XXVI

[367] In der Mitte des Sommers erhielt Prinzessin Marja unerwartet einen Brief vom Fürsten Andrei aus der Schweiz, in dem er ihr eine seltsame, überraschende Neuigkeit mitteilte. Fürst Andrei gab ihr Kenntnis von seiner Verlobung mit Komtesse Rostowa.

Dieser ganze Brief atmete eine schwärmerische Liebe zu seiner Braut und eine zärtliche Freundschaft und ein herzliches Vertrauen zu seiner Schwester. Er schrieb, er habe noch nie so geliebt, wie er jetzt liebe; erst jetzt habe er für das Leben Verständnis gewonnen und es in seinem Wert erkannt; er bat die Schwester um Verzeihung dafür, daß er bei seinem Besuch in Lysyje-Gory ihr von diesem Entschluß nichts gesagt habe, obwohl er mit dem Vater darüber gesprochen habe. Er habe ihr deswegen nichts gesagt, weil Prinzessin Marja dann den Vater gebeten haben würde, seine Einwilligung zu geben, dadurch den Vater, ohne doch dieses Ziel zu erreichen, gereizt und dann die[367] ganze Last seines Mißvergnügens zu tragen gehabt hätte. »Übrigens«, schrieb er, »war damals die Sache noch nicht so definitiv entschieden wie jetzt. Damals bestimmte mir der Vater eine Wartezeit von einem Jahr, und nun sind schon sechs Monate, die Hälfte der festgesetzten Zeit, vergangen, und ich verharre fester als je bei meinem Entschluß. Wenn mich nicht die Ärzte hier im Bad zurückhielten, so wäre ich selbst schon in Rußland; aber so muß ich meine Rückkehr noch drei Monate aufschieben. Du kennst mich und mein Verhältnis zum Vater. Ich brauche nichts von ihm; ich bin bisher von ihm unabhängig gewesen und werde es immer sein; aber wenn ich etwas wider seinen Willen täte und mir dadurch seinen Zorn zuzöge, während ihm doch vielleicht nur noch so kurze Zeit bei uns zu sein beschieden ist, so würde ich mir dadurch selbst die Hälfte meines Glückes zerstören. Ich schreibe jetzt an ihn einen Brief über eben diesen Gegenstand und bitte Dich, einen günstigen Augenblick abzupassen, ihm den Brief zu übergeben und mich dann zu benachrichtigen, wie er die ganze Sache ansieht, und ob Hoffnung darauf vorhanden ist, daß er in eine Verkürzung der Wartezeit um drei Monate willigt.«

Nach langem Schwanken, Zweifeln und Beten stellte Prinzessin Marja dem Vater den Brief zu. Am folgenden Tag sagte der alte Fürst zu ihr in ruhigem Ton:

»Schreibe deinem Bruder, er möchte warten, bis ich tot bin ... Es wird nicht mehr lange dauern. Ich werde ihn bald frei machen ...«

Die Prinzessin wollte etwas erwidern; aber der Vater ließ sie nicht zu Wort kommen und redete immer lauter und lauter weiter.

»Heirate nur, heirate nur, mein Söhnchen ...! Hast dir eine schöne Verwandtschaft ausgesucht ...! Sind wohl sehr kluge[368] Leute, he? Reiche Leute, he? Jawohl, jawohl! Eine nette Stiefmutter wird Nikolenka bekommen! Schreib ihm nur, meinetwegen könnte er gleich morgen Hochzeit machen. Die da wird Nikolenkas Stiefmutter sein, und ich werde die Bourienne heiraten ...! Hahaha, er soll auch eine Stiefmutter haben! Nur eins verlange ich: mehr Weiber mag ich in meinem Haus nicht haben; wenn er heiratet, dann soll er für sich wohnen. Vielleicht wirst du auch zu ihm ziehen?« wandte er sich an Prinzessin Marja. »Nun, in Gottes Namen! Mach, daß du wegkommst; mach, daß du wegkommst!«

Nach diesem Zornesausbruch sprach der Fürst auch nicht ein einziges Mal mehr über diese Angelegenheit. Aber sein zurückgehaltener Ärger darüber, daß sein Sohn nicht höher hinaus wollte, kam in dem Verhältnis des Vaters zur Tochter zum Ausdruck. Zu den früheren beiden Themen, die der Fürst für seine Spötteleien benutzte, trat nun noch ein neues: Äußerungen, daß er seinen Kindern eine Stiefmutter geben wolle. Und zu diesen Äußerungen stimmten seine Liebenswürdigkeiten gegen Mademoiselle Bourienne.

