XIII

[299] Eines Abends, als die alte Gräfin unter vielem Seufzen und starkem Räuspern, in Nachthaube und Nachtjacke, ohne ihre falschen Locken, nur mit ihren eigenen armseligen Haarsträhnen, die unter der weißen baumwollenen Nachthaube hervorkamen, auf dem Teppich vor dem Bett kniend unter tiefen Verbeugungen ihr Abendgebet sprach, da knarrte die Tür, und mit Pantoffeln an den bloßen Füßen, ebenfalls in der Nachtjacke und mit Papilloten, kam Natascha hereingelaufen. Die Gräfin sah sich um und runzelte die Stirn. Sie sprach ihr letztes Gebet zu Ende: »Wird vielleicht dieses Lager heute mein Totenbett werden?«, aber ihre Gebetsstimmung war dahin. Natascha, deren Gesicht von lebhafter Erregung gerötet war, blieb, als sie sah, daß die Mutter betete, plötzlich mitten im Lauf stehen, kauerte sich nieder und streckte unwillkürlich die Zunge heraus, wie um sich selbst zu bedrohen. Als sie merkte, daß die Mutter weiterbetete, lief sie auf den Zehen, mit einem Fuß schnell gegen den andern schlitternd, zum Bett hin, warf die Pantoffeln ab und hüpfte auf eben das Lager, von dem die Gräfin gefürchtet hatte, daß es heute ihr Totenbett werden würde. Dieses Lager war ein hohes Federbett mit fünf immer kleiner werdenden Kopfkissen. Natascha sprang hinein, versank ganz darin, rückte nach der Wand hin und begann nun unter der Bettdecke allerlei Mutwillen[299] zu treiben: einmal streckte sie sich lang aus, dann zog sie die gebogenen Knie bis ans Kinn, dann strampelte sie mit den Beinen und lachte fast unhörbar, wobei sie bald den Kopf unter der Decke versteckte, bald nach der Mutter hinblickte. Sobald die Gräfin ihr Gebet beendet hatte, näherte sie sich dem Bett mit strenger Miene; aber als sie sah, daß Natascha mit dem Kopf unter die Decke gekrochen war, lächelte sie in ihrer gutmütigen, nachsichtigen Art.

»Aber, aber!« sagte die Mutter.

»Mama, kann ich ein bißchen mit Ihnen plaudern? Ja?« fragte Natascha. »Nun also, einen Kuß auf das Halsgrübchen, und noch einen, und dann genug!« Sie schlang ihre Arme um den Hals der Mutter und küßte sie unter das Kinn. Im Verkehr mit der Mutter zeigte Natascha zwar äußerlich eine gewisse Derbheit der Manieren; aber sie benahm sich dabei doch taktvoll und geschickt und wußte, wie sie auch die Mutter mit den Händen anfassen mochte, es doch immer so zu tun, daß es der Mutter weder weh tat noch unangenehm oder hinderlich war.

»Nun, worüber willst du denn heute reden?« fragte die Mutter, nachdem sie sich auf den Kissen zurechtgelegt und gewartet hatte, bis Natascha sich zweimal um sich selbst gedreht, die Arme auf die Bettdecke gelegt, eine ernste Miene angenommen hatte und nun still neben ihr unter der Decke lag.

Diese nächtlichen Besuche Nataschas, die vor der Heimkehr des Grafen aus dem Klub stattzufinden pflegten, waren ein ganz besonderes Vergnügen für Mutter und Tochter.

»Worüber willst du denn heute reden? Ich muß dir sagen ...«

Natascha hielt der Mutter mit der Hand den Mund zu.

