VII

[266] Vor ungefähr zwei Jahren, im Jahre 1808, war Pierre, nachdem er von der Reise zur Revision seiner Güter wieder nach Petersburg zurückgekehrt war, ohne es zu wollen, in den Vorstand der Petersburger Freimaurerei gewählt worden. In dieser Eigenschaft veranstaltete er Tafellogen und Trauerlogen, warb neue Mitglieder und bemühte sich, eine Vereinigung verschiedener Logen zustande zu bringen und Originalurkunden zu erwerben. Er gab aus eigener Tasche Geld zur Ausstattung der[266] Logenräume und erhöhte, soweit er konnte, den Betrag der Almosensammlungen, bei denen die Mehrzahl der Mitglieder sich geizig und säumig zeigte. Das Armenhaus, das der Orden in Petersburg errichtet hatte, erhielt er fast ganz allein aus seinen Mitteln.

Sein Leben verlief dabei in derselben Weise wie früher: unter denselben Genüssen und Ausschweifungen. Er liebte es, gut zu dinieren und stark zu trinken, und obgleich er es für unmoralisch und unwürdig hielt, war er nicht imstande, sich von den Vergnügungen der Junggesellen fernzuhalten, in deren Gesellschaft er lebte.

Trotz der Benommenheit, in die diese Beschäftigungen und diese Genüsse ihn versetzten, begann Pi erre dennoch nach Verlauf eines Jahres zu fühlen, daß der Boden der Freimaurerei, auf dem er stand, um so mehr unter seinen Füßen wich, je fester er auf ihm zu fußen bemüht war. Und gleichzeitig fühlte er, daß, je tiefer der Boden unter seinen Füßen wich, es um so weniger von seinem Willen abhing, von diesem Boden loszukommen. Mit seinem Eintritt in die Freimaurerei war es ihm gegangen wie jemandem, der vertrauensvoll einen Fuß auf die ebene Oberfläche eines Sumpfes setzt. Er war mit dem Fuß, den er daraufgesetzt hatte, eingesunken. In dem Wunsch, sich völlig davon zu überzeugen, daß der Boden doch fest sei, hatte er auch den anderen Fuß daraufgesetzt, war mit diesem noch tiefer hineingefahren und watete nun, ohne sich heraushelfen zu können, bis an die Knie im Sumpf.

Osip Alexejewitsch war nicht in Petersburg. (Er hatte sich in der letzten Zeit von den Angelegenheiten der Petersburger Logen zurückgezogen und lebte jetzt ständig in Moskau.) Alle Logenbrüder waren Männer, die Pierre im gewöhnlichen Leben kannte, und es wurde ihm schwer, in ihnen nur Freimaurerbrüder und nicht den Fürsten B. und Iwan Wasiljewitsch D. und[267] andere zu sehen, die er im gewöhnlichen Leben großenteils als schwache, geringwertige Menschen kannte. Unter den freimaurerischen Schürzen und Abzeichen glaubte er bei diesen Leuten ihre Uniformen zu erblicken und die Orden, die im äußeren Leben das Ziel ihres eifrigen Strebens bildeten. Oft, wenn er Almosen sammelte und von zehn Mitgliedern, von denen die Hälfte ebenso reich war wie er, im ganzen nur zwanzig bis dreißig Rubel, noch dazu größtenteils auf Kredit, in der Liste eingetragen fand, mußte Pierre an den Freimaurereid denken, in welchem jeder Bruder sein ganzes Vermögen für den Nächsten hinzugeben versprach; und in seiner Seele wurden Zweifel rege, die er ohne rechten Erfolg zu verscheuchen suchte.

Alle Brüder, die er kannte, teilte er in vier Klassen ein. Zu der ersten Klasse rechnete er diejenigen Brüder, die weder an der eigentlichen Logenarbeit noch an der menschenfreundlichen Tätigkeit der Loge aktiven Anteil nahmen, sondern sich ausschließlich mit den Geheimnissen der Ordenswissenschaft beschäftigten: mit Untersuchungen über die dreifache Benennung Gottes, oder über die drei Urelemente der Dinge, Schwefel, Quecksilber und Salz, oder über die Bedeutung des Quadrates und aller Figuren des salomonischen Tempels. Pierre hegte zwar Achtung vor dieser Klasse der Brüder Freimaurer, zu welcher namentlich die älteren Brüder gehörten und auch, nach Pierres Meinung, Osip Alexejewitsch selbst; aber er teilte ihre Interessen nicht. Seine Herzensneigung galt nicht der mystischen Seite der Freimaurerei.

