[20] In der Nacht vom 13. zum 14. Juni um zwei Uhr ließ der Kaiser Balaschow zu sich kommen, las ihm seinen Brief an Napoleon vor und befahl ihm, diesen Brief zu überbringen und dem französischen Kaiser persönlich einzuhändigen. Während er Balaschow abfertigte, wiederholte der Kaiser ihm von neuem die Worte, daß er nicht Frieden schließen werde, solange auch nur noch ein bewaffneter Feind auf russischem Boden stehe, und befahl ihm, unter allen Umständen diese Worte dem Kaiser Napoleon mitzuteilen. In den Brief an Napoleon hatte Alexander diese Worte nicht aufgenommen, weil er mit dem ihm eigenen Takt fühlte, daß die Mitteilung dieser Worte unangebracht sei in einem Augenblick, wo der letzte Versuch, den Frieden zu erhalten, unternommen werde; aber er befahl Balaschow ausdrücklich, sie dem Kaiser Napoleon mündlich zur Kenntnis zu bringen.
Balaschow, der in der Nacht, von einem Trompeter und zwei Kosaken begleitet, ausgeritten war, stieß um die Morgendämmerung in dem Dorf Rykonty auf die französischen Vorposten diesseits des Niemen. Er wurde von französischen Kavalleriewachtposten angehalten. Ein französischer Husarenunteroffizier, in roter Uniform, mit zottiger Fellmütze, rief den heran reitenden Balaschow an und befahl ihm zu halten. Balaschow hielt nicht sofort, sondern ritt im Schritt auf der Landstraße weiter.[20]
Der Unteroffizier zog die Stirn kraus, brummte ein Schimpfwort und kam so nahe an Balaschow herangeritten, daß die Pferde Brust an Brust standen. An den Säbel fassend, schrie er den russischen General grob an und fragte ihn, ob er denn taub sei, daß er nicht höre, was man zu ihm sage. Balaschow nannte seinen Namen und Rang. Der Unteroffizier schickte einen Soldaten zu seinem Offizier.
Ohne Balaschow weiter zu beachten, begann der Unteroffizier mit seinen Kameraden über seine Regimentsangelegenheiten zu sprechen und sah den russischen General gar nicht an.
Es war für Balaschow eine ganz eigentümliche Empfindung, nachdem er sich so lange in nächster Nähe der höchsten Autorität und Machtfülle bewegt hatte, und nachdem er noch vor drei Stunden eine Unterredung mit dem Kaiser gehabt hatte, und da er überhaupt in seiner dienstlichen Stellung gewohnt war, respektiert zu werden – es war für ihn eine ganz eigentümliche Empfindung, sich hier auf russischem Boden in dieser feindlichen und vor allen Dingen respektlosen Art seitens der rohen Gewalt behandelt zu sehen.
Die Sonne begann eben aus Wolken aufzusteigen; in der Luft spürte man den frischen Tau; auf dem Weg wurde aus dem Dorf eine Herde getrieben. Auf den Feldern stiegen die Lerchen eine nach der andern, wie Bläschen im Wasser, trillernd in die Höhe.
Balaschow blickte um sich, während er auf die Ankunft des Offiziers aus dem Dorf wartete. Die russischen Kosaken und der Trompeter auf der einen, die französischen Husaren auf der andern Seite blickten einander ab und zu schweigend an.
Der französische Husarenoberst, der augenscheinlich eben erst aus dem Bett aufgestanden war, kam auf einem schönen, wohlgenährten Grauschimmel, von zwei Husaren begleitet, aus dem[21] Dorf herausgeritten. Der Offizier, die Soldaten und ihre Pferde machten einen stattlichen und eleganten Eindruck.
Es war noch die Anfangszeit des Feldzuges, wo sich die Truppen noch in einem Zustand der Korrektheit befanden, der beinahe dem Zustand bei einer Truppenschau im Frieden glich, nur mit einer leisen Färbung schmucker Kriegsbereitschaft im Anzug, sowie in geistiger Hinsicht mit einer Beimischung von Heiterkeit und Unternehmungslust, Empfindungen, die stets den Anfang von Feldzügen begleiten.
Der französische Oberst unterdrückte nur mit Mühe das Gähnen, war aber höflich und hatte offenbar Verständnis für Balaschows Bedeutung. Er führte ihn an seinen Soldaten vorbei hinter die Vorpostenkette und teilte ihm mit, sein Wunsch, dem Kaiser vorgestellt zu werden, werde wahrscheinlich sofort erfüllt werden, da sich das kaiserliche Quartier, soviel er wisse, in der Nähe befinde.