»Sie wollen von Boris reden ... Ich weiß«, sagte sie ernsthaft. »Eben deswegen bin ich ja auch gekommen. Reden Sie nicht; ich weiß alles. Aber nein, sagen Sie« (sie nahm[300] die Hand weg), »sagen Sie, Mama: ist er nicht ein netter Mensch?«

»Natascha, du bist sechzehn Jahre alt; in deinem Alter war ich schon verheiratet. Du sagst, daß Boris nett ist. Er ist sehr nett, und ich habe ihn lieb wie einen Sohn; aber was hast du denn vor? Was denkst du eigentlich? Du hast ihm ganz den Kopf verdreht, das sehe ich wohl ...«

Bei diesen Worten blickte die Gräfin zu ihrer Tochter hin. Natascha lag ruhig da und hielt die Augen unverwandt gerade vor sich hin auf eine der Sphinxe gerichtet, die, aus Mahagoniholz geschnitzt, an den Ecken der Bettstelle angebracht waren, so daß die Gräfin nur das Profil ihrer Tochter sah. Nataschas Gesicht überraschte die Gräfin durch seinen auffallend ernsten, nachdenklichen Ausdruck.

Natascha hörte zu und überlegte.

»Nun, und was ist dabei?« fragte sie.

»Du hast ihm ganz den Kopf verdreht«, sagte die Gräfin noch einmal. »Wozu das? Was willst du von ihm? Du weißt, daß du ihn nicht heiraten kannst.«

»Warum nicht?« erwiderte Natascha, ohne ihre Lage zu verändern.

»Weil er zu jung ist, weil er arm ist, weil er mit dir verwandt ist ... weil du selbst ihn gar nicht einmal wahrhaft liebst.«

»Aber warum meinen Sie das?«

»Ich weiß es. Das führt zu nichts Gutem, mein Kind.«

»Aber wenn ich will ...«, begann Natascha.

»Rede nicht solche Torheiten«, sagte die Gräfin.

»Aber wenn ich will ...«

»Natascha, ich bitte dich in allem Ernst ...«

Natascha ließ sie nicht zu Ende sprechen; sie zog die große Hand der Gräfin zu sich heran und küßte sie auf die Oberseite, dann in[301] die Handfläche, dann drehte sie sie wieder herum und küßte sie auf den Knöchel des obersten Gelenkes eines Fingers, dann in die daneben befindliche Vertiefung, dann auf den folgenden Knöchel und so weiter, wobei sie flüsterte: »Januar, Februar, März, April, Mai.« – »Reden Sie doch, Mama; warum schweigen Sie denn? Reden Sie doch«, bat sie und sah ihre Mutter an, die mit zärtlichem Blick ihre Tochter betrachtete und, in diese Betrachtung versenkt, alles vergessen zu haben schien, was sie hatte sagen wollen.

»Das führt zu nichts Gutem, liebes Kind. Nicht alle Leute werden für euer kindliches Freundschaftsverhältnis Verständnis haben; und wenn man sieht, daß er so viel mit dir verkehrt, so kann dir das in den Augen der anderen jungen Männer, die zu uns kommen, schaden, und was die Hauptsache ist: es ist für ihn eine zwecklose Pein. Er hatte vielleicht schon eine für ihn passende reiche Partie gefunden, und nun kommt er hier um seinen Verstand.«

»Er kommt um seinen Verstand?« fragte Natascha.

»Ich will dir etwas von mir selbst erzählen. Ich hatte einen Vetter ...«

»Ich weiß: Kirill Matwjejewitsch; aber der ist ja doch ein alter Mann?«

»Er ist nicht immer ein alter Mann gewesen. Aber weißt du was, Natascha? Ich werde mit Boris reden. Er soll nicht so oft herkommen ...«

»Warum soll er nicht, wenn er es doch gern tut?«

»Weil ich weiß, daß doch nichts daraus wird.«

»Woher wissen Sie das? Nein, Mama, reden Sie nicht mit ihm. Was sind das für Dummheiten!« rief Natascha im Ton eines Menschen, dem jemand sein Eigentum wegnehmen will. »Nun, wenn ich ihn auch nicht heirate, darum kann er doch herkommen,[302] wenn es ihm und mir Vergnügen macht.« Natascha blickte die Mutter lächelnd an.

»Wenn ich ihn auch nicht heirate; aber bloß so«, sagte sie noch einmal.

