II

[240] In vormundschaftlichen Angelegenheiten eines Rjasaner Gutes mußte Fürst Andrei mit dem Adelsmarschall des Kreises persönliche Rücksprache nehmen. Dieser Adelsmarschall war Graf Ilja Andrejewitsch Rostow, und so fuhr denn Fürst Andrei Mitte Mai zu ihm.[240]

Es war schon die heiße Periode des Frühlings eingetreten. Der Wald war bereits voll belaubt; die Wege waren staubig, und es herrschte eine solche Hitze, daß man, wenn man an einem Wasser vorbeifuhr, Lust bekam zu baden.

In mißmutiger Stimmung und damit beschäftigt, alle die geschäftlichen Fragen zu überlegen, die er dem Adelsmarschall vorzulegen hatte, fuhr Fürst Andrei durch die Gartenallee auf das Rostowsche Gutshaus in Otradnoje zu. Von rechts hinter den Bäumen her hörte er fröhliches Geschrei weiblicher Stimmen und erblickte eine Mädchenschar, die von der Seite auf seinen Wagen zugelaufen kam. Den andern voran, dem Wagen am nächsten, lief ein schwarzhaariges, sehr fein und schlank gebautes, schwarzäugiges Mädchen, in einem gelben Kattunkleid, um den Kopf ein weißes Taschentuch gebunden, unter welchem einzelne Strähnen loser Haare hervorquollen. Das junge Mädchen rief etwas nach dem Wagen zu; aber als sie erkannte, daß ein Fremder darin saß, lief sie, ohne ihn anzusehen, lachend wieder zurück.

Eine schmerzliche Empfindung überkam auf einmal den Fürsten Andrei. Es war ein so schöner Tag, die Sonne schien so hell, ringsum war alles so fröhlich; aber diese schlanke, niedliche Person wußte nicht und wollte gar nicht wissen, daß er überhaupt existierte, und fühlte sich zufrieden und glücklich bei ihrem eigenen, wahrscheinlich törichten, aber heiteren, vergnügten Leben. »Worüber freut sie sich so? Woran denkt sie? Sicherlich nicht an militärische Reglements und an die Neuordnung der Verhältnisse der Rjasaner Zinsbauern. Woran denkt sie? Worüber ist sie so glücklich?« fragte sich Fürst Andrei mit unwillkürlich erwachter Neugierde.

Graf Ilja Andrejewitsch lebte im Jahre 1809 in Otradnoje genau ebenso wie früher, das heißt, er veranstaltete Jagden, Theatervorstellungen, Diners und Konzerte, zu denen sich der[241] ganze Adel des Gouvernements einfand. Wie über jeden neuen Gast freute er sich auch über die Ankunft des Fürsten Andrei und veranlaßte ihn beinahe mit Gewalt, über Nacht zu bleiben.

Diesen ganzen Tag über nahmen Fürst Andrei die älteren Herrschaften in Anspruch, nämlich der Hausherr und die Hausfrau und die vornehmsten der Gäste, von denen aus Anlaß des herankommenden Namenstages das Haus des alten Grafen voll war. Fürst Andrei langweilte sich dabei stark, blickte mehrmals zu Natascha hin, die sich mit der übrigen anwesenden Jugend amüsierte und immer über irgend etwas lachte, und fragte sich: »Woran denkt sie? Worüber freut sie sich so?«

Als er am Abend in dem ihm fremden Zimmer allein war, konnte er lange nicht einschlafen. Er las; dann löschte er die Kerze aus und zündete sie wieder an. In dem Zimmer mit den geschlossenen Innenläden war eine schwüle Luft. Er ärgerte sich über diesen dummen alten Kerl (so nannte er Rostow), der ihn durch die Versicherung zurückgehalten hatte, die erforderlichen Papiere seien in der Stadt, seien noch nicht hergeschickt, und er ärgerte sich über sich selbst, daß er dageblieben war.

