah, dachte er: »Wie sonderbar ist es doch, daß er nicht weiß, daß mir jetzt Petersburg ganz gleichgültig ist und vor allen Dingen erst das Wichtigste zur Entscheidung gebracht werden muß. Übrigens weiß er es sicherlich und verstellt sich nur. Ob ich ihm wohl etwas davon sage? Wie mag er es auffassen?« dachte Pierre. »Nein, später einmal.«

Beim Frühstück teilte Pierre der Prinzessin mit, daß er gestern bei Prinzessin Marja gewesen sei. »Denken Sie sich nur, wen ich da getroffen habe: Natascha Rostowa.«

Die Prinzessin tat, als hielte sie diese Nachricht für etwas ebenso Gewöhnliches, wie wenn Pierre sagte, er habe Anna Semjonowna gesehen.

»Kennen Sie sie?« fragte Pierre.

»Ich habe die Prinzessin gelegentlich gesehen«, antwortete sie. »Ich habe gehört, sie sei dem jungen Rostow als Braut zugedacht. Das wäre für die Rostowsche Familie ein rechtes Glück; denn sie sollen ja völlig ruiniert sein.«

»Nein, ich meine, ob Sie die junge Gräfin Rostowa kennen.«

»Ich habe damals nur von einer Skandalgeschichte gehört. Sehr bedauerlich.«

»Nein«, dachte Pierre, »entweder versteht sie mich nicht, oder sie verstellt sich. Das beste ist schon, ich sage auch ihr nichts davon.«

Auch die Prinzessin hatte für Pierre gesorgt, indem sie ihm Reiseproviant zurechtgemacht hatte.

»Wie gut sie alle sind«, dachte Pierre, »daß sie jetzt, wo sie doch aller Wahrscheinlichkeit nach kein Interesse mehr dafür haben, sich noch mit all dergleichen abgeben. Und alles mir zuliebe; das ist doch erstaunlich.«

An demselben Tag kam der Polizeimeister zu Pierre und forderte ihn auf, er möchte doch einen Bevollmächtigten nach dem[352] Facettenpalast schicken, um die Sachen in Empfang zu nehmen, die heute an die Eigentümer verteilt werden sollten.

»Na, und auch der hier«, dachte Pierre, als er dem Polizeimeister ins Gesicht sah, »was ist das für ein prächtiger, schöner Offizier und was für ein guter Mensch! Jetzt gibt er sich noch mit solchen Lappalien ab. Und da sagen die Leute, er sei nicht ehrenhaft und lasse sich etwas in die Hand drücken. Dummes Zeug! Übrigens, warum sollte er auch nicht etwas annehmen? Das hängt mit seiner ganzen Erziehung zusammen. Und es machen es ja auch alle so. Und so ein angenehmes, gutmütiges Gesicht hat er, und er lächelt, wenn er mich ansieht.«

Zum Mittagessen fuhr Pierre zur Prinzessin Marja.

Während er zwischen den Brandstätten der Häuser durch die Straßen fuhr, war er erstaunt über die Schönheit dieser Ruinen. Die Schornsteine der Häuser und die trümmerhaften Mauern, die in ihrem pittoresken Aussehen an den Rhein und das Kolosseum erinnerten, zogen sich in langen Reihen, einander bald so, bald anders verdeckend, durch die eingeäscherten Stadtteile hin. Alle Leute, bei denen er vorbeikam: die Droschkenkutscher und ihre Fahrgäste, die Zimmerleute, welche Fachwerk errichteten, die Hökerfrauen und Ladenbesitzer, alle sahen Pierre mit heiteren, strahlenden Gesichtern an und schienen zu sagen: »Aha, da ist er! Wollen mal sehen, was daraus wird.«

Beim Eintritt in das Haus der Prinzessin Marja überkam ihn ein Zweifel, ob es auch wirklich richtig sei, daß er gestern hier gewesen sei und Natascha gesehen und mit ihr gesprochen habe. »Vielleicht habe ich mir das nur so ausgesonnen. Vielleicht komme ich herein und bekomme niemanden zu sehen.« Aber kaum war er ins Zimmer getreten, als er auch schon in seinem ganzen Wesen, an dem sofortigen Verlust seiner Freiheit, ihre Gegenwart empfand. Sie trug dasselbe schwarze Kleid mit weichen[353] Falten und dieselbe Frisur wie tags zuvor; aber doch war sie eine ganz andere. Hätte sie gestern, als er ins Zimmer trat, so ausgesehen, so hätte er sie auch nicht einen Augenblick verkennen können.

