VII

[293] Am 8. November, dem letzten Tag der Kämpfe bei Krasnoje, brach schon das Abenddunkel herein, als die Truppen an den Ort kamen, wo sie übernachten sollten. Der ganze Tag war still und kalt gewesen, mit leichtem Schneefall; zum Abend klärte es sich nun auf. Durch die Schneeflöckchen hindurch wurde der blauschwarze Sternenhimmel sichtbar, und die Kälte nahm zu.

Ein Musketierregiment, das in einer Stärke von dreitausend Mann aus Tarutino ausmarschiert war, kam jetzt, nur noch neunhundert Mann stark, als eines der ersten an dem für das Nachtlager in Aussicht genommenen Ort an, in einem Dorf an der großen Heerstraße. Die Quartiermeister, die das Regiment empfingen,[293] erklärten, alle Bauernhäuser seien voll von kranken und toten Franzosen, von Kavalleristen und hohen Offizieren. Nur ein einziges Häuschen sei für den Regimentskommandeur vorhanden.

Der Regimentskommandeur ritt zu seinem Quartier hin. Das Regiment zog durch das Dorf hindurch und stellte bei den äußersten Häusern an der Heerstraße die Gewehre zusammen.

Wie ein großes Ameisenvolk machte sich das Regiment an die Arbeit, das Nachtlager und die Abendmahlzeit herzurichten. Ein Teil der Soldaten zerstreute sich, bis an die Knie im Schnee, in einem rechts vom Dorf gelegenen Birkenwald, und sogleich erscholl im Wald der Klang der Beile und Seitengewehre, das Krachen zerbrochener Äste und fröhliche Stimmen. Ein anderer Teil war rings um den Mittelpunkt des Biwaks, den die Fuhrwerke des Regiments und die in einem Haufen zusammenstehenden Pferde bildeten, eifrig damit beschäftigt, die Kessel und den Zwieback hervorzuholen und den Pferden Futter zu geben. Ein dritter Teil hatte sich im Dorf verteilt, richtete Quartiere für die höheren Offiziere ein, trug die in den Häusern liegenden Leichen von Franzosen hinaus und schleppte Bretter, trockenes Holz und Dachstroh weg, um Wachfeuer anzuzünden, und Flechtwerk von Zäunen, um daraus Schutzwände herzustellen.

Etwa fünfzehn Soldaten rüttelten am Rand des Dorfes, außerhalb des Bereiches der Häuser, mit fröhlichem Geschrei an der hohen geflochtenen Wand einer Scheune, von der bereits das Dach abgenommen war.

»Na nun, jetzt, alle mit einemmal, legt euch dagegen!« riefen mehrere Stimmen, und in der Dunkelheit der Nacht schwankte die große, mit Schnee bestäubte, geflochtene Wand mit frostigem Knistern hin und her. Immer häufiger knackten die unteren Pfosten, und endlich stürzte die Wand mitsamt den Soldaten,[294] die sich dagegengestemmt hatten, zu Boden. Es erscholl ein lautes, derb fröhliches Schreien und Lachen.

»Nun zu zweien anfassen! Reicht mal einen Hebebaum her! So ist's recht! Wo willst du denn da hin?«

»Nun also, alle zusammen ... Wartet mal, Kinder ...! Mit Gesang.«

Alle schwiegen, und eine mäßig starke, samtartige, angenehme Stimme stimmte ein Lied an. Am Ende der dritten Strophe, gleichzeitig mit dem Ausklingen des letzten Tones, schrien zwanzig Stimmen zusammen: »Uuuu! Sie rührt sich! Alle zusammen! Immer kräftig zufassen, Kinder ...!« Aber trotz der gemeinsamen Anstrengungen bewegte sich die Wand nur wenig vom Fleck, und in dem Stillschweigen, das nun eintrat, hörte man schweres Keuchen.

»Heda, ihr von der sechsten Kompanie! Ihr Kerle! Ihr Racker! Helft uns mal ... Wir tun euch auch schon mal wieder einen Gefallen.«

Etwa zwanzig Mann von der sechsten Kompanie, die gerade in das Dorf gingen, vereinigten sich mit denen, die die Wand fortzuschleppen suchten; und die zehn Meter lange und zwei Meter breite Wand bewegte sich, indem sie sich krumm zog und den keuchenden Soldaten die Schultern zerdrückte und zerschnitt, auf der Dorfstraße vorwärts.

»So geh doch zu, vorwärts ...! Fällt der Kerl hin, na so was ...! Was bleibst du denn stehen, du ...«

Lustige, derbe Schimpfworte erschollen unaufhörlich.

»Was fällt euch denn ein?« rief auf einmal jemand, der auf die Träger zugelaufen kam, im Ton des Vorgesetzten. »Dadrin sind die Herren, der General selbst ist im Haus, und ihr verfluchten Kerle macht hier mit euren Schimpfereien solchen Spektakel. Na wartet, ich will euch lehren!« schrie der Feldwebel, und[295] ausholend versetzte er dem erstbesten Soldaten, den er vor sich hatte, einen Schlag in den Rücken. »Könnt ihr euch denn nicht ruhig verhalten?«

Die Soldaten verstummten. Der Soldat, den der Feldwebel geschlagen hatte, wischte sich hustend das Gesicht, das bei dem Stoß gegen die geflochtene Wand ganz blutig geworden war.

»Na, dieser Satan, gleich so zu hauen! Die ganze Fresse hat er mir blutig gemacht«, sagte der Soldat schüchtern, als der Feldwebel weggegangen war.

»Das schmeckt dir wohl nicht?« spöttelte ein andrer, und ihre Stimmen dämpfend, gingen die Soldaten weiter.

Sobald sie aus dem Dorf hinaus waren, redeten sie wieder ebenso laut wie vorher und spickten ihre Gespräche wieder mit denselben zwecklosen Schimpfworten.

In dem Bauernhaus, an dem die Soldaten vorbeigekommen waren, hatten sich die höheren Offiziere versammelt, und es war beim Tee ein lebhaftes Gespräch über den vergangenen Tag und über die für den nächsten Tag in Aussicht genommenen Manöver im Gange. Es bestand die Absicht, einen Flankenmarsch nach links zu machen, den Vizekönig abzuschneiden und gefangenzunehmen.

Als die Soldaten die Wand nach ihrem Lagerplatz hingeschleppt hatten, brannten schon auf verschiedenen Seiten die Kochfeuer. Das Holz knisterte, der Schnee schmolz, und die dunklen Schatten der Soldaten huschten in dem ganzen Raum, den das Biwak einnahm, auf dem niedergetretenen Schnee hierhin und dorthin.

Beile und Seitengewehre waren überall an der Arbeit. Alles geschah ohne jeden Befehl. Es wurde Holz als Vorrat für die Nacht herangeschleppt; Reisighütten wurden für die Offiziere[296] gebaut; in den Kesseln kochte das Abendessen; Gewehre und Munition wurden in Ordnung gebracht.

Die geflochtene Wand, die die achte Kompanie herangeschleppt hatte, wurde auf der Nordseite halbkreisförmig aufgestellt und mit Stangen gestützt; vor ihr wurde ein Feuer angezündet. Der Zapfenstreich erklang, die Soldaten wurden durchgezählt, aßen zu Abend und lagerten sich zur Nachtruhe um ihre Feuer. Manche besserten ihr Schuhzeug aus, andere rauchten ihre Pfeife, wieder andere entkleideten sich vollständig und brühten sich die Läuse aus.

Quelle:
Tolstoj, Lev Nikolaevic: Krieg und Frieden. 4 Bde., Leipzig 1922, Band 4, S. 293-297.
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