XIV

[89] Um drei Uhr hatte noch niemand geschlafen, als ein Wachtmeister mit der Order erschien, nach dem Städtchen Ostrowno abzumarschieren.

In derselben Art weiterredend und weiterlachend, begannen die Offiziere sich eilig zurechtzumachen; der Samowar wurde wieder mit schmutzigem Wasser gefüllt und angezündet. Aber Rostow ging, ohne den Tee abzuwarten, zu seiner Eskadron. Es wurde schon hell; der Regen hatte aufgehört, die Wolken hatten sich zerteilt. Es war feucht und kalt, namentlich in den noch nicht ordentlich trocken gewordenen Kleidern. Als Rostow und Iljin in der Dämmerung aus der Schenke heraustraten, warfen sie beide einen Blick in den Reisewagen, dessen Lederverdeck vom Regen glänzte. Unter dem Vorderleder ragten die Füße des Arztes hervor, und in der Mitte des Wagens schimmerte auf einem Kissen das Häubchen der Doktorenfrau; man hörte die Atemzüge der beiden Schlafenden.

»Sie ist wirklich allerliebst!« sagte Rostow zu Iljin, der ihn begleitete.

»Ein ganz entzückendes Weib!« stimmte ihm Iljin mit dem Ernst des Sechzehnjährigen bei.

Eine halbe Stunde darauf stand die Eskadron auf der Landstraße marschbereit. Es erscholl das Kommando: »Aufsitzen!« Die Soldaten bekreuzten sich und schwangen sich auf die Pferde. Rostow, der sich an die Spitze gesetzt hatte, kommandierte: »Marsch!«, und in einem langausgedehnten Zug von vier Mann Breite setzten sich die Husaren in Bewegung; unter lautem Platschen der Hufe auf dem nassen Boden, säbelklirrend und unter leisen Gesprächen zogen sie auf der breiten, mit Birken eingefaßten Landstraße hinter der voranmarschierenden Infanterie und Artillerie dahin.[90]

Die zerrissenen blauvioletten Wolken, die sich beim Aufgang der Sonne rötlich färbten, wurden vom Wind schnell dahingetrieben. Es wurde immer heller und heller. Schon war das krause Krautwerk, das immer die Landstraßen einsäumt, deutlich zu sehen, noch feucht von dem gestrigen Regen; die herunterhängenden, ebenfalls nassen Zweige der Birken schaukelten im Wind hin und her und ließen glänzende Tropfen schräg herunterfallen. Immer deutlicher waren die Gesichter der Soldaten zu erkennen. Rostow ritt mit Iljin, der sich immer neben ihm hielt, an der Seite der Landstraße, zwischen zwei Reihen von Birken.

Während des Feldzuges nahm sich Rostow die Freiheit, statt eines gewöhnlichen Dienstpferdes ein Kosakenpferd zu reiten. Als Kenner und Liebhaber hatte er sich unlängst ein kräftiges, gutes, donisches Pferd angeschafft, fuchsfarben mit weißlicher Mähne und weißlichem Schwanz, ein so schnelles Tier, daß er auf ihm von niemandem überholt wurde. Auf diesem Pferd zu reiten war für Rostow ein wahrer Genuß. Er dachte an das Pferd, an den schönen Morgen, an die Doktorenfrau, aber nicht ein einziges Mal an die bevorstehende Gefahr.

Früher hatte sich Rostow, wenn es in den Kampf ging, gefürchtet; aber jetzt empfand er nicht die geringste Spur von Ängstlichkeit mehr. Daß er sich nicht mehr fürchtete, kam nicht etwa daher, daß er sich an das Feuer gewöhnt hätte (an die Gefahr kann man sich nicht gewöhnen), sondern daher, daß er gelernt hatte, seine Gedanken von der Gefahr abzulenken. Er hatte sich gewöhnt, wenn es in den Kampf ging, an alles mögliche zu denken, nur nicht an das, was anscheinend größeres Interesse erregte als alles andere: an die bevorstehende Gefahr. In der ersten Zeit seines Dienstes hatte er, wie sehr er sich auch Mühe gab und wie energisch er sich auch wegen seiner Feigheit ausschalt, dies nicht erreichen können; aber jetzt hatte sich das mit[91] den Jahren ganz von selbst gemacht. Er ritt jetzt neben Iljin zwischen den Birken dahin, riß zuweilen Blätter von den Zweigen, die ihm unter die Hände kamen, berührte mitunter die Weichen seines Pferdes mit dem Fuß und reichte, ohne sich umzuwenden, die ausgerauchte Pfeife dem hinter ihm reitenden Husaren hin – alles mit so ruhiger, sorgloser Miene, als ob er spazierenritte. Es war ihm ein Schmerz, in das aufgeregte Gesicht Iljins zu blicken, der viel und unruhig redete; er kannte aus Erfahrung jenen qualvollen Zustand der Erwartung und Todesfurcht, indem sich der Kornett befand, und wußte, daß nichts als die Zeit ihm helfen konnte.

Kaum begann die Sonne hinter einer Wolke hervorzukommen und auf einen reinen Streifen des Himmels zu treten, als sich der Wind legte, wie wenn er sich nicht erdreistete, diesen Sommermorgen, der nach dem Gewitter so wunderschön geworden war, zu verderben; es fielen noch Tropfen von den Bäumen, aber jetzt senkrecht – und nun wurde alles still. Die Sonne war jetzt ganz herausgetreten und am Horizont vollständig sichtbar, verschwand dann aber von neuem in einer schmalen, langen Wolke, die über ihr stand. Einige Minuten darauf erschien die Sonne noch glänzender am oberen Rand der Wolke, den sie zerriß. Alles fing an zu glänzen und zu leuchten. Und gleichzeitig mit dem Aufstrahlen dieses Lichtes, wie zur Antwort darauf, ertönten aus der Richtung, nach der sie ritten, mehrere Kanonenschüsse.

