VI

[288] Der 5. November war der erste Tag der sogenannten Schlacht bei Krasnoje. Am Spätnachmittag, als schon (nach vielen[288] Streitigkeiten und Fehlern der Generale, die nicht an ihre Bestimmungsorte gelangt waren, und nachdem Adjutanten mit Gegenbefehlen hierhin und dorthin geschickt waren) klar geworden war, daß der Feind überall floh und eine Schlacht nicht stattfinden könne und nicht stattfinden werde, ritt Kutusow von Krasnoje nach Dobroje, wohin an diesem Tag das Hauptquartier verlegt war.

Es war ein heller Frosttag. Kutusow ritt mit einer großen Suite von Generalen, die mit ihm unzufrieden waren und hinter seinem Rücken zischelten, auf seinem wohlgenährten Schimmelchen nach Dobroje. Auf dem ganzen Weg drängten sich Gruppen von Franzosen, die an diesem Tag gefangengenommen waren, um die Wachfeuer, um sich zu wärmen; es waren ihrer an diesem Tag siebentausend eingebracht worden. Nicht weit von Dobroje stand am Weg neben einer langen Reihe französischer Geschütze ohne Bespannung ein gewaltiger Haufe Gefangener in lärmendem Gespräch, alle in abgerissener Kleidung und mit Verbänden und Vermummungen, die sie sich aus dem, was ihnen zur Hand gewesen war, hergestellt hatten. Bei der Annäherung des Oberkommandierenden verstummte das Gespräch, und alle Augen richteten sich auf Kutusow, der in seiner weißen Mütze mit rotem Besatz und in seinem wattierten Mantel, der über seinen gewölbten Schultern einen großen Buckel bildete, langsam auf dem Weg hinritt. Einer der Generale berichtete ihm, wo die Geschütze erbeutet und die französischen Soldaten gefangengenommen seien.

Kutusow schien von ernsten Gedanken in Anspruch genommen zu sein und hörte nicht auf das, was der General sagte. Unzufrieden kniff er die Augen zusammen und betrachtete aufmerksam und unverwandt die Gestalten der Gefangenen, die einen besonders kläglichen Anblick boten. Großenteils waren die französischen[289] Soldaten durch erfrorene Nasen und Backen entstellt; fast alle hatten rote, geschwollene, eiternde Augen.

Ein Häufchen Franzosen stand dicht an der Landstraße, und zwei von ihnen (das Gesicht des einen war ganz mit Beulen und Schorfkrusten bedeckt) zerrissen mit den Händen ein Stück rohes Fleisch. Es lag etwas Schreckliches, Tierisches in dem huschenden Blick, den sie nach den Vorbeireitenden hinwarfen, und in dem grimmigen Ausdruck, mit dem der Soldat mit den Schorfkrusten Kutusow ansah; aber er wandte sich sofort wieder ab und setzte seine Tätigkeit fort.

Kutusow sah diese beiden französischen Soldaten lange aufmerksam an; er runzelte die Stirn, kniff die Augen noch mehr zusammen und wiegte nachdenklich den Kopf hin und her. An einer andern Stelle bemerkte er einen russischen Soldaten, der lachend einem Franzosen auf die Schulter klopfte und freundlich zu ihm redete. Kutusow wiegte wieder mit demselben Ausdruck den Kopf.

»Was sagst du?« fragte er den General, der immer noch in seiner Meldung fortfuhr und die Aufmerksamkeit des Oberkommandierenden auf die erbeuteten französischen Feldzeichen lenken wollte, die vor der Front des Preobraschenski-Regimentes standen.

»Ah, die Feldzeichen!« sagte Kutusow, der sich augenscheinlich nur mit Mühe von dem Gegenstand losriß, der seine Gedanken beschäftigte.

Zerstreut blickte er um sich. Tausende von Augen schauten von allen Seiten auf ihn hin; alles war gespannt, was er nun sagen werde.

Vor dem Preobraschenski-Regiment hielt er an, stieß einen schweren Seufzer aus und schloß die Augen. Einer der Herren aus der Suite gab den Soldaten, die die Feldzeichen hielten,[290] einen Wink, sie möchten nähertreten und die Feldzeichen mit den Schäften rings um den Oberkommandierenden aufstellen. Kutusow schwieg einige Sekunden; dann fügte er sich offenbar ungern dem Zwang, den ihm seine Stellung auferlegte, hob den Kopf in die Höhe und begann zu reden. Scharen von Offizieren umringten ihn. Er ließ einen aufmerksamen Blick über den Kreis der Offiziere hingleiten, von denen er eine Anzahl erkannte.

