VI

[261] In der ersten Zeit seines Aufenthalts in Petersburg fühlte Fürst Andrei, daß der ganze wohlgeordnete Gedankenschatz, den er sich während seines einsamen Lebens mit vieler Mühe zurechtgemacht hatte, durch die kleinlichen Sorgen, die ihn in[261] Petersburg in Anspruch nahmen, völlig in Verwirrung gebracht wurde.

Wenn er am Abend nach Hause kam, so trug er in sein Notizbuch vier oder fünf notwendige Besuche oder Zusammenkünfte ein, bei denen er zu festgesetzten Stunden zu erscheinen hatte. Die durch das Leben erforderte mechanische Tätigkeit, wobei der ganze Tag kunstvoll so eingeteilt wurde, daß überall ein rechtzeitiges Erscheinen möglich war, absorbierte einen großen Teil der eigentlichen Lebensenergie. Er tat nichts, er dachte nicht einmal an etwas und hatte auch gar keine Zeit zum Denken; er konnte nur, was er vorher auf dem Land durchdacht hatte, vortragen, und das tat er allerdings mit gutem Erfolg.

Er wurde sich mitunter zu seinem Mißvergnügen bewußt, daß es ihm begegnet war, an einem und demselben Tag in verschiedenen Gesellschaften ganz dasselbe zu wiederholen. Aber oft war er ganze Tage lang so beschäftigt, daß er keine Zeit hatte, daran zu denken, daß er nichts dachte.

Wie Speranski auf den Fürsten Andrei bei dem ersten Zusammensein in Kotschubeis Haus einen starken Eindruck gemacht hatte, so auch bald darauf am Mittwoch, als Speranski in seiner eigenen Wohnung den Fürsten Andrei allein empfing und lange und vertraulich mit ihm redete.

Fürst Andrei hielt eine so gewaltige Anzahl von Menschen für verächtliche, geringwertige Geschöpfe und trug ein solches Verlangen, in einem andern die lebendige Verkörperung jener Vollkommenheit zu finden, nach der er selbst strebte, daß sich leicht bei ihm die Überzeugung herausbildete, er habe in Speranski dieses Ideal eines vollkommen klugen, sittlich guten Menschen gefunden. Hätte Speranski durch seine Geburt derselben gesellschaftlichen Sphäre angehört wie Fürst Andrei selbst, wäre er ebenso erzogen worden und hätte er in seinem geistigen Leben dieselben[262] Gewohnheiten gehabt, so würde Fürst Andrei bald seine schwachen, menschlichen, nicht heldenhaften Seiten herausgefunden haben; so aber flößte diese ihm fremde logische Denkweise ihm um so größere Hochachtung ein, als er für sie kein völliges Verständnis hatte. Außerdem kokettierte Speranski (ob nun, weil er die Fähigkeiten des Fürsten Andrei schätzte, oder weil er für nötig hielt, ihn für sich zu gewinnen) vor dem Fürsten Andrei mit seinem unparteiischen, ruhig abwägenden Verstand und brachte dem Fürsten Andrei gegenüber jene feine Art der Schmeichelei zur Anwendung, die mit Selbstbewußtsein verbunden ist und darin besteht, stillschweigend anzuerkennen, daß der andere, neben einem selbst, der einzige Mensch sei, der die Fähigkeit besitze, die ganze Dummheit aller übrigen Menschen und die Verständigkeit und Tiefe der Gedanken, die man selbst ausspricht, zu begreifen.

Im Laufe ihrer langen Unterredung am Mittwoch abend gebrauchte Speranski wiederholt Wendungen von folgender Art: »Wenn wir etwas sagen oder tun, was sich über das allgemeine Niveau eingewurzelter Gewohnheiten erhebt, so wird das mißgünstig angesehen«, oder mit einem Lächeln: »Aber wir möchten, daß sowohl die Wölfe satt werden als auch die Schafe heil bleiben«, oder: »Das können die Leute nicht begreifen«, und immer mit demselben Ausdruck, welcher besagte: »Wir, das sind Sie und ich; wir beide wissen, was an den andern dran ist, und wer wir sind.«