Rostow hatte noch nicht Zeit gehabt, zu überlegen und sich ein Urteil darüber zu bilden, wie weit diese Schüsse wohl entfernt sein mochten, als von Witebsk her ein Adjutant des Grafen Ostermann-Tolstoi herbeigesprengt kam mit dem Befehl, im Trab auf der Straße weiter vorzugehen.

Die Eskadron überholte die Infanterie und die Artillerie, die[92] gleichfalls ihr Tempo beschleunigten, ritt bergab und nach Passierung eines leeren, von den Einwohnern verlassenen Dorfes wieder bergauf. Die Pferde begannen sich mit Schaum zu bedecken, die Soldaten bekamen rote Gesichter.

»Halt, richt't euch!« erscholl weiter vorn das Kommando des Divisionsgenerals. »Rechte Schulter vor, im Schritt marsch!« wurde dann vorn kommandiert.

Die Husaren ritten an der Linie unserer Truppen entlang auf den linken Flügel unserer Stellung und machten dort hinter unseren Ulanen halt, die in der ersten Linie standen. Rechts stand russische Infanterie in dichter Kolonne; dies war die Reserve. Über ihr auf einer Anhöhe waren in der vollkommen reinen Luft und der schrägen, hellen Morgenbeleuchtung unmittelbar gegen den Himmel unsere Kanonen sichtbar. Nach vorn zu, jenseits eines Tales, erblickte man feindliche Kolonnen und Kanonen. Im Talgrund war unsere Vorpostenkette zu hören, die bereits in den Kampf eingetreten war und ein lustiges Geknatter mit dem Feind unterhielt.

Diese seit langer Zeit nicht mehr gehörten Klänge riefen bei Rostow wie die heiterste Musik eine fröhliche Stimmung hervor. »Trapp-ta-ta-tapp!« knatterten bald gleichzeitig, bald schnell nacheinander mehrere Schüsse. Dann wurde wieder alles still, und dann war es von neuem, als explodierten Knallerbsen, über die jemand hinginge.

Die Husaren hielten ungefähr eine Stunde auf einem Fleck. Auch eine Kanonade hatte begonnen. Graf Ostermann mit seiner Suite kam hinter der Eskadron vorbeigeritten; er hielt an und sprach einige Worte mit dem Regimentskommandeur und sprengte dann weiter zu den Kanonen auf der Anhöhe.

Gleich nachdem Ostermann weggeritten war, erscholl bei den Ulanen das Kommando: »In Kolonne, zur Attacke – fertig!«[93] Die Infanterie vor ihnen verdoppelte die Tiefe ihrer Abteilungen, um die Kavallerie hindurchzulassen. Mit flatternden Lanzenfähnchen setzten sich die Ulanen in Bewegung und ritten im Trab bergab auf die französische Kavallerie los, die sich links am Fuß der Anhöhe zeigte.

Sobald die Ulanen die Anhöhe hinuntergeritten waren, erhielten die Husaren Befehl, sich hinaufzubegeben, um der Batterie als Deckung zu dienen. Während sie an die Stelle der Ulanen rückten, kamen zischend und pfeifend aus der feindlichen Vorpostenkette Kugeln herübergeflogen, die aber bei der weiten Entfernung nicht trafen.

Dieser gleichfalls seit langer Zeit nicht mehr gehörte Ton wirkte auf Rostow noch freudiger und aufmunternder als die vorher vernommenen Töne der Schüsse. Sich im Sattel aufrichtend, betrachtete er das Schlachtfeld, das von der Anhöhe her frei sichtbar dalag, und nahm mit ganzer Seele an den Bewegungen der Ulanen teil. Die Ulanen jagten dicht an die französischen Dragoner heran; dann entstand dort im Pulverrauch ein Wirrwarr, und nach fünf Minuten sprengten die Ulanen zurück, nicht nach der Stelle hin, wo sie vorher gestanden hatten, sondern mehr nach links. Zwischen den orangefarbenen, auf Füchsen reitenden Ulanen und hinter ihnen waren blaue französische Dragoner auf grauen Pferden in großer Menge sichtbar.

Quelle:
Tolstoj, Lev Nikolaevic: Krieg und Frieden. 4 Bde., Leipzig 1922, Band 3, S. 89-94.
Lizenz:
Kategorien:

Buchempfehlung

Weiße, Christian Felix

Atreus und Thyest. Ein Trauerspiel in fünf Aufzügen

Atreus und Thyest. Ein Trauerspiel in fünf Aufzügen

Die Brüder Atreus und Thyest töten ihren Halbbruder Chrysippos und lassen im Streit um den Thron von Mykene keine Intrige aus. Weißes Trauerspiel aus der griechischen Mythologie ist 1765 neben der Tragödie »Die Befreiung von Theben« das erste deutschsprachige Drama in fünfhebigen Jamben.

74 Seiten, 4.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Geschichten aus dem Sturm und Drang. Sechs Erzählungen

Geschichten aus dem Sturm und Drang. Sechs Erzählungen

Zwischen 1765 und 1785 geht ein Ruck durch die deutsche Literatur. Sehr junge Autoren lehnen sich auf gegen den belehrenden Charakter der - die damalige Geisteskultur beherrschenden - Aufklärung. Mit Fantasie und Gemütskraft stürmen und drängen sie gegen die Moralvorstellungen des Feudalsystems, setzen Gefühl vor Verstand und fordern die Selbstständigkeit des Originalgenies. Michael Holzinger hat sechs eindrucksvolle Erzählungen von wütenden, jungen Männern des 18. Jahrhunderts ausgewählt.

468 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon