XII

[295] Natascha war nun sechzehn Jahre alt, und man schrieb jetzt das Jahr 1809, eben das Jahr, bis zu welchem sie vier Jahre vorher bei dem Zusammensein mit Boris an den Fingern gezählt hatte, nachdem sie ihn geküßt hatte. Sie hatte ihn seitdem kein einziges Mal mehr gesehen. Wenn im Gespräch mit Sonja oder der Mutter die Rede auf Boris kam, pflegte Natascha, wie wenn die Sache völlig abgetan wäre, frei heraus zu sagen, daß alles, was früher stattgefunden hätte, nur eine Kinderei gewesen sei, von der es gar nicht der Mühe wert sei zu reden, und die längst vergessen sei. Aber in der geheimsten Tiefe ihres Herzens quälte sie sich mit der Frage, ob die Verabredung mit Boris nur ein Scherz gewesen sei oder ein ernstes, bindendes Versprechen.

In der ganzen Zeit, seit Boris im Jahr 1805 von Moskau zur Armee gereist war, hatte er Rostows nicht besucht. Er war mehrere Male in Moskau gewesen, war auch mitunter nicht weit von Otradnoje vorbeigekommen, hatte sich aber nie bei Rostows blicken lassen.

Natascha kam mitunter auf den Gedanken, Boris vermeide absichtlich ein Wiedersehen mit ihr, und in dieser Vermutung fühlte sie sich bestärkt durch den trüben Ton, in welchem die Eltern von ihm zu sprechen pflegten.[295]

»Heutzutage ist es nicht mehr Sitte, sich an alte Freunde zu erinnern«, sagte die Gräfin einmal, als Boris erwähnt worden war.

Auch Anna Michailowna, die in der letzten Zeit weniger im Rostowschen Haus verkehrte, beobachtete eine eigentümlich würdevolle Haltung und sprach jedesmal mit enthusiastischen Lobeserhebungen von den vortrefflichen Eigenschaften ihres Sohnes und von der glänzenden Laufbahn, in der er begriffen sei. Als Rostows nach Petersburg gezogen waren, machte ihnen Boris einen Besuch.

Während er zu ihnen hinfuhr, befand er sich in ziemlicher Aufregung. Die Erinnerung an Natascha war die poetischste, die ihm seine ganze Vergangenheit darbot. Aber trotzdem fuhr er mit der festen Absicht hin, ihr und den Ihrigen deutlich zu verstehen zu geben, daß die Beziehungen zwischen ihm und Natascha aus der Kinderzeit weder für sie noch für ihn bindend sein könnten. Er hatte dank dem näheren Umgang mit der Gräfin Besuchowa eine glänzende Position in der Gesellschaft, und ebenso dank der Protektion einer hochgestellten Persönlichkeit, deren volles Vertrauen er besaß, eine glänzende Position in dienstlicher Hinsicht, und im stillen keimte bei ihm der Plan, eines der reichsten jungen Mädchen Petersburgs zu heiraten, ein Plan, dessen Verwirklichung sehr wohl im Bereich der Möglichkeiten lag.

Als Boris im Rostowschen Haus in den Salon trat, war Natascha auf ihrem Zimmer. Sobald sie von seiner Ankunft gehört hatte, kam sie errötend in den Salon beinah hereingelaufen; auf ihrem Gesicht strahlte ein mehr als freundliches Lächeln.

Boris hatte noch jene Natascha im Gedächtnis, die er vor vier Jahren gekannt hatte: mit dem kurzen Kleid, den glänzenden Augen unter dem lockigen Haar und dem ausgelassenen,[296] kindlichen Lachen, und daher geriet er, als nun eine ganz andere Natascha ins Zimmer trat, in Verwirrung, und auf seinem Gesicht malte sich staunende Bewunderung. Über diesen Ausdruck seines Gesichts empfand Natascha eine nicht geringe Freude.

»Nun, erkennst du deine frühere kleine Freundin, die wilde Hummel, wieder?« fragte die Gräfin.

Boris küßte Natascha die Hand und erwiderte, er sei erstaunt über die Veränderung, die mit ihr vorgegangen sei. »Wie schön Sie geworden sind!« schloß er.

»Das möchte ich meinen!« antworteten Nataschas lachende Augen.

