XXV

[361] Der Gesundheitszustand und die Charaktereigenschaften des alten Fürsten Nikolai Andrejewitsch Bolkonski verschlimmerten sich in diesem Jahr, nach der Abreise seines Sohnes, bedeutend. Er wurde noch reizbarer als früher, und die Ausbrüche seines grundlosen Zornes entluden sich größtenteils über die Prinzessin Marja. Er schien geflissentlich alle ihre wunden Punkte zu suchen, um seine Tochter in möglichst grausamer Weise geistig zu quälen. Prinzessin Marja hatte zwei Leidenschaften und daher auch zwei Freuden: ihren kleinen Neffen Nikolenka1 und die Religion, und beides waren Lieblingsthemen für die Angriffe und Spötteleien des Fürsten. Womit auch das Gespräch begonnen wurde, er lenkte es mit Vorliebe auf den Aberglauben alter Jungfern oder auf die schädliche Verhätschelung der Kinder. »Du möchtest ihn« (den kleinen Nikolenka) »zu ebenso einer alten Jungfer machen, wie du eine bist; das laß nur bleiben; Fürst Andrei will einen Sohn haben und nicht ein zimperliches Mädchen«, sagte er. Oder er wandte sich an Mademoiselle Bourienne und fragte sie in Gegenwart der Prinzessin Marja, wie ihr unsere Popen und Heiligenbilder gefielen, und machte darüber seine Späße.

Fortwährend fügte er der Prinzessin Marja schmerzliche Kränkungen zu; aber es kostete die Tochter gar keine Anstrengung, ihm zu verzeihen.

Konnte er denn überhaupt ihr gegenüber sich irgendwie schuldig machen, und konnte ihr Vater, der (davon war sie trotz alledem fest überzeugt) sie liebte, ungerecht sein? Und was war denn das eigentlich: die Gerechtigkeit? Die Prinzessin hatte niemals über dieses stolze Wort »Gerechtigkeit« nachgedacht.[362] Alle die komplizierten Gesetze der Menschheit flossen für sie in ein einziges einfaches, klares Gesetz zusammen: in das Gesetz der Liebe und Selbstaufopferung, das uns von Ihm gegeben ist, der aus Liebe für die Menschheit litt, obwohl Er selbst Gott war. Was ging es sie an, ob andere Menschen gerecht oder ungerecht waren? Sie kannte ihre eigene Pflicht: zu leiden und zu lieben; und diese Pflicht erfüllte sie.

Als Fürst Andrei im Winter nach Lysyje-Gory gekommen war, war er heiter, sanft und zärtlich gewesen, wie ihn Prinzessin Marja seit langer Zeit nicht gesehen hatte. Sie hatte geahnt, daß mit ihm etwas vorgegangen war; aber er hatte ihr nichts von seiner Liebe gesagt. Vor der Abreise hatte er eine lange Unterredung mit dem Vater gehabt; Prinzessin Marja hatte nicht gewußt, worüber; aber sie hatte bemerkt, daß beide vor der Abreise gegeneinander verstimmt waren.

Bald nach der Abreise des Fürsten Andrei schrieb Prinzessin Marja aus Lysyje-Gory nach Moskau an ihre Freundin Julja Karagina. Prinzessin Marja hätte gern aus dieser Julja und ihrem Bruder Andrei ein Paar gemacht, wie denn junge Mädchen immer dergleichen Pläne schmieden. Julja hatte damals gerade Trauer wegen des Todes ihres Bruders, der in der Türkei gefallen war. Der Brief lautete folgendermaßen:


»Der Kummer ist offenbar unser gemeinsames Los, meine liebe, teure Freundin Julja.