Sie ritten durch das Dorf Rykonty, vorbei an den Reihen angebundener französischer Husarenpferde, an Schildwachen und Soldaten, die ihrem Obersten die Honneurs erwiesen und neugierig die russische Uniform betrachteten; so gelangten sie hindurch nach der andern Seite des Dorfes. Nach der Angabe des Obersten befand sich in einer Entfernung von zwei Kilometern der Divisionschef; dieser werde Balaschow empfangen und an den Ort seiner Bestimmung führen.
Die Sonne war schon in die Höhe gestiegen und glänzte heiter auf dem hellen Grün.
Kaum waren sie hinter der Schenke eine Anhöhe hinangeritten, als auf der andern Seite vom Fuß der Anhöhe her ein ihnen entgegenkommender Reitertrupp sichtbar wurde. Voran ritt auf einem Rappen, dessen Geschirr in der Sonne glänzte, ein Mann von hoher Statur, mit einem Federhut, schwarzem,[22] lockigem Haar, das ihm bis auf die Schultern hing, in einem roten Mantel, die langen Beine nach vorn gestreckt, wie die Franzosen zu reiten pflegen. Dieser Mann ritt Balaschow im Galopp entgegen: sein Federbusch und Mantel flatterten im Wind, seine Edelsteine und Tressen blitzten in der hellen Junisonne.
Balaschow war nur noch zwei Pferdelängen von dem Reiter mit den Armbändern, Federn, Halsketten und Goldstickereien entfernt, der mit feierlicher theatralischer Miene auf ihn zugesprengt kam, als Julner, der französische Oberst, ihm respektvoll zuflüsterte: »Der König von Neapel!« Und es war wirklich Murat, der jetzt König von Neapel genannt wurde. Es war völlig unverständlich, warum er König von Neapel sein sollte; aber er wurde so genannt, und er selbst war von dieser seiner hohen Stellung überzeugt und hatte sich darum eine noch feierlichere und wichtigere Miene zu eigen gemacht als früher. Er war so fest davon überzeugt, tatsächlich König von Neapel zu sein, daß, als er am Tag vor seiner Abreise aus Neapel mit seiner Frau in den Straßen Neapels spazierenging und einige Italiener in seiner Nähe schrien: »Es lebe der König!«, er sich mit trübem Lächeln zu seiner Gemahlin wandte und sagte: »Die Unglücklichen, sie wissen nicht, daß ich sie morgen verlasse!«
Aber obwohl er fest davon überzeugt war, König von Neapel zu sein, und den Kummer seiner Untertanen bedauerte, die er verließ, hatte er doch neuerdings, nachdem ihm befohlen war, wieder in den Militärdienst einzutreten, und besonders nach der Begegnung mit Napoleon in Danzig, wo sein hoher Schwager zu ihm gesagt hatte: »Ich habe Sie zum König ge macht, damit Sie nach meiner Weise regieren und nicht nach der Ihrigen«, freudig das ihm wohlbekannte Soldatenhandwerk wiederaufgenommen. Es ging ihm wie einem Pferd, das gute Nahrung gehabt hat,[23] aber nicht zu fett geworden ist: nun er sich wieder im Geschirr fühlte, machte er in der Gabeldeichsel vergnügte Sprünge; er putzte sich so bunt und kostbar wie nur möglich heraus und galoppierte fröhlich und zufrieden, ohne selbst zu wissen wohin und wozu, auf den Landstraßen Polens einher.
Als er den russischen General erblickte, warf er mit einer großartigen Gebärde, wie sie einem König wohlsteht, den Kopf mit dem bis auf die Schultern herabwallenden Haar zurück und blickte fragend den französischen Obersten an. Der Oberst teilte Seiner Majestät ehrfurchtsvoll mit, wer Balaschow sei und zu welchem Zweck er gekommen sei; aber den Familiennamen desselben vermochte er nicht ordentlich auszusprechen.
»De Bal-machève!« sagte der König, indem er mit energischer Entschlossenheit die Schwierigkeit überwand, die der Name dem Obersten bereitete. »Sehr erfreut, Ihre Bekanntschaft zu machen, General«, fügte er mit einer herrschermäßigen, gnädigen Handbewegung hinzu.
Aber sobald der König laut und schnell zu sprechen begann, verließ ihn sofort seine gesamte königliche Würde, und er ging, ohne es selbst zu merken, in den Ton gutmütiger Vertraulichkeit über. Er legte seine Hand auf den Widerrist des Pferdes Balaschows.
»Nun, General, wir bekommen Krieg, wie es scheint«, sagte er, wie wenn er eine Lage bedauerte, über die ihm kein Urteil zustände.