»Was meinst du damit, mein Kind?«

»Nun, bloß so. Ich brauche ihn ja nicht zu heiraten, aber ... bloß so.«

»Bloß so, bloß so!« sprach ihr die Gräfin nach und brach plötzlich nach Art alter Frauen in ein gutmütiges Gelächter aus, so daß ihr ganzer Leib schütterte.

»Lachen Sie doch nicht so; hören Sie auf!« rief Natascha. »Das ganze Bett wackelt ja davon. Sie haben furchtbare Ähnlichkeit mit mir; Sie sind gerade so ein lachlustiges Ding wie ich ... Warten Sie mal ...« Sie ergriff beide Hände der Gräfin und küßte an der einen die Vertiefung beim kleinen Finger und den Knöchel desselben, wobei sie sagte: »Juni, Juli«, und küßte dann an der anderen Hand weiter: »August.« – »Mama, ist er sehr in mich verliebt? Wie urteilen Sie darüber? Sind die jungen Männer in Sie auch so verliebt gewesen? Er ist sehr nett, sehr, sehr nett! Nur nicht ganz nach meinem Geschmack: er ist so schmal wie eine Standuhr ... Verstehen Sie mich nicht ...? Schmal, wissen Sie, grau, hellgrau ...«

»Was redest du für Unsinn!« sagte die Gräfin.

Natascha fuhr fort:

»Verstehen Sie mich wirklich nicht? Nikolai würde mich gleich verstehen ... Besuchow, das ist so ein Blauer, dunkelblau mit Rot, dabei aber viereckig.«

»Mit dem kokettierst du auch«, sagte die Gräfin lachend.

»Nein, er ist ein Freimaurer, wie ich erfahren habe. Er ist ein braver Mensch, dunkelblau mit Rot ... Wie soll ich es Ihnen nur deutlich machen ...«[303]

»Liebe Gräfin«, hörten sie den Grafen vor der Tür sagen. »Schläfst du noch nicht?« Natascha sprang auf, nahm ihre Pantoffeln in die Hand und lief barfuß nach ihrem Zimmer.

Sie konnte lange Zeit nicht einschlafen. Sie dachte immerzu daran, daß niemand all das verstand, was ihr selbst doch so verständlich war: ihre eigenen Empfindungen.

»Ob Sonja?« dachte sie, während sie das schlafende, zusammengerollte Kätzchen mit der dicken, langen Haarflechte betrachtete. »Nein, wie sollte sie das können! Sie ist zu tugendhaft. Sie hat sich in Nikolai verliebt und will nun von nichts weiter wissen. Auch Mama versteht mich nicht. Es ist erstaunlich, wie klug ich bin, und wie ... nett sie ist«, fuhr sie fort, indem sie von sich selbst in der dritten Person sprach und sich vorstellte, daß das irgendein sehr kluger Mann, der allerklügste und allerbeste, von ihr sage. »Sie besitzt alle erdenklichen Vorzüge«, fuhr dieser Mann fort, »sie ist klug, außerordentlich nett, ferner schön, außerordentlich schön, und gewandt: sie schwimmt und reitet vorzüglich; und nun erst die Stimme! Man kann sagen: eine bewundernswerte Stimme!«

Sie sang ihre Lieblingsmelodie aus einer Cherubinischen Oper, lachte vor Freude bei dem Gedanken, daß sie nun gleich einschlafen werde, und rief Dunjascha, damit sie die Kerze auslösche; und wirklich war Dunjascha noch nicht aus dem Zimmer, als Natascha bereits in eine andere, noch glücklichere Welt, die Welt der Träume, übergegangen war, wo alles ebenso schön und wohlig war wie in der Wirklichkeit, aber insofern noch besser, als es andersartig war.

Am andern Tag ließ die Gräfin Boris auf ihr Zimmer bitten und redete mit ihm, und von diesem Tag an stellte er seine Besuche bei Rostows ein.

Quelle:
Tolstoj, Lev Nikolaevic: Krieg und Frieden. 4 Bde., Leipzig 1922, Band 2, S. 299-304.
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