Der Verlust, den Sie erlitten haben, ist so schrecklich, daß ich ihn mir nur als eine besondere Gnade Gottes erklären kann, der aus Liebe Sie und Ihre vortreffliche Mutter prüfen will. Ach, meine Freundin, die Religion, und nur die Religion allein kann uns, ich will nicht sagen trösten, aber doch vor der Verzweiflung bewahren; nur die Religion kann uns das erklären, was der Mensch ohne ihre Beihilfe nicht zu begreifen vermag: warum brave,[363] gute, edle Menschen, die alle erforderlichen Eigenschaften besitzen, um in diesem Leben glücklich zu sein, die niemandem schaden, sondern für das Glück anderer notwendig sind, warum die zu Gott gerufen werden, während Menschen, die schlecht, unnütz, schädlich oder sich selbst und andern eine Last sind, am Leben bleiben. Der erste Todesfall, den ich mit ansah, und den ich nie mals vergessen werde, der Tod meiner lieben Schwägerin, hat auf mich diesen Eindruck gemacht. Gerade ebenso wie Sie an das Schicksal die Frage richten, warum Ihr prächtiger Bruder sterben mußte, geradeso fragte ich, weshalb unsere engelgleiche Lisa sterben mußte, die keinem Menschen etwas Böses tat und überhaupt nie andere als gute Gedanken in ihrer Seele hatte. Und jetzt, meine Freundin? Jetzt, wo seitdem erst fünf Jahre vergangen sind, beginne ich bereits mit meinem geringen Verstand einzusehen, weswegen sie sterben mußte, und auf welche Weise dieser Tod nur ein Ausdruck der unendlichen Güte des Schöpfers war, dessen Taten sämtlich, obgleich wir sie größtenteils nicht begreifen, nur Offenbarungen Seiner unendlichen Liebe zu Seinen Kreaturen sind. Vielleicht, so denke ich oft, war sie von zu engelhafter Unschuld, als daß sie die Kraft gehabt hätte, alle Pflichten einer Mutter zu erfüllen. Sie war ohne Tadel in ihrer Eigenschaft als junge Frau; vielleicht wäre sie nicht imstande gewesen, eine ebensolche Mutter zu sein. Jetzt hat sie uns und namentlich dem Fürsten Andrei eine mit dem reinsten Bedauern verbundene Erinnerung hinterlassen und gewiß dort in jener Welt eine Stätte erlangt, die ich für mich selbst nicht zu erhoffen wage. Aber um nicht nur von ihr allein zu sprechen, so hat dieser frühzeitige, schreckliche Todesfall, trotz allen Kummers, den wohltätigsten Einfluß auf mich und auf meinen Bruder ausgeübt. Damals, im Augenblick des Verlustes, konnten mir diese Gedanken nicht kommen; damals hätte ich sie mit Schrecken zurückgewiesen; aber[364] jetzt ist mir das alles ganz klar und unzweifelhaft. Ich schreibe Ihnen, liebe Freundin, dies alles nur, um Sie von der Wahrheit des Spruches im Evangelium zu überzeugen, der für mich zur Lebensregel geworden ist: es fällt kein Haar von unserm Haupt ohne Seinen Willen. Und Sein Wille wird nur durch Seine unendliche Liebe zu uns bestimmt, und daher kann alles, was nur immer uns zustößt, nur zu unserm Heil gereichen.

Sie fragen, ob wir den nächsten Winter in Moskau verleben werden. Trotz meines lebhaften Wunsches, Sie wiederzusehen, glaube und wünsche ich es nicht. Und Sie werden erstaunt sein zu hören, daß der Grund davon Bonaparte ist. Das hängt so zusammen. Der Gesundheitszustand meines Vaters hat sich merklich verschlechtert; er kann keinen Widerspruch ertragen und ist sehr reizbar. Diese Reizbarkeit tritt, wie Sie wissen, ganz besonders auf dem Gebiet der Politik hervor. Er vermag den Gedanken nicht zu ertragen, daß Bonaparte mit allen Herrschern Europas und insonderheit mit dem unsrigen, dem Enkel der großen Katharina, verkehrt, als ob er ihresgleichen wäre! Wie Sie wissen, interessiere ich mich für Politik nicht im geringsten; aber aus den Äußerungen meines Vaters und seinen Gesprächen mit Michail Iwanowitsch weiß ich alles, was in der Welt vorgeht, und namentlich, welche Ehren diesem Bonaparte erwiesen werden, der, wie es scheint, auf dem ganzen Erdball, nur in Lysyje-Gory noch nicht als großer Mann, geschweige denn als französischer Kaiser, anerkannt wird. Und das kann mein Vater nicht ertragen. Mir scheint, daß mein Vater namentlich infolge seiner politischen Anschauungen, und weil er die heftigen Zusammenstöße voraussieht, die er bei seiner Manier, seine Meinung ohne Rücksicht auf irgend jemand auszusprechen, mit Sicherheit haben würde – mir scheint, daß er aus diesem Grund ungern von einer Reise nach Moskau spricht. Alles, was er dort durch die[365] ärztliche Behandlung gewinnen würde, würde er durch die Debatten über Bonaparte, die sich nicht würden vermeiden lassen, wieder einbüßen. Jedenfalls aber wird sich das sehr bald entscheiden.