»Warum sollte ich sie nicht heiraten?« sagte er zu seiner Tochter. »Sie wird eine famose Fürstin abgeben!«

Und zu ihrer staunenden Verwunderung nahm Prinzessin Marja seit dieser Zeit wahr, daß ihr Vater wirklich anfing, die Französin mehr und mehr an sich heranzuziehen. Prinzessin Marja schrieb dem Fürsten Andrei, wie der Vater seinen Brief aufgenommen habe; aber sie tröstete den Bruder, indem sie ihm Hoffnung machte, daß es noch gelingen werde, den Vater freundlich zu stimmen.

Nikolenka und seine Erziehung, Andrei und die Religion; das war es, worin Prinzessin Marja ihren Trost und ihre Freude fand; aber außerdem hegte sie, wie denn jeder Mensch seine[369] persönlichen Hoffnungen haben muß, in der geheimsten Tiefe ihrer Seele eine verborgene Sehnsucht und Hoffnung, die für sie in ihrem Leben eine besondere Quelle des Trostes war. Diese tröstliche Sehnsucht und Hoffnung entstammte dem Verkehr mit den Gottesleuten (den Verzückten und den Wallfahrern), die ohne Wissen des Fürsten sie besuchten. Je länger Prinzessin Marja lebte, je mehr sie das Leben aus eigener Erfahrung und durch Beobachtung anderer kennenlernte, um so mehr staunte sie über die Kurzsichtigkeit der Menschen, die hier auf Erden Genuß und Glück suchen und sich abmühen und leiden und kämpfen und einander Böses tun, um dieses unmögliche, eingebildete und sündhafte Glück zu erreichen. »Fürst Andrei«, so dachte sie bei sich, »hat eine Frau geliebt, und sie ist gestorben; nun hat er daran noch nicht genug, er will sein Glück auf eine andere Frau setzen. Der Vater ist nicht einverstanden, weil er für Andrei eine vornehmere, reichere Partie wünscht. Und so kämpfen sie alle und leiden, sie quälen und verderben ihre Seele, ihre unsterbliche Seele, um Güter zu erreichen, deren Dauer doch nicht mehr als einen Augenblick beträgt. Und nicht genug, daß wir das aus uns selbst wissen, es ist auch Christus, der Sohn Gottes, auf die Erde herabgekommen und hat uns gesagt, daß dieses Leben ein schnell vergängliches Leben ist, eine Prüfung; aber trotz alledem klammern wir uns an dieses Leben und meinen in ihm das Glück zu finden. Wie geht es nur zu, daß niemand das begriffen hat?« fragte sich Prinzessin Marja. »Niemand als diese verachteten Gottesleute, die mit dem Quersack auf den Schultern durch die Hintertür zu mir kommen, in Angst, von dem Fürsten gesehen zu werden; und was sie dabei fürchten, ist nicht, daß sie etwas Schlimmes von ihm erleiden könnten, sondern daß sie ihm ein Anlaß werden könnten, eine Sünde zu begehen. Von der Familie, der Heimt und allen Sorgen um irdische Güter sich[370] loszumachen und, durch nichts gebunden, in grobem, hanfenem Kleid, unter fremdem Namen, von Ort zu Ort zu wandern, ohne jemandem Schaden zu tun, sondern für die Menschen betend, sowohl für diejenigen, die uns von ihrer Schwelle wegtreiben, als auch für diejenigen, die uns Schutz gewähren: das ist die höchste Erkenntnis und das beste Leben!«

