[236] Im Jahre 1808 begab sich Kaiser Alexander zu einer neuen Zusammenkunft mit dem Kaiser Napoleon nach Erfurt, und in den höchsten Petersburger Gesellschaftskreisen wurde viel über die großartige Pracht dieses festlichen Zusammenseins gesprochen.
Im Jahre 1809 war die Annäherung der beiden Weltherrscher, wie man Napoleon und Alexander zu nennen pflegte, bereits so weit fortgeschritten, daß, als Napoleon in diesem Jahr Österreich den Krieg erklärte, ein russisches Korps an die Grenze rückte, um unseren früheren Feind Bonaparte gegen unsern früheren Verbündeten, den Kaiser von Österreich, zu unterstützen; ja, sie war so weit fortgeschritten, daß in den höchsten Kreisen die Möglichkeit einer Heirat zwischen Napoleon und einer der Schwestern Kaiser Alexanders erörtert wurde. Aber neben solchen der äußeren Politik angehörigen Kombinationen richtete sich damals das Interesse der russischen Gesellschaft mit besonderer Lebhaftigkeit auf die inneren Reformen, die zu jener Zeit auf allen Gebieten der Staatsverwaltung durchgeführt wurden.
Unterdessen ging das Leben, das wahre, eigentliche Leben der Menschen, mit seinen materiellen Interessen, wie Gesundheit und Krankheit, Arbeit und Erholung, und mit seinen geistigen Interessen, wie Wissenschaft, Poesie, Musik, Liebe, Freundschaft, Haß, Leidenschaften, dieses Leben ging wie immer unabhängig seinen Gang, unbeeinflußt von der politischen Freundschaft oder Feindschaft mit Napoleon Bonaparte und von allen möglichen Reformen.
[236]
Fürst Andrei hatte ununterbrochen zwei Jahre lang auf dem Land gelebt.
Alle die Unternehmungen, die Pierre auf seinen Gütern geplant hatte, ohne doch dabei zu einem Resultat zu kommen, da er unaufhörlich von einer Sache zur andern hinübersprang, alle diese Unternehmungen hatte Fürst Andrei, ohne irgend jemandem gegenüber davon viel Wesens zu machen, und ohne auffälligen Aufwand von Mühe auf seinen eigenen Gütern zur Ausführung gebracht.
Er besaß im höchsten Grad jene seinem Freund Pierre abgehende praktische Zähigkeit, mittels deren er ohne übermäßige Kraftentwicklung und Anstrengung eine Sache in Gang brachte und im Gang erhielt.
Auf einem seiner Güter hatte er die Leibeigenen, etwa dreihundert Seelen, zu freien Bauern gemacht (es war dies eines der ersten Beispiele in Rußland); auf anderen Gütern war die Fronarbeit durch Abgaben er setzt. Nach Bogutscharowo hatte er auf seine Kosten eine gelernte Hebamme kommen lassen, die nun den Gebärerinnen beistand, und der Geistliche unterrichtete für ein bestimmtes Gehalt die Kinder der Bauern und Gutsleute im Lesen und Schreiben.
Die eine Hälfte seiner Zeit verlebte Fürst Andrei in Lysyje-Gory bei seinem Vater und bei seinem Sohn, der noch in der Obhut der Wärterinnen war, die andere Hälfte im Kloster Bogutscharowo, wie sein Vater dieses Gut nannte. Obwohl Fürst Andrei im Gespräch mit Pierre eine große Gleichgültigkeit gegen alle äußeren Weltereignisse bekundet hatte, verfolgte er doch den Gang der Dinge mit vielem Eifer, ließ sich eine Menge Bücher kommen und bemerkte zu seiner Verwunderung, wenn zu ihm oder zu seinem Vater Leute direkt aus Petersburg, diesem Brennpunkt des gesamten geistigen Lebens, zu Besuch[237] kamen, daß diese Leute über alle Vorgänge der äußeren und inneren Politik bei weitem nicht so gut unterrichtet waren wie er, der ohne Unterbrechung still auf dem Land saß.
Außer seiner Tätigkeit an den Gütern und außer der Lektüre von Büchern mannigfaltigen Inhaltes beschäftigte Fürst Andrei sich in dieser Zeit auch noch mit einer Kritik unserer Kriegführung in den beiden letzten unglücklichen Feldzügen, sowie mit der Ausarbeitung eines Projektes, betreffend eine Umgestaltung unserer militärischen Reglements und Instruktionen.
Im Frühling des Jahres 1809 reiste Fürst Andrei nach den Rjasanschen Gütern seines Sohnes, dessen Vormund er war.
Von der Frühlingssonne angenehm erwärmt, saß er im Wagen und betrachtete das junge Gras und die ersten Blättchen der Birken und die ersten weißen, geballten Frühlingswolken, die an dem klaren, blauen Himmel dahinzogen. Er dachte an nichts, sondern blickte nur fröhlich nach rechts und links.
