XIII

[85] In der Schenke, vor der der Reisewagen des Arztes stand, befanden sich schon fünf Offiziere. Marja Henrichowna, eine üppige, blonde Deutsche, saß, in Jacke und Nachthaube, in der vorderen Ecke auf einer breiten Bank. Hinter ihr auf der Bank schlief ihr Mann, der Doktor. Rostow und Iljin wurden, als sie ins Zimmer traten, mit freudigen Zurufen und munterem Gelächter begrüßt.

»Ei seht mal an! Bei euch scheint es ja fidel herzugehen!« sagte Rostow lachend.

»Na, warum zieht ihr es denn vor, zu gähnen ...? Aber nett[85] seht ihr aus; ihr trieft ja nur so! Macht uns unsern Salon nicht naß ...! Macht Marja Henrichownas Kleid nicht schmutzig!« antworteten die Anwesenden.

Rostow und Iljin beeilten sich, ein Winkelchen zu finden, wo sie, ohne Marja Henrichownas Schamgefühl zu verletzen, ihre nassen Kleider wechseln könnten. Sie wollten hinter den Verschlag gehen, um sich umzukleiden; aber in dem dort befindlichen kleinen Kämmerchen saßen drei Offiziere, die es vollständig ausfüllten; sie hatten ein Licht auf eine leere Kiste gestellt, spielten Karten und wollten um keinen Preis vom Platz weichen. Marja Henrichowna gab für ein Weilchen ihren Unterrock her, um als Vorhang zu dienen, und hinter diesem Vorhang zogen sich Rostow und Iljin mit Hilfe Lawrentis, der ein Pack Kleider und Wäsche gebracht hatte, die nassen Sachen aus und trockene an.

In dem zerbrochenen Ofen wurde Feuer angezündet. Ein Brett wurde geholt, über zwei Sättel gelegt und mit einer Pferdedecke bedeckt; dann wurde ein kleiner Samowar beschafft, ein Reisekästchen mit Tee, Zucker und einer halben Flasche Rum kam zum Vorschein, und nun bat man Marja Henrichowna, die Wirtin zu machen, und alle drängten sich um sie herum. Der eine bot ihr ein reines Taschentuch an, damit sie sich die reizenden Händchen abtrocknen könne; ein andrer legte ihr seinen Dolman unter die Füßchen, damit sie ihr nicht feucht würden; ein andrer verhängte das Fenster mit einem Mantel, damit es nicht ziehe; ein andrer scheuchte die Fliegen von dem Gesicht des Doktors weg, damit er nicht aufwache.

»Lassen Sie ihn doch«, sagte Marja Henrichowna mit einem schüchternen, glückseligen Lächeln. »Er schläft auch so schon gut nach einer schlaflosen Nacht.«

»Nein, Marja Henrichowna«, antwortete der Offizier. »Man muß dem Doktor kleine Dienste erweisen; dann behandelt er[86] unsereinen vielleicht auch rücksichtsvoll, wenn er einem einmal ein Bein oder einen Arm abschneidet.«

Gläser waren nur drei vorhanden; das Wasser war so schmutzig, daß sich nicht erkennen ließ, ob der Tee stark oder schwach sei, und der Samowar faßte Wasser nur für sechs Gläser. Aber um so angenehmer war es, der Reihe und dem Rang nach sein Glas aus Marja Henrichownas weichen Händchen mit den kurzen, nicht ganz sauberen Nägeln zu empfangen. Alle Offiziere schienen an diesem Abend in Marja Henrichowna verliebt zu sein, oder vielmehr sie waren es wirklich. Sogar diejenigen Offiziere, die in dem Nebenraum Karten spielten, brachen sehr bald ihr Spiel ab, kamen zum Samowar herüber und machten, in den allgemeinen Ton einstimmend, gleichfalls der Doktorenfrau den Hof. Marja Henrichowna, die sich von so vielen vornehmen, höflichen jungen Männern umgeben sah, strahlte vor Glück, wie sehr sie es auch zu verbergen suchte, und obgleich sie jedesmal, wenn sich ihr Mann hinter ihr im Schlaf bewegte, sichtlich verlegen wurde.

Löffel gab es nur einen einzigen; Zucker war reichlich vorhanden; aber es dauerte zu lange, wenn jeder sein Glas umrührte, und deshalb wurde festgesetzt, Marja Henrichowna solle der Reihe nach jedem den Zucker umrühren. Als Rostow sein Glas erhalten und sich Rum hineingegossen hatte, bat er Marja Henrichowna, es umzurühren.