Fürst Andrei stand auf und trat ans Fenster, um es zu öffnen. Sowie er die Läden aufgemacht hatte, drang das Mondlicht, als hätte es schon lange am Fenster Wache gestanden und darauf gewartet, ins Zimmer hinein. Er öffnete das Fenster. Es war eine frische, windstille, helle Nacht. Unmittelbar vor dem Fenster stand eine Reihe beschnittener Bäume, die auf der einen Seite schwarz aussahen und auf der andern silbrig beleuchtet waren. Unter den Bäumen befand sich irgendeine saftige, feuchte, krause Pflanzenart, deren Blätter und Stengel stellenweise wie Silber schimmerten. Weiter weg hinter den schwarzen Bäumen war ein Dach sichtbar, das von Tau glänzte, und mehr rechts ein großer, krauser Baum mit Stamm und Ästen von heller, weißer Färbung[242] und über ihm der beinahe volle Mond an dem hellen, fast sternenlosen Frühlingshimmel. Fürst Andrei lehnte sich mit den Ellbogen auf das Fensterbrett und richtete seine Blicke unverwandt nach diesem Himmel.

Das Zimmer des Fürsten Andrei befand sich in der mittleren Etage; auch das darüberliegende Zimmer war bewohnt, und die Insassen schliefen noch nicht. Er hörte oben zwei weibliche Stimmen reden.

»Nur noch ein einziges Mal«, sagte die eine Stimme, welche Fürst Andrei sofort erkannte.

»Aber wann willst du denn eigentlich schlafen?« antwortete die andere Stimme.

»Ich will gar nicht schlafen; ich kann nicht einschlafen; was soll ich machen! Nun also, zum allerletzten Mal!«

Die beiden Stimmen sangen ein Stück einer Melodie, welches das Ende irgendeines Liedes bildete.

»Ach, wie entzückend!«

»Nun, aber jetzt machen wir Schluß; jetzt wird geschlafen!«

»Schlaf du; ich kann nicht schlafen«, antwortete die erste Stimme, die sich dem Fenster genähert hatte. Die betreffende Person bog sich offenbar ganz aus dem Fenster; denn Fürst Andrei hörte das Rascheln ihres Kleides und sogar ihren Atem. Alles war still und regungslos; auch der Mond und der Mondschein und die Schatten. Auch Fürst Andrei scheute sich, eine Bewegung zu machen, um sich nicht als unfreiwilligen Hörer zu verraten.

»Sonja, Sonja!« erscholl wieder die erste Stimme. »Aber wie kannst du nur dabei schlafen! Sieh doch nur, wie reizend alles ist! Ach, wie reizend! So wache doch auf, Sonja!« sagte sie beinahe weinend. »So eine herrliche Nacht hat es ja noch nie, noch nie gegeben!«[243]

Sonja gab verdrossen irgendeine Antwort.

»Nein, sieh doch nur, wie wundervoll der Mond scheint ...! Ach, wie entzückend! Komm doch her! Liebste, Beste, komm doch her! Nun, siehst du wohl? So möchte ich mich niederkauern, siehst du wohl, so, und die Hände unter den Knien zusammenlegen, fest, so fest wie möglich, ganz eng und straff, und dann möchte ich losfliegen. Sieh mal: so!«

»Hör auf! Du wirst noch fallen!«

Es war zu hören, daß sie miteinander rangen. Sonja sagte in unzufriedenem Ton: »Es ist ja bald zwei Uhr.«

»Ach, du verdirbst mir immer nur mein Vergnügen. Geh doch, geh doch!«

Wieder wurde alles still; aber Fürst Andrei wußte, daß Natascha immer noch dort saß; er hörte manchmal eine leise Bewegung, mitunter auch einen Seufzer.

»Ach, mein Gott, mein Gott! Wie schön ist das alles!« rief sie plötzlich. »Also jetzt schlafen gehen, wenn's doch einmal sein muß!« Sie schlug das Fenster zu.

»Es ist ganz gleichgültig, ob ich existiere oder nicht!« dachte Fürst Andrei, während er auf ihre Worte lauschte und aus einem nicht recht verständlichen Grund erwartete und fürchtete, daß sie etwas über ihn selbst sagen werde. »Wieder sie! Als wäre es eine besondere Fügung!« dachte er.

In seiner Seele erhob sich unerwarteterweise ein solcher wirrer Schwarm jugendlicher Gedanken und Hoffnungen, die zu seinem ganzen Leben in schroffem Gegensatz standen, daß er sich unfähig fühlte, über seinen Zustand zur Klarheit zu gelangen. Jedoch schlief er sehr bald ein.

Quelle:
Tolstoj, Lev Nikolaevic: Krieg und Frieden. 4 Bde., Leipzig 1922, Band 2, S. 240-244.
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