XX

[357] In Pierres Seele ging jetzt nichts dem Ähnliches vor, was in ihr unter ganz ähnlichen Umständen bei seiner Bewerbung um Helene vorgegangen war.

Er wiederholte jetzt nicht wie damals mit einem schmerzlichen Gefühl der Beschämung in Gedanken die Worte, die er gesprochen hatte; er sagte nicht bei sich: »Ach, warum habe ich nicht lieber das gesagt, und warum, ja warum habe ich gesagt: ›Ich liebe Sie‹?« Jetzt dagegen wiederholte er sich in der Erinnerung jedes Wort, das sie und er gesagt hatten, und vergegenwärtigte sich dabei alle Einzelheiten des Gesichtsausdruckes und des Lächelns und wollte nichts hinzufügen oder davon abnehmen: er wollte es sich nur wiederholen. Von einem Zweifel, ob sein Vorhaben gut oder schlecht sei, war in seiner Seele jetzt auch nicht die leiseste Spur vorhanden. Nur ein furchtbarer Zweifel kam ihm mitunter in den Sinn: »Träume ich auch nicht etwa das alles nur? Hat sich Prinzessin Marja auch nicht geirrt? Bin ich auch nicht zu stolz und zu selbstgewiß? Ich glaube jetzt an einen guten Ausgang, und da wird nun auf einmal (wie das ja auch nach der Abrede geschehen soll) Prinzessin Marja mit ihr davon reden, und sie wird lächelnd antworten: ›Wie sonderbar! Er hat sich offenbar geirrt. Weiß er denn nicht, daß er nur ein Mensch, weiter nichts als ein Mensch ist, und ich? ... Ich bin ja etwas ganz anderes, Höheres.‹«

Das war der einzige Zweifel, der ihm häufig aufstieg. Auch Pläne machte er jetzt keine. Das bevorstehende Glück erschien ihm so unglaublich groß, daß, wenn dieses in Erfüllung ging, nichts mehr weiter kommen konnte. Dann war alles erreicht.

Eine fröhliche Verrücktheit, deren sich Pierre nicht für fähig gehalten hatte, war in überraschender Weise über ihn gekommen.[358] Es kam ihm vor, als liege der ganze Sinn und Zweck des Lebens nicht nur für ihn allein, sondern für die ganze Welt ausschließlich in seiner Liebe und in der Möglichkeit ihrer Gegenliebe. Manchmal kam es ihm vor, als interessierten sich alle Menschen nur für einen Gegenstand: für sein künftiges Glück. Manchmal kam es ihm vor, als freuten sich alle ebenso, wie er selbst, und gäben sich nur Mühe, diese Freude zu verbergen und sich zu stellen, wie wenn sie mit anderen Interessen beschäftigt wären. In jedem Wort und in jeder Bewegung sah er eine Anspielung auf sein Glück. Oft setzte er die Menschen, denen er begegnete, in Verwunderung durch seine bedeutsamen, auf ein geheimes Einverständnis hinweisenden, glücklichen Blicke und lächelnden Mienen. Wenn er aber dann einsah, daß die Menschen von seinem Glück ja nichts wissen konnten, so bedauerte er sie von ganzer Seele und empfand den Wunsch, ihnen irgendwie klarzumachen, daß alles das, womit sie sich abgäben, vollständiger Unsinn und lauter dummes Zeug sei, nicht wert, daß sich jemand darum kümmere.

Wenn ihn jemand dazu anregen wollte, ein Amt zu übernehmen, oder wenn die Leute irgendwelche allgemeinen Staatsangelegenheiten erörterten oder über den Gang des Krieges debattierten, wobei sie der Ansicht waren, daß von einem glücklichen oder unglücklichen Ausgang dieses geschichtlichen Ereignisses das Glück aller Menschen abhinge: dann hörte er mit einem milden, mitleidigen Lächeln zu und setzte die Leute, die mit ihm sprachen, durch seine seltsamen Bemerkungen in Erstaunen. Aber sowohl diejenigen, die ihm den wahren Sinn und Zweck des Lebens, d.h. sein Liebesgefühl, zu verstehen schienen, als auch jene Unglücklichen, die augenscheinlich kein Verständnis dafür hatten: alle Menschen standen während dieser Periode seines Lebens so hell durch das in ihm strahlende Gefühl beleuchtet vor ihm, daß er ohne die geringste Mühe sofort, wenn er mit irgend[359] jemand zusammenkam, an ihm alles wahrnahm, was er Gutes und Liebenswürdiges besaß.

Während er die finanziellen Angelegenheiten seiner verstorbenen Frau ordnete und ihre Papiere durchsah, empfand er für ihr Gedächtnis kein anderes Gefühl als das des Mitleids, weil sie das Glück nicht kennengelernt hatte, das er jetzt kannte. Fürst Wasili, der jetzt besonders stolz war, da er ein neues Amt und einen neuen Orden erhalten hatte, erschien ihm als ein rührender, gutherziger, bedauernswerter alter Mann.

Pierre erinnerte sich später oft an diese Zeit glückseliger Verrücktheit. An allen Urteilen, die er sich über Menschen und Dinge in dieser Periode gebildet hatte, hielt er nachher für immer fest. Nicht nur, daß er sich in der Folgezeit von diesen Anschauungen über Menschen und Dinge nicht lossagte; er griff sogar, wenn sich einmal in seinem Innern Zweifel und Widerspruch regte, vertrauensvoll auf die Anschauungen zurück, die er in dieser Zeit der Verrücktheit gehabt hatte, und diese Anschauungen erwiesen sich immer als die richtigen.

»Vielleicht«, dachte er, »machte ich damals den Eindruck eines sonderbaren, lächerlichen Menschen; aber ich war damals nicht so verrückt, wie ich zu sein schien. Im Gegenteil, ich war damals klüger und scharfsinniger als sonst je und verstand alles, was zu verstehen im Leben der Mühe wert ist, weil ... ja weil ich glücklich war.«

Pierres Verrücktheit bestand darin, daß er nicht wie früher auf persönliche Gründe wartete, um einzelne Menschen zu lieben, d.h. auf bestimmte gute Eigenschaften der Betreffenden, sondern ein Herz voll Liebe hatte und, indem er die Menschen ohne solche besonderen Gründe liebte, nun völlig ausreichende Gründe fand, um derentwillen sie geliebt zu werden verdienten.

Quelle:
Tolstoj, Lev Nikolaevic: Krieg und Frieden. 4 Bde., Leipzig 1922, Band 4, S. 357-360.
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