»Sire«, antwortete Balaschow, »der Kaiser, mein Gebieter, wünscht den Krieg ganz und gar nicht, wie Euer Majestät ja sehen.« Während des ganzen Gespräches verwendete Balaschow den Titel »Euer Majestät« in allen Kasus, die es nur gibt; diese stete Wiederholung des Titels hatte zwar unvermeidlich etwas Geziertes, verfehlte aber bei jemandem, dem dieser Titel noch etwas Neues war, ihre Wirkung nicht.[24]
Murats Gesicht strahlte vor törichter Befriedigung, während er anhörte, was Balaschow ihm vortrug. Aber Königtum legt Verpflichtungen auf: er fühlte die Notwendigkeit, mit dem Gesandten Alexanders über Staatsangelegenheiten wie ein König und wie ein Verbündeter Napoleons zu sprechen. Er stieg vom Pferd, faßte Balaschow unter den Arm, entfernte sich mit ihm einige Schritte von der ehrfurchtsvoll wartenden Suite, begann mit ihm auf und ab zu gehen und versuchte bedeutsame Äußerungen zu tun. Er erinnerte daran, daß Kaiser Napoleon sich durch die Forderung, er solle seine Truppen aus Preußen herausführen, beleidigt gefühlt habe, namentlich da diese Forderung allgemein bekannt geworden und dadurch die Würde Frankreichs verletzt worden sei.
Balaschow erwiderte, daß in dieser Forderung nichts Kränkendes liegen könne, da ... Aber Murat unterbrach ihn.
»Also Sie halten den Kaiser Alexander nicht für den Anstifter des Krieges?« fragte er plötzlich mit einem gutmütig dummen Lächeln.
Balaschow setzte auseinander, weswegen er allerdings annehmen müsse, daß der Urheber des Krieges Napoleon sei.
»Ach, mein lieber General«, unterbrach ihn Murat wieder, »ich wünsche von ganzem Herzen, daß die Kaiser sich miteinander einigen möchten, und daß der gegen meinen Wunsch begonnene Krieg sobald als möglich sein Ende finden möge.« Er sprach in dem Ton, in welchem Diener zu sprechen pflegen, die, trotz des Zankes der Herrschaften unter sich, miteinander gute Freunde zu bleiben wünschen.
Und nun ging er dazu über, sich nach dem Großfürsten zu erkundigen, nach seiner Gesundheit, und gedachte der Zeit in Neapel, die er so lustig und vergnügt mit ihm verlebt habe. Dann auf einmal richtete Murat, wie wenn ihm plötzlich seine königliche[25] Würde wieder einfiele, sich feierlich gerade, nahm die Haltung an, in der er bei der Krönung dagestanden hatte, und sagte, indem er mit der rechten Hand eine Gebärde der Entlassung machte: »Aber ich will Sie nicht länger aufhalten, General; ich wünsche Ihrer Mission einen guten Erfolg!« Und mit seinem wallenden, roten, gestickten Mantel, dem flatternden Federbusch und den glänzenden Juwelen trat er wieder zu seiner Suite hin, die respektvoll auf ihn gewartet hatte.
Balaschow ritt weiter und nahm nach Murats Worten an, daß er sehr bald dem Kaiser Napoleon selbst werde vorgestellt werden. Aber statt daß er zu Napoleon vorgedrungen wäre, wurde er beim nächsten Dorf von den Infanterieposten des Davoutschen Korps wieder ebenso angehalten, wie es in der Vorpostenkette geschehen war, und ein herbeigerufener Adjutant des Korpskommandeurs begleitete ihn in das Dorf zum Marschall Davout.
Buchempfehlung
Nach zwanzig Jahren Krieg mit Sparta treten die Athenerinnen unter Frührung Lysistrates in den sexuellen Generalstreik, um ihre kriegswütigen Männer endlich zur Räson bringen. Als Lampito die Damen von Sparta zu ebensolcher Verweigerung bringen kann, geht der Plan schließlich auf.
58 Seiten, 4.80 Euro
Buchempfehlung
Romantik! Das ist auch – aber eben nicht nur – eine Epoche. Wenn wir heute etwas romantisch finden oder nennen, schwingt darin die Sehnsucht und die Leidenschaft der jungen Autoren, die seit dem Ausklang des 18. Jahrhundert ihre Gefühlswelt gegen die von der Aufklärung geforderte Vernunft verteidigt haben. So sind vor 200 Jahren wundervolle Erzählungen entstanden. Sie handeln von der Suche nach einer verlorengegangenen Welt des Wunderbaren, sind melancholisch oder mythisch oder märchenhaft, jedenfalls aber romantisch - damals wie heute. Nach den erfolgreichen beiden ersten Bänden hat Michael Holzinger sieben weitere Meistererzählungen der Romantik zu einen dritten Band zusammengefasst.
456 Seiten, 16.80 Euro