Es war da eine Pilgerin namens Fedosjuschka, eine fünfzigjährige, kleine, stille, pockennarbige Frau, die schon mehr als dreißig Jahre lang barfuß und mit Ketten behangen wallfahrtete. Dieser war die Prinzessin Marja besonders zugetan. Als Fedosjuschka einmal im dunklen Zimmer, in dem nur das Lämpchen vor dem Heiligenschrein brannte, allerlei aus ihrem Leben erzählte, da drängte sich der Prinzessin Marja unwiderstehlich die Überzeugung auf, daß Fedosjuschka allein den wahren Weg des Lebens gefunden habe, und es kam ihr der Gedanke, selbst wallfahrten zu gehen. Sobald Fedosjuschka schlafen gegangen war, dachte Prinzessin Marja lange über diese Frage nach und gelangte endlich zu dem Resultat, daß, mochte es auch sonderbar scheinen, es für sie ein Ding der Notwendigkeit sei, zu wallfahrten. Sie vertraute ihre Absicht nur ihrem Beichtvater, dem Mönch Vater Akinsi, an, und der Beichtvater billigte ihr Vorhaben. Unter dem Vorwand, sie wolle einer Wallfahrerin damit ein Geschenk machen, schaffte sich Prinzessin Marja den vollständigen Anzug einer Wallfahrerin an: ein grobes Kleid, Bastschuhe, einen Tuchmantel und ein schwarzes Tuch. Oft trat sie zu der Kommode, die diesen weihevollen Inhalt barg, und blieb davor stehen, in zweifelnder Überlegung, ob wohl schon der richtige Zeitpunkt gekommen sei, um ihr Vorhaben zur Ausführung zu bringen.

Oft, wenn sie die Erzählungen der Pilgerinnen anhörte, geriet sie durch diese einfachen Reden, die den Erzählerinnen bereits[371] mechanisch geworden waren, für sie, die Hörerin, aber einen tiefen Sinn enthielten, dermaßen in Erregung, daß sie nahe daran war, alles im Stich zu lassen und auf und davon zu gehen. In ihrer Phantasie sah sie sich bereits, wie sie mit Fedosjuschka in grobem Gewand, mit Stock und Quersack auf der staubigen Landstraße dahinschritt und ohne Haß, ohne irdische Liebe, ohne Wünsche von einem Heiligen zum andern pilgerte, und schließlich dorthin, wo es kein Leid und kein Seufzen gibt, sondern ewige Freude und Seligkeit.

»Wenn ich an irgendeine Stätte komme, so werde ich da beten; kann ich mich da nicht eingewöhnen und den Ort liebgewinnen, so werde ich weitergehen. Ich werde so lange gehen, bis mir die Füße den Dienst versagen, und dann werde ich mich irgendwo niederlegen und sterben und endlich in jenen ewigen, stillen Hafen gelangen, wo es kein Leid und kein Seufzen gibt!« dachte Prinzessin Marja.

Aber wenn sie dann ihren Vater und namentlich den kleinen Nikolenka ansah, wurde sie in ihrem Vorsatz doch wieder wankend, weinte im stillen und fühlte, daß sie eine große Sünderin war: denn sie liebte ihren Vater und ihren Neffen mehr als den allmächtigen Gott.

Quelle:
Tolstoj, Lev Nikolaevic: Krieg und Frieden. 4 Bde., Leipzig 1922, Band 2, S. 367-372.
Lizenz:
Kategorien:

Buchempfehlung

Schnitzler, Arthur

Der Weg ins Freie. Roman

Der Weg ins Freie. Roman

Schnitzlers erster Roman galt seinen Zeitgenossen als skandalöse Indiskretion über das Wiener Gesellschaftsleben. Die Geschichte des Baron Georg von Wergenthin und der aus kleinbürgerlichem Milieu stammenden Anna Rosner zeichnet ein differenziertes, beziehungsreich gespiegeltes Bild der Belle Époque. Der Weg ins Freie ist einerseits Georgs zielloser Wunsch nach Freiheit von Verantwortung gegenüber Anna und andererseits die Frage des gesellschaftlichen Aufbruchs in das 20. Jahrhundert.

286 Seiten, 12.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Geschichten aus dem Sturm und Drang II. Sechs weitere Erzählungen

Geschichten aus dem Sturm und Drang II. Sechs weitere Erzählungen

Zwischen 1765 und 1785 geht ein Ruck durch die deutsche Literatur. Sehr junge Autoren lehnen sich auf gegen den belehrenden Charakter der - die damalige Geisteskultur beherrschenden - Aufklärung. Mit Fantasie und Gemütskraft stürmen und drängen sie gegen die Moralvorstellungen des Feudalsystems, setzen Gefühl vor Verstand und fordern die Selbstständigkeit des Originalgenies. Für den zweiten Band hat Michael Holzinger sechs weitere bewegende Erzählungen des Sturm und Drang ausgewählt.

424 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon