XXIV

[357] Eine Verlobungsfeier fand nicht statt, und niemandem wurde von Bolkonskis Verlobung mit Natascha Mitteilung gemacht; darauf bestand Fürst Andrei. Er sagte, da er die Ursache des Aufschubes sei, so müsse er auch den ganzen schmerzlichen Druck desselben tragen. Er seinerseits habe sich durch sein Wort lebenslänglich gebunden; er wolle aber nicht, daß Natascha gebunden sei, und lasse ihr volle Freiheit. Wenn sie nach einem halben Jahr fühle, daß sie ihn nicht liebe, so werde sie durchaus berechtigt sein, ihm eine Absage zu erteilen. Selbstverständlich wollten weder die Eltern noch Natascha davon etwas hören; aber Fürst Andrei beharrte auf seinem Entschluß. Er besuchte Rostows[357] täglich, verkehrte aber mit Natascha nicht wie ein Bräutigam: er nannte sie »Sie« und küßte ihr nur die Hand. Zwischen dem Fürsten Andrei und Natascha hatten sich seit dem Tag, an dem er seinen Antrag gemacht hatte, ganz andere Beziehungen als früher herausgebildet, schlichte, nahe Beziehungen. Es war, als ob die beiden einander bisher noch nicht gekannt hätten. Er sowohl wie sie erinnerten sich jetzt gern daran, wie sie sich gegeneinander benommen hatten, bevor die Verlobung erfolgt war; jetzt fühlten sie sich als ganz andere Wesen: damals war alles gekünstelt und verstellt gewesen, jetzt war alles schlicht und wahrhaft. Anfangs machte sich in der Familie eine gewisse Verlegenheit im Verkehr mit dem Fürsten Andrei fühlbar; er erschien wie ein Mensch aus einer fremden Welt, und Natascha bemühte sich lange, ihre Angehörigen über das Wesen des Fürsten Andrei aufzuklären, und versicherte allen mit Stolz, er scheine nur ein so besonderer Mensch zu sein, im Grunde sei er von derselben Art wie sie alle, und sie fürchte sich gar nicht vor ihm, und es brauche sich überhaupt niemand vor ihm zu fürchten. Nach einigen Tagen hatte man sich in der Familie an ihn gewöhnt und führte ungeniert in seiner Gegenwart die frühere Lebensweise weiter, an der er selbst teilnahm. Er verstand es, mit dem Grafen über wirtschaftliche Dinge zu reden und mit der Gräfin und Natascha über Toilettenfragen und mit Sonja über Alben und Stickereien. Manchmal sprachen die Mitglieder der Familie Rostow unter sich und auch in Gegenwart des Fürsten Andrei ihre Verwunderung darüber aus, wie alles so gekommen war, und fanden, daß manches entschieden als Vorbereitung und Vorzeichen aufgefaßt werden müsse: der Besuch des Fürsten Andrei in Otradnoje, und ihre Übersiedlung nach Petersburg, und die Ähnlichkeit zwischen Natascha und dem Fürsten Andrei, die die Kinderfrau gleich bei dem ersten Besuch des Fürsten Andrei herausgefunden hatte,[358] und das Zusammentreffen des Fürsten Andrei mit Nikolai im Jahre 1805; und so entdeckten die Hausgenossen noch viele andere Vorbedeutungen auf das, was sich zugetragen hatte.

Im Haus herrschte jetzt jene poetische Langeweile und Schweigsamkeit, die sich immer einzustellen pflegen, wenn eine Braut und ein Bräutigam zugegen sind. Oft, wenn man zusammensaß, schwiegen alle. Mitunter standen die andern sachte auf und gingen hinaus; aber das Brautpaar schwieg, allein zurückgeblieben, doch in derselben Weise weiter. Nur selten sprachen die beiden von der künftigen Gestaltung ihres Lebens. Fürst Andrei hatte eine Scheu, darüber zu reden. Natascha teilte diese Empfindung, wie alle seine Empfindungen, die sie stets erriet. Einmal fragte sie ihn allerlei nach seinem kleinen Sohn. Fürst Andrei errötete, was ihm jetzt häufig begegnete, und was Natascha an ihm besonders gern hatte, und antwortete, sein Sohn werde nicht mit ihnen beiden zusammen leben.

»Warum nicht?« fragte Natascha betroffen.

»Ich kann ihn dem Großvater nicht wegnehmen, und dann ...«

»Wie lieb würde ich ihn haben!« rief Natascha, die sofort den Gedanken erriet, den er nicht aussprach. »Aber ich weiß, Sie wollen jeden Anlaß vermeiden, daß Ihnen und mir Vorwürfe gemacht würden.«

Der alte Graf trat mitunter zum Fürsten Andrei, küßte ihn und fragte ihn um Rat in betreff der Erziehung Petjas oder der dienstlichen Angelegenheiten Nikolais. Die alte Gräfin seufzte nicht selten, wenn sie das Brautpaar anblickte. Sonja fürchtete fortwährend, störend zu sein, und suchte Vorwände, um die Brautleute alleinzulassen, auch wenn es gar nicht in deren Wünschen lag.