»Finden Sie, daß Papa älter geworden ist?« fragte sie. Dann setzte sie sich, und ohne sich an dem Gespräch zwischen Boris und der Mutter zu beteiligen, musterte sie schweigend ihren Bräutigam aus der Kinderzeit bis auf die kleinsten Einzelheiten. Er glaubte eine Art von Druck zu fühlen, als dieser freundliche Blick so beharrlich auf seiner Person ruhte, und blickte ab und zu nach ihr hin.

Uniform, Sporen, Halsbinde und Haartracht, alles war bei Boris hübsch modern und comme il faut. Das hatte Natascha sofort bemerkt. Er saß ein wenig zur Seite gewandt auf einem Sessel neben der Gräfin, brachte mit der rechten Hand den schneeweißen Glacéhandschuh an der linken in Ordnung, sprach mit einer besonders feinen Art, die Lippen einzuziehen, über die Vergnügungen der höchsten Petersburger Gesellschaftskreise und gedachte mit einem Anflug freundlichen Spottes der früheren Moskauer Zeiten und der Moskauer Bekannten. Nicht ohne Absicht (Natascha merkte das sehr wohl) erwähnte er, als er von der höchsten Aristokratie sprach, den Ball beim französischen Gesandten, auf dem er gewesen sei, und die Einladungen bei N.N. und S.S.[297]

Natascha saß die ganze Zeit über schweigend da und blickte ihn, den Kopf etwas neigend, von unten her an. Dieser Blick machte Boris immer unruhiger und setzte ihn in Verwirrung. Er sah häufiger zu Natascha hin und stockte in seinen Erzählungen. Er blieb nur zehn Minuten sitzen; dann stand er auf und empfahl sich. Immer noch schauten ihn dieselben neugierigen, herausfordernden und ein wenig spöttischen Augen an.

Nach diesem seinem ersten Besuch sagte sich Boris, daß Natascha auf ihn noch genau dieselbe Anziehungskraft ausübe wie früher, daß er sich aber diesem Gefühl nicht überlassen dürfe, weil eine Heirat mit ihr, einem fast vermögenslosen Mädchen, für seine Karriere verhängnisvoll werden müßte, eine Erneuerung der früheren Beziehungen aber ohne die Absicht einer Heirat eine unehrenhafte Handlungsweise sein würde. Boris faßte daher bei sich den Entschluß, fernere Begegnungen mit Natascha zu vermeiden; aber trotz dieses Entschlusses kam er nach einigen Tagen wieder und begann nun sich häufiger einzustellen und ganze Tage bei Rostows zu verleben. Er war der Ansicht, daß er sich notwendig mit Natascha aussprechen und ihr sagen müsse, sie müßten beide alles Vergangene der Vergessenheit übergeben; sie könne trotz allem nicht seine Frau werden; er habe kein Vermögen, und daher würden ihre Eltern sie ihm nie zur Frau geben. Aber es bot sich ihm nie eine rechte Gelegenheit zu einer Aussprache, und es war ihm auch gar zu peinlich, ihr diese Mitteilung zu machen. Mit jedem Tag fühlte er sich mehr gefesselt. Natascha ihrerseits schien, soweit es die Mutter und Sonja beobachten konnten, in Boris noch ebenso verliebt zu sein wie ehemals. Sie sang ihm seine Lieblingslieder, zeigte ihm ihr Album und veranlaßte ihn, ihr etwas hineinzuschreiben; aber sie ließ nicht zu, daß er von alten Zeiten redete, sondern gab ihm zu verstehen, wie schön die Gegenwart sei. Und täglich, wenn er[298] wegging, war es ihm wie ein Nebel vor den Augen, und er hatte das nicht gesagt, was zu sagen er doch beabsichtigt hatte, und wußte selbst nicht, was er tat, und zu welchem Zweck er kam, und wie das alles enden sollte. Er hörte auf, bei Helene zu verkehren; er erhielt zwar von ihr alle Tage vorwurfsvolle Billetts, verlebte aber trotzdem ganze Tage bei Rostows.

Quelle:
Tolstoj, Lev Nikolaevic: Krieg und Frieden. 4 Bde., Leipzig 1922, Band 2, S. 295-299.
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