Sie sah ebenso aus, wie er sie gekannt hatte, als sie beinah noch ein Kind und dann die Braut des Fürsten Andrei war. Ein heiterer, fragender Glanz leuchtete aus ihren Augen; ihr Gesicht trug einen freundlichen und eigentümlich schelmischen Ausdruck.

Pierre speiste mit den Damen zu Mittag und hätte den ganzen Abend bei ihnen gesessen; aber Prinzessin Marja und Natascha fuhren zum Abendgottesdienst, und Pierre mit ihnen.

Am andern Tag kam Pierre schon früh, speiste wieder dort und blieb den ganzen Abend da. Obwohl Prinzessin Marja und Natascha über seinen Besuch augenscheinlich erfreut waren, und obwohl Pierres gesamtes Lebensinteresse sich jetzt auf dieses Haus konzentrierte, hatten sie doch gegen Abend alle Themata erschöpft, und das Gespräch ging fortwährend von einem nichtigen Gegenstand zu einem andern ebenso nichtigen über und stockte oft vollständig.

Pierre blieb an diesem Abend bis zu so später Stunde sitzen, daß Prinzessin Marja und Natascha einander Blicke zuwarfen und offenbar darauf warteten, ob er denn noch nicht bald gehen werde. Pierre sah das, war aber nicht imstande wegzugehen. Es war ihm peinlich, und er fühlte sich unbehaglich; aber doch saß und saß er, weil er schlechterdings nicht imstande war aufzustehen und wegzugehen.

Prinzessin Marja, die davon kein Ende absah, erhob sich zuerst, indem sie über Migräne klagte, und schickte sich an, gute Nacht zu sagen.

»Also Sie fahren morgen nach Petersburg?« fragte sie.

»Nein, ich fahre nicht«, erwiderte Pierre rasch im Ton der[354] Verwunderung und gewissermaßen, als ob er sich gekränkt fühlte. »Ja, nein, nach Petersburg? Ja, morgen; aber ich nehme noch nicht Abschied. Ich komme noch einmal heran, wenn Sie mir etwa Aufträge mitgeben wollen.« Er stand vor der Prinzessin Marja und war ganz rot geworden; aber er ging nicht weg.

Natascha reichte ihm die Hand und ging hinaus. Prinzessin Marja dagegen, statt zu gehen, ließ sich auf einen Sessel nieder und schaute mit ihrem leuchtenden, tiefen Blick Pierre ernst und prüfend an. Die Müdigkeit, die sie vorher so deutlich zum Ausdruck gebracht hatte, war jetzt vollständig verschwunden. Sie stieß einen schweren, langen Seufzer aus, als wenn sie sich auf ein langes Gespräch vorbereitete.

Alle Verlegenheit und Unbehaglichkeit Pierres war mit Nataschas Entfernung sofort vergangen und eine aufgeregte Lebhaftigkeit an deren Stelle getreten. Hurtig rückte er seinen Sessel nahe zu Prinzessin Marja heran.

»Ja, ich wollte gern mit Ihnen reden«, sagte er, als ob er auf ihren Blick wie auf Worte antwortete. »Prinzessin, helfen Sie mir. Was soll ich tun? Darf ich hoffen? Prinzessin, liebe Freundin, hören Sie mich an. Ich weiß alles. Ich weiß, daß ich ihrer nicht würdig bin; ich weiß, daß es jetzt unmöglich ist, ihr davon zu sprechen. Aber ich will ihr Bruder sein. Nein, das nicht, das will ich nicht sein, das kann ich nicht ...«

Er hielt inne und rieb sich mit den Händen Gesicht und Augen.

»Sehen Sie«, fuhr er fort und strengte sich offenbar gewaltsam an, zusammenhängend zu reden. »Ich weiß nicht, seit wann ich sie liebe. Aber ich habe nur sie, sie allein geliebt mein ganzes Leben lang und liebe sie so, daß ich mir ein Leben ohne sie nicht vorzustellen vermag. Sie jetzt um ihre Hand zu bitten, wage ich nicht; aber der Gedanke, daß sie vielleicht die meine werden könnte, und daß ich diese Möglichkeit ... Möglichkeit ... unbenutzt[355] lasse, dieser Gedanke ist schrecklich. Sagen Sie, kann ich hoffen? Sagen Sie, was soll ich tun? Liebe Prinzessin!« sagte er nach einer kurzen Pause, indem er ihre Hand berührte, da sie nicht antwortete.