Dieses erste lange Gespräch mit Speranski verstärkte lediglich beim Fürsten Andrei die Empfindung, die er schon bei der ersten Begegnung mit ihm gehabt hatte. Er sah in ihm einen klugen Mann, von ernster Gesinnung und gewaltigem Verstand, der durch Energie und Beharrlichkeit zur Macht gelangt war und diese Macht nun ausschließlich zum Wohl Rußlands[263] benutzte. Speranski war in den Augen des Fürsten Andrei genau der Mann, der er, Andrei, selbst so lebhaft zu sein wünschte: ein Mann, der alle Erscheinungen des Lebens mit dem Verstand zu erklären imstande war, nur das, was verständig war, gelten ließ und an alles den Maßstab des Verstandes anzulegen wußte. In Speranskis Darlegungen erschien alles so einfach und so klar, daß Fürst Andrei ihm unwillkürlich in allen Stücken beistimmte. Wenn er widersprach und disputierte, so tat er das nur, weil er absichtlich selbständig zu bleiben und sich den Ansichten Speranskis nicht vollständig unterzuordnen wünschte. Alles war an Speranski, wie es sein sollte; alles war gut und schön; nur eines störte den Fürsten Andrei: das war Speranskis kalter, spiegelartiger Blick, der kein Eindringen in die Seele gestattete, und seine weiße, zarte Hand, die Fürst Andrei oft unwillkürlich betrachtete, so wie man es gewöhnlich mit den Händen von Machthabern tut. Der spiegelnde Blick und diese zarte Hand hatten eigentümlicherweise die Wirkung, den Fürsten Andrei nervös zu machen. Unangenehm fiel dem Fürsten Andrei auch noch die übermäßige Geringschätzung der anderen Menschen auf, die er bei Speranski wahrnahm, und ferner dessen bunt wechselndes Verfahren bei den Beweisen, die er zur Unterstützung seiner Ansichten vorbrachte. Er gebrauchte, mit Ausnahme von Bildern und Vergleichen, alle möglichen Waffen aus der Rüstkammer des Geistes und ging allzu kühn, wie es dem Fürsten Andrei vorkam, von einer Waffe zur andern über. Bald stellte er sich auf den Boden des praktischen Handelns und brach den Stab über die theoretischen Träumer; bald ergriff er die Geißel des Satirikers und verspottete seine Gegner mit beißender Ironie; bald stellte er sich als strengen Logiker dar; bald schwang er sich in das Reich der Metaphysik hinauf. (Dieser letzten Kampfart bediente er sich bei der Beweisführung besonders oft.) Er spielte[264] dann die Streitfrage in die hohen metaphysischen Regionen hinüber, ließ sich auf die Definitionen des Raumes, der Zeit und des Denkens ein und stieg, nachdem er sich dort mit Widerlegungsgründen versehen hatte, wieder auf den eigentlichen Boden der Debatte herab.

Aber ein Zug in Speranskis Geist imponierte dem Fürsten Andrei ganz besonders: das war dessen zweifelsfreier, unerschütterlicher Glaube an die unbedingte Macht und gesetzmäßige Oberherrschaft des Verstandes. Offenbar konnte in Speranskis Kopf niemals der dem Fürsten Andrei ganz geläufige Gedanke Eingang finden, daß man denn doch nicht alles, was man denkt, auszudrücken vermöge, und niemals wurde bei ihm ein Zweifel rege: »Ist nicht vielleicht alles, was ich denke, und alles, was ich glaube, dummes Zeug?« Und gerade diese Denkweise Speranskis übte auf den Fürsten Andrei die größte Anziehungskraft aus.

Während der ersten Zeit seiner Bekanntschaft mit Speranski hegte Fürst Andrei für ihn ein enthusiastisches Gefühl der Bewunderung, ähnlich dem, das er früher für Bonaparte empfunden hatte. Der Umstand, daß Speranski der Sohn eines Geistlichen war und viele dumme Leute meinten, ihn als linkischen Popensohn und beschränkten Zögling einer geistlichen Anstalt geringschätzen zu dürfen, dieser Umstand veranlaßte den Fürsten Andrei, ihn besonders schonend zu beurteilen, und so wurde die Empfindung, die er ihm gegenüber hatte, unbewußt noch verstärkt.

An jenem ersten Abend, den Bolkonski in Speranskis Haus verlebte, erzählte Speranski, als von der Kommission für Gesetzgebung die Rede war, dem Fürsten Andrei mit bitterer Ironie, diese Kommission bestehe schon hundertfünfzig Jahre lang, habe bereits Millionen gekostet und nichts geleistet, als daß[265] Rosenkampf alle Kapitel einer vergleichenden Zusammenstellung von Gesetzen mit Etiketten beklebt habe. »Das ist die ganze Leistung, für die das Reich Millionen gezahlt hat!« sagte er.

»Wir möchten«, fuhr er dann fort, »gern dem Senat eine neue richterliche Gewalt geben; aber wir haben keine Gesetze. Deshalb ist es für Männer wie Sie, Fürst, jetzt geradezu eine Sünde, sich vom Staatsdienst fernzuhalten.«

Fürst Andrei erwiderte, daß hierzu eine juristische Bildung erforderlich sei, die er nicht besitze.

»Aber die besitzt ja niemand; also haben Sie keinen Grund. Nein, das ist ein Circulus vitiosus, aus dem man mit Gewalt herauskommen muß.«


Eine Woche darauf war Fürst Andrei Mitglied des Komitees zur Abfassung des Militärreglements und, was er in keiner Weise erwartet hatte, Abteilungsvorsteher in der Kommission zur Herstellung eines Gesetzbuches. Auf Speranskis Bitte übernahm er den ersten Teil des in der Ausarbeitung begriffenen Bürgerlichen Gesetzbuches und arbeitete mit Hilfe des »Code Napoléon« und des Justinianischen »Corpus juris« an der Fertigstellung des Abschnittes: Das Personenrecht.

Quelle:
Tolstoj, Lev Nikolaevic: Krieg und Frieden. 4 Bde., Leipzig 1922, Band 2, S. 261-266.
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