Wenn Fürst Andrei sprach (und er war ein sehr geschickter Erzähler), so hörte Natascha, stolz auf ihn, zu; wenn sie[359] selbst redete, so bemerkte sie mit Angst und Freude zugleich, daß er sie aufmerksam und prüfend anschaute. Sie fragte sich zweifelnd: »Was sucht er in mir? Was möchte er mit seinem Blick ergründen? Wie, wenn das, was er mit seinem Blick sucht, gar nicht in mir ist?« Manchmal geriet sie in die ihr eigene ausgelassen fröhliche Stimmung hinein, und dann machte es ihr besondere Freude, zu hören und zu sehen, wie Fürst Andrei lachte. Er lachte selten; aber dafür gab er sich, wenn er einmal lachte, ganz seinem Lachen hin, und jedesmal nach einem solchen herzlichen Lachen fühlte sie sich ihm näher. Natascha wäre völlig glücklich gewesen, wenn sie nicht der Gedanke an die bevorstehende, heranrückende Trennung geängstigt hätte, wie denn auch er bei dem bloßen Gedanken daran blaß wurde und ein Gefühl von Kälte verspürte.

Am Tag vor seiner Abreise aus Petersburg brachte Fürst Andrei Pierre mit, der seit dem Ball kein einziges Mal bei Rostows gewesen war.

Pierre schien zerstreut und verlegen. Er knüpfte ein Gespräch mit der Mutter an. Natascha setzte sich mit Sonja an das Schachtischchen, was den Fürsten Andrei veranlaßte, ihr zu folgen. Er trat zu ihnen beiden hin.

»Sie kennen ja wohl Besuchow schon lange?« fragte er. »Haben Sie ihn gern?«

»Ja, er ist ein prächtiger Mensch, aber sehr komisch.«

Und wie immer, wenn sie von Pierre sprach, begann sie Anekdoten von seiner Zerstreutheit zu erzählen, teils wahre, teils solche, die von Witzbolden über ihn erfunden waren.

»Sie wissen, ich habe ihm unser Geheimnis anvertraut«, sagte Fürst Andrei. »Ich kenne ihn von frühen Jahren her. Er hat ein goldenes Herz. Ich bitte Sie, Natascha«, fuhr er, plötzlich sehr ernst werdend, fort, »ich reise weg, und Gott weiß, was alles vorfallen kann. Sie können aufhören, mich zu lieben ... Nun, ich[360] weiß, daß ich davon nicht sprechen soll. Aber um eines bitte ich Sie: was auch immer Ihnen zustoßen mag, wenn ich nicht hier bin ...«

»Was sollte mir denn zustoßen?«

»Wenn Sie irgendein Kummer befällt«, fuhr Fürst Andrei fort, »ich bitte Sie, und auch Sie, Fräulein Sonja, was auch immer vorfallen mag, wenden Sie sich an ihn, nur an ihn, um Rat und Hilfe. Er ist ein sehr zerstreuter, komischer Mensch, aber er hat ein wahrhaft goldenes Herz.«

Weder die Eltern noch Sonja noch Fürst Andrei selbst konnten vorhersehen, wie der Abschied von ihrem Bräutigam auf Natascha wirken werde. Mit gerötetem Gesicht, in großer Erregung, mit trockenen Augen ging sie an diesem Tag im Haus umher und beschäftigte sich mit den gleichgültigsten Dingen, als hätte sie gar kein Verständnis für das, was ihrer wartete. Sie weinte nicht einmal in dem Augenblick, als er ihr beim Abschied zum letztenmal die Hand küßte.

Sie sagte nur: »Reisen Sie nicht weg!«, und sie sagte das in einem Ton, der ihn veranlaßte, noch einmal ernstlich zu überlegen, ob er nicht wirklich dableiben sollte, und den er nachher lange Zeit nicht vergessen konnte. Auch als er abgereist war, weinte sie nicht; aber sie saß mehrere Tage lang, ohne zu weinen, in ihrem Zimmer, bezeigte für nichts Interesse und sagte nur ab und zu:

»Ach, warum ist er weggefahren!«

Aber zwei Wochen nach seiner Abreise genas sie, ebenso unerwartet für ihre Umgebung, von ihrer seelischen Krankheit und wurde wieder dieselbe Natascha, die sie früher gewesen war, nur mit gleichsam veränderter seelischer Physiognomie, so wie Kinder nach einer langwierigen Krankheit mit einem ganz anderen Gesicht vom Bett aufstehen.

Quelle:
Tolstoj, Lev Nikolaevic: Krieg und Frieden. 4 Bde., Leipzig 1922, Band 2, S. 357-361.
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