»Ich denke über das, was Sie mir gesagt haben, nach«, antwortete Prinzessin Marja. »Und da möchte ich Ihnen dies sagen: Sie haben ganz recht, daß jetzt mit ihr von Liebe zu reden ...«

Die Prinzessin hielt inne. Sie hatte sagen wollen: »daß jetzt mit ihr von Liebe zu reden unmöglich ist«, aber sie hielt inne, weil sie seit zwei Tagen an der Veränderung, die plötzlich mit Natascha vorgegangen war, sah, daß Natascha sich ganz und gar nicht beleidigt fühlen würde, wenn Pierre zu ihr von seiner Liebe spräche, sondern vielmehr nichts sehnlicher wünschte.

»Jetzt mit ihr davon zu reden ... geht nicht an«, sagte Prinzessin Marja aber trotzdem.

»Aber was soll ich denn tun?«

»Legen Sie die Sache in meine Hände«, erwiderte Prinzessin Marja. »Ich weiß ...«

Pierre blickte ihr gespannt in die Augen.

»Nun? Nun?« sagte er.

»Ich weiß, daß sie Sie liebt ... Sie liebgewinnen wird«, verbesserte sie sich.

Kaum hatte sie diese Worte gesprochen, als Pierre aufsprang und in größter Aufregung ihre Hand ergriff.

»Woher meinen Sie das? Sie meinen, daß ich hoffen darf? Sie meinen?!«

»Ja, das meine ich«, erwiderte Prinzessin Marja lächelnd. »Schreiben Sie an die Eltern und legen Sie die Sache in meine Hände. Ich werde es ihr sagen, sobald es tunlich ist. Ich selbst wünsche es, und mein Herz sagt mir, daß es zum guten Ende kommen wird.«[356]

»Nein, es ist nicht möglich! Wie glücklich ich bin! Aber es ist nicht möglich ... Wie glücklich ich bin! Nein, es ist nicht möglich!« rief Pierre und küßte der Prinzessin Marja die Hände.

»Reisen Sie nur nach Petersburg; das ist das beste. Und ich werde Ihnen dann schreiben«, sagte sie.

»Nach Petersburg reisen? Ja, gut, ich werde hinreisen. Aber morgen darf ich doch noch zu Ihnen kommen?«

Am nächsten Tag erschien Pierre, um Abschied zu nehmen. Natascha war weniger lebhaft als an den vorhergehenden Tagen; aber an diesem Tag hatte Pierre, wenn er ihr manchmal in die Augen sah, eine Empfindung, als ob er selbst verschwinde und weder er noch sie mehr daseien, sondern nichts dasei als ein einziges Gefühl des Glücks. »Ist es denn wahr? Nein, es ist nicht möglich«, sagte er sich bei jedem Blick, jeder Bewegung, jedem Wort von ihr, die seine Seele mit Freude erfüllten.

Als er ihr Lebewohl sagte und ihre schmale, magere Hand ergriff, hielt er sie unwillkürlich etwas länger in der seinigen.

»Soll wirklich diese Hand, dieses Gesicht, diese Augen, dieser ganze mir noch fremde Schatz weiblicher Reize, soll das alles wirklich fürs ganze Leben mein sein, mein gewohntes Besitztum, ebenso wie ich selbst es für mich bin? Nein, es ist nicht möglich ...!«

»Leben Sie wohl, Graf«, sagte sie laut zu ihm. Und flüsternd fügte sie hinzu: »Ich werde Ihrer Rückkehr gern entgegensehen.«

Und diese einfachen Worte und der Blick und der Gesichtsausdruck, von denen sie begleitet waren, bildeten zwei Monate lang für Pierre den Gegenstand unerschöpflicher Erinnerungen, Ausdeutungen und Zukunftsträumereien. »›Ich werde Ihrer Rückkehr gern entgegensehen ...‹ Ja, ja, wie hat sie doch gesagt? ›Ich werde Ihrer Rückkehr gern entgegensehen.‹ Ach, was bin ich glücklich! Was ist das für ein Zustand! Was bin ich glücklich!« sagte Pierre zu sich selbst.

Quelle:
Tolstoj, Lev Nikolaevic: Krieg und Frieden. 4 Bde., Leipzig 1922, Band 4, S. 350-357.
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