Er passierte den Fluß auf der Fähre, auf der er vor einem Jahr mit Pierre ein bedeutsames Gespräch geführt hatte. Dann fuhr er durch ein schmutziges Dorf, vorbei an Äckern mit Wintersaat, hinab zu einer Brücke, wo noch Schnee zurückgeblieben war, bergan auf ausgewaschenem Lehmweg, vorbei an langen Streifen von Stoppelfeldern und an Buschwerk, das hier und da schon grün wurde, und hinein in einen Birkenwald, der auf beiden Seiten des Weges lag. Im Wald war es beinahe heiß; der Wind war hier nicht zu spüren. Die Birken, die ganz mit grünen, klebrigen Blättchen übersät waren, rührten sich nicht; aus dem vorjährigen Laub, das den Boden bedeckte, kamen, die trockenen Blätter in die Höhe hebend, das erste grüne Gras und lila Blumen hervor. Kleine Tannen, die hier und da im Birkenwald verstreut standen, erweckten durch ihr immerwährendes mattes Grün die unerfreuliche Erinnerung an den Winter.[238] Die Pferde prusteten, als sie in den Wald hineinkamen, und fingen an augenfällig zu schwitzen.
Der Diener Pjotr sagte etwas zum Kutscher, und der Kutscher antwortete bejahend. Aber die Zustimmung des Kutschers genügte dem Diener offenbar noch nicht: er wandte sich auf dem Bock zu seinem Herrn um.
»Eure Durchlaucht, wie nett!« sagte er mit respektvollem Lächeln.
»Was sagst du?«
»Es ist alles so nett, Euer Durchlaucht.«
»Was meint er denn?« dachte Fürst Andrei. »Ach so, gewiß den Frühling«, sagte er sich und blickte nach rechts und links. »Wirklich, alles schon grün ... wie schnell das gekommen ist! Die Birke fängt schon an, und der Faulbaum, und die Erle ... Eine Eiche ist nicht zu sehen. Aber ja, da ist ja eine, eine Eiche.«
Am Rand des Weges stand eine Eiche. Wahrscheinlich zehnmal so alt wie die Birken, die den Wald bildeten, war sie auch zehnmal so dick und noch einmal so hoch wie jede der Birken. Es war ein gewaltiger Baum, den zwei Männer kaum umspannen konnten; viele Äste waren, augenscheinlich schon seit langer Zeit, abgebrochen, die Borke rissig und mit alten, verwachsenen Narben überzogen. Mit ihren großen, plumpen, unsymmetrisch gewachsenen, krummen Armen und Fingern stand sie wie ein alter, ingrimmiger Krüppel, der die ganze Welt haßt und verachtet, mitten unter den lächelnden Birken da. Außer ihr wollten nur die wie toten, immergrünen, kleinen Tannen, die im Wald verstreut standen, sich dem Zauber des Frühlings nicht fügen und weder den Frühling noch die Sonne sehen.
»Frühling und Liebe und Glück!« schien diese Eiche zu sagen. »Daß ihr dieser stets gleichbleibenden, dummen, sinnlosen Täuschung nicht überdrüssig werdet! Immer ein und dasselbe, und[239] immer Täuschung! Es gibt keinen Frühling, keine Sonne, kein Glück! Da! Seht diese niedergedrückten, erstorbenen Tannen an, deren Aussehen immer gleich bleibt! Und seht mich an! Ich habe meine zerbrochenen, verstümmelten Glieder ausgespreizt, wo sie aus mir herausgewachsen sind: aus dem Rücken, aus den Seiten; wie sie herausgewachsen sind, so stehe ich da und glaube nicht an eure Hoffnungen und Täuschungen.«
Fürst Andrei blickte sich beim Weiterfahren durch den Wald mehrmals nach dieser Eiche um, als ob er von ihr etwas erwartete. Blumen und Gras befanden sich auch unter der Eiche; aber sie stand immer in der gleichen Haltung mitten unter ihnen: finster, unbeweglich, häßlich und eigensinnig.
»Ja, sie hat recht, vollkommen recht, diese Eiche«, dachte Fürst Andrei. »Mögen andere, jüngere Leute sich von neuem dieser Täuschung hingeben; aber wir kennen das Leben; unser Leben ist zu Ende!« Eine ganze neue Reihe hoffnungsloser, aber wehmütig-freundlicher Gedanken zog, im Anschluß an den Anblick dieser Eiche, durch die Seele des Fürsten Andrei. Während dieser Reise überdachte er gewissermaßen von neuem sein ganzes Leben und kam zu demselben beruhigenden, hoffnungslosen Ergebnis wie früher: daß er nichts Neues mehr beginnen dürfe, sondern sein Leben zu Ende führen müsse, ohne Übles zu tun, ohne sich aufzuregen und ohne etwas zu wünschen.
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