Unser Familienleben geht, abgesehen von einem Besuch, den uns mein Bruder Andrei gemacht hat, seinen alten Gang. Er hat sich, wie ich Ihnen schon geschrieben habe, in der letzten Zeit sehr verändert: nach dem schweren Schlag, der ihn getroffen hat, ist er erst jetzt, in diesem Jahr, seelisch wieder völlig aufgelebt. Er ist wieder so geworden, wie ich ihn als Knaben gekannt habe: gut, zärtlich, ein Mensch mit einem goldenen Herzen, wie ich kein zweites kenne. Wie mir scheint, hat er eingesehen, daß das Leben für ihn noch nicht zu Ende ist. Aber gleichzeitig mit dieser seelischen Umwandlung hat sich sein leiblicher Zustand sehr verschlechtert. Er ist magerer geworden als früher und nervöser. Ich bin um ihn in Sorge und freue mich, daß er diese Reise ins Ausland unternommen hat, die die Ärzte ihm schon längst verordnet hatten. Ich hoffe, daß ihn das wiederherstellen wird.

Sie schrieben mir, daß er in Petersburg für einen der tätigsten, gebildetsten und klügsten jungen Männer gilt. Verzeihen Sie mir diesen Familiendünkel: ich habe nie daran gezweifelt, daß er das ist. Das Gute, das er hier allen erwiesen hat, von seinen Bauern angefangen bis zu den Edelleuten, ist gar nicht zu zählen. Bei seiner Übersiedelung nach Petersburg ist ihm nur der gebührende Lohn zuteil geworden. Ich wundere mich, auf welche Weise überhaupt Gerüchte aus Petersburg nach Moskau gelangen, und noch dazu so falsche wie das, von dem Sie mir schreiben: über eine angeblich bevorstehende Heirat zwischen meinem Bruder und der kleinen Rostowa. Ich glaube nicht, daß Andrei sich jemals wieder verheiraten wird, und am allerwenigsten mit ihr. Und zwar aus folgenden Gründen: erstens weiß ich, daß, wenn er auch nur[366] selten von seiner verstorbenen Frau spricht, doch der Kummer über diesen Verlust in seinem Herzen zu tief Wurzel geschlagen hat, als daß er sich jemals entschließen könnte, ihr eine Nachfolgerin und unserm kleinen Engel eine Stiefmutter zu geben; zweitens weil, soviel ich weiß, dieses junge Mädchen nicht zu der Kategorie von Frauen gehört, wie sie dem Fürsten Andrei gefallen können. Ich glaube nicht, daß Fürst Andrei sie zu seiner Frau wählen würde, und sage offen: ich würde es auch nicht wünschen.

Aber ich bin zu sehr ins Plaudern hineingeraten; ich bin schon am Ende des zweiten Bogens. Leben Sie wohl, meine liebe Freundin; Gott behüte Sie in Seinem heiligen, mächtigen Schutz. Meine liebe Freundin Mademoiselle Bourienne küßt Sie.

Marja.«

Fußnoten

1 Verkleinerungsform für Nikolai.

Anmerkung des Übersetzers.


Quelle:
Tolstoj, Lev Nikolaevic: Krieg und Frieden. 4 Bde., Leipzig 1922, Band 2, S. 361-367.
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