»Ich danke euch allen!« sagte er, sich zu den Soldaten und dann wieder zu den Offizieren wendend. In der Stille, die um ihn herum herrschte, waren seine langsam gesprochenen Worte deutlich zu hören. »Ich danke euch allen für eure schweren, treuen Dienste. Der Sieg ist ein vollständiger, und Rußland wird euch nicht vergessen. Ihr habt euch ewigen Ruhm erworben!«

Er schwieg eine Weile und blickte um sich.

»Beuge, beuge ihm den Kopf«, sagte er zu einem Soldaten, der einen französischen Adler hielt und ihn zufällig vor der Fahne der Preobraschenzen senkte. »Tiefer, tiefer, jawohl, so! Hurra, Kinder!« rief er, zu den Soldaten gewendet, mit einer schnellen Bewegung des Kinnes.

»Hurra-ra-ra!« brüllten Tausende von Stimmen.

Während die Soldaten schrien, krümmte sich Kutusow auf dem Sattel zusammen, beugte den Kopf herunter, und sein einziges Auge leuchtete in einem milden, anscheinend etwas spöttischen Glanz.

»Ich will euch was sagen, Brüder«, begann er von neuem, als das Geschrei verstummt war.

Seine Stimme und seine Miene hatten sich plötzlich verändert: jetzt sprach nicht mehr der Oberkommandierende, sondern es redete ein schlichter, alter Mann, der jetzt seinen Kameraden offenbar etwas sehr Notwendiges mitzuteilen wünschte.[291]

In der Schar der Offiziere und in den Reihen der Soldaten ging eine Bewegung vor, um deutlicher zu hören, was er jetzt sagen werde.

»Ich will euch was sagen, Brüder. Ich weiß, ihr habt es jetzt schwer; aber was ist zu machen! Habt nur Geduld; es dauert ja nicht mehr lange. Wenn wir unsere Gäste werden hinausbegleitet haben, dann können wir uns erholen. Der Zar wird euch eure Dienste nicht vergessen. Ihr habt es schwer; aber ihr seid doch wenigstens in der Heimat; diese jedoch ... seht, wie weit es mit ihnen gekommen ist!« sagte er, auf die Gefangenen weisend. »Sie sind elender als die elendesten Bettler! Solange sie stark und mächtig waren, haben wir alle Kraft darangesetzt, um sie zu besiegen; aber jetzt können wir mit ihnen Mitleid haben und sie schonen. Sie sind ja doch auch Menschen. Nicht wahr, Kinder?«

Er schaute rings um sich, und als er in allen Blicken, die unverwandt mit respektvoller Verwunderung auf ihn gerichtet waren, Zustimmung zu seinen Worten las, da leuchtete auf dem Gesicht des alten Mannes immer heller und heller ein mildes Lächeln auf, bei dem sich sternförmige Runzeln um die Mundwinkel und um die Augen bildeten. Er schwieg ein Weilchen und senkte den Kopf, wie wenn er unentschlossen wäre, ob er noch mehr sagen solle. Plötzlich fügte er, den Kopf in die Höhe hebend, hinzu:

»Aber auch das möchte ich noch sagen: wer hat sie geheißen zu uns kommen? Es geschieht ihnen ganz recht; jagt sie ...« Hier am Schluß bediente er sich einer recht unanständigen, volkstümlichen Redewendung.

Und die Peitsche schwingend, sprengte er im Galopp, zum erstenmal im ganzen Feldzug, fort von den fröhlich lachenden, Hurra! rufenden Soldaten, die nun ihre Reihen auflösten.[292]

Die Worte, die Kutusow gesprochen hatte, waren von den Truppen kaum verstanden worden. Es wäre wohl niemand imstande gewesen, den Inhalt der zuerst feierlichen und gegen den Schluß gutmütig altväterischen Ansprache des Feldmarschalls wiederzugeben; aber es war nicht nur der herzliche Sinn dieser Ansprache verstanden worden, sondern dasselbe Gefühl erhabener Feierlichkeit im Verein mit einer mitleidigen Gesinnung gegen die Feinde und dem Bewußtsein, sich im Recht zu befinden, dasselbe Gefühl, das in dem altväterischen, gutmütigen Schimpfwort, und zwar gerade in diesem, seinen Ausdruck gefunden hatte, dieses selbe Gefühl lag auch in der Seele eines jeden Soldaten und äußerte sich durch ein Freudengeschrei, das lange nicht verstummen wollte. Als dann einer der Generale sich an den Oberkommandierenden mit der Frage wandte, ob er den Wagen befehle, brach Kutusow, im Begriff zu antworten, unerwartet in Schluchzen aus: er befand sich offenbar in starker Erregung.

Quelle:
Tolstoj, Lev Nikolaevic: Krieg und Frieden. 4 Bde., Leipzig 1922, Band 4, S. 288-293.
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