»Aber Sie haben ja gar keinen Zucker darin?« sagte sie. Sie lächelte fortwährend, als ob alles, was sie sagte, und alles, was die andern sagten, sehr komisch wäre und noch irgendeinen Nebensinn hätte.

»An Zucker liegt mir nichts; ich möchte nur, daß Sie mit Ihrem Händchen umrühren.«

Marja Henrichowna willigte ein und suchte den Löffel, dessen sich schon wieder jemand bemächtigt hatte.[87]

»Rühren Sie doch mit Ihrem Fingerchen um, Marja Henrichowna«, sagte Rostow. »Das ist mir noch lieber.«

»Es ist zu heiß!« erwiderte Marja Henrichowna, die vor Vergnügen ganz rot geworden war.

Iljin nahm einen Eimer mit Wasser, goß ein paar Tropfen Rum hinein und brachte ihn zu Marja Henrichowna mit der Bitte, sie möchte mit dem Fingerchen umrühren.

»Dies ist meine Tasse«, sagte er. »Stecken Sie nur Ihr Fingerchen hinein, dann werde ich alles austrinken.«

Als der Samowar leer war, ergriff Rostow die Karten und machte den Vorschlag, sie wollten mit Marja Henrichowna »König und Bettelmann« spielen. Es wurde gelost, wer zu Marja Henrichownas Partei gehören sollte. Als Regel wurde auf Rostows Vorschlag festgesetzt: wer König werde, solle das Recht haben, Marja Henrichowna das Händchen zu küssen; wer dagegen als Bettelmann zurückbleibe, müsse einen neuen Samowar für den Doktor zurechtmachen, sobald dieser aufwache.

»Aber wenn nun Marja Henrichowna König wird?« fragte Iljin.

»Sie ist auch so schon immer Königin! Und ihre Befehle sind Gesetz.«

Kaum hatte das Spiel begonnen, als sich hinter Marja Henrichowna auf einmal der strubblige Kopf des Doktors erhob. Er hatte schon seit einer ganzen Weile nicht mehr geschlafen, sondern dem Gespräch zugehört, aber offenbar nichts Lustiges, Komisches oder Amüsantes an allem, was da gesagt und getan wurde, gefunden. Seine Miene sah trüb und bedrückt aus. Er begrüßte die Offiziere nicht, kratzte sich den Kopf und bat sie, ihn durchzulassen, da sie ihm den Weg versperrten. Sowie er das Zimmer verlassen hatte, brachen die Offiziere sämtlich in ein lautes Gelächter aus; Marja Henrichowna aber errötete so tief, daß ihr die[88] Tränen in die Augen kamen, wodurch sie allen Offizieren nur noch reizender erschien. Als der Doktor von draußen wieder hereinkam, sagte er zu seiner Frau, die nun nicht mehr so glückselig lächelte und ihn ängstlich anblickte, wie wenn sie ihr Urteil von ihm erwartete, der Regen habe aufgehört und sie müßten sich nun im Reisewagen hinlegen, sonst würde ihnen alles gestohlen.

»Ich werde einen Posten danebenstellen ... zwei Posten!« rief Rostow. »Seien Sie unbesorgt, Doktor!«

»Ich werde selbst Wache stehen!« fügte Iljin hinzu.

»Nein, meine Herren, Sie haben sich ausgeschlafen; ich aber habe zwei Nächte kein Auge zugetan«, erwiderte der Doktor und setzte sich mit finsterer Miene neben seine Frau, um zu warten, bis das Spiel zu Ende wäre.

Als die Offiziere sahen, was der Arzt für ein finsteres Gesicht machte, und wie er immer nach seiner Frau hinschielte, wurden sie noch vergnügter, und viele konnten das Lachen nicht unterdrücken, für das sie dann schnell einen glaubhaften Vorwand zu finden suchten. Nachdem der Doktor mit seiner Frau weggegangen und mit ihr in den Reisewagen gestiegen war, legten sich die Offiziere in der Schenke auf den Fußboden und deckten sich mit ihren nassen Mänteln zu; aber sie lagen lange wach da: bald unterhielten sie sich darüber, wie sich der Doktor geärgert habe und wie lustig die Doktorenfrau gewesen sei, bald lief einer hinaus vor die Haustür und meldete zurück, was in dem Reisewagen vorgehe. Mehrmals wickelte Rostow sich den Kopf ein und versuchte einzuschlafen; aber immer wieder mußte er auf eine Bemerkung hinhören, die irgend jemand machte, das Gespräch begann von neuem, und sie lachten wieder wie die Kin der, lustig und ohne Anlaß.

Quelle:
Tolstoj, Lev Nikolaevic: Krieg und Frieden. 4 Bde., Leipzig 1922, Band 3, S. 85-89.
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