Zu der zweiten Klasse zählte Pierre sich selbst und die ihm ähnlichen Brüder. Das waren diejenigen, die noch suchten, noch schwankenden Schrittes gingen und noch nicht den geraden deutlichen Weg in der Freimaurerei gefunden hatten, aber ihn zu finden hofften.[268]

Zur dritten Klasse rechnete er diejenigen Brüder (und sie bildeten die größte Zahl), die in der Freimaurerei nichts sahen als äußerliche Formen und Zeremonien und auf die genaue Einhaltung dieser äußeren Formen großen Wert legten, ohne sich um ihren Inhalt und um ihre Bedeutung zu kümmern. Von dieser Art war zum Beispiel Willarski, ja sogar der Meister vom Stuhl der Hauptloge.

Zu der vierten Klasse endlich zählte er eine gleichfalls große Anzahl von Brüdern, namentlich viele, die in der letzten Zeit in die Bruderschaft eingetreten waren. Das waren Leute, die nach Pierres Beobachtungen an nichts glaubten, sich für die Bestrebungen der Freimaurerei nicht interessierten und sich in die Loge nur deswegen hatten aufnehmen lassen, um mit jungen, reichen, durch Konnexionen und Rang einflußreichen Brüdern, deren sehr viele der Loge angehörten, in nähere Beziehung zu kommen.

Pierre begann sich von seiner Tätigkeit unbefriedigt zu fühlen. Es wollte ihm mitunter scheinen, als ob die Freimaurerei, oder wenigstens diejenige Freimaurerei, die er hier kennengelernt hatte, nur in Äußerlichkeiten bestehe. Er ließ sich nicht beikommen, an der Freimaurerei selbst zu zweifeln; aber er argwöhnte, daß die russische Freimaurerei auf einen falschen Weg geraten und von ihrer ursprünglichen Tendenz abgekommen sei. Und darum reiste Pierre gegen Ende des Jahres ins Ausland, um sich in die höheren Geheimnisse des Ordens einweihen zu lassen.


Gegen Ende des Sommers 1809 kehrte Pierre wieder nach Petersburg zurück. Durch die Korrespondenz, die unsere Freimaurer mit denen des Auslandes unterhielten, war bekannt geworden, daß Besuchow sich im Ausland das Vertrauen vieler[269] hochgestellter Persönlichkeiten erworben habe, in viele Geheimnisse eingedrungen und zum höchsten Grad befördert sei und vieles mitbringe, wodurch das Gedeihen der gesamten Freimaurerei in Rußland gefördert werden könne. Die Petersburger Freimaurer kamen sämtlich zu ihm, um sich bei ihm in Gunst zu setzen, und alle gewannen dabei den Eindruck, daß er etwas verberge und für eine besondere Gelegenheit in Bereitschaft setze.

Es wurde eine feierliche Logensitzung des zweiten Grades angesetzt, und Pierre versprach, in dieser Sitzung das mitzuteilen, was er den Petersburger Brüdern von den höchsten Leitern des Ordens auszurichten habe. Die Sitzung war stark besucht. Nach den gewöhnlichen Zeremonien stand Pierre auf und begann seine Rede.

»Liebe Brüder!« begann er, errötend und stotternd, mit dem Manuskript in der Hand. »Es ist nicht genug, daß wir in der Stille der Loge unsere Geheimnisse hüten; wir müssen wirken ... wirken. Wir haben uns von Schläfrigkeit überwältigen lassen; aber wir müssen wirken.« Pierre nahm sein Heft und fing an vorzulesen.

»Um die reine Wahrheit auszubreiten und der Tugend zum Sieg zu verhelfen«, las er, »müssen wir die Menschen von Vorurteilen befreien, müssen Grundsätze verbreiten, die mit dem Geist der Zeit im Einklang stehen, und müssen uns der Erziehung der Jugend annehmen. Wir müssen uns durch unzerreißbare Bande mit den verständigsten Männern vereinigen, müssen Aberglauben, Unglauben und Dummheit kühn und zugleich mit Überlegung überwinden und müssen aus der Zahl unserer Anhänger Menschen heranbilden, die durch die Einheitlichkeit des Zieles fest verbunden sind und dadurch Macht und Einfluß besitzen.[270]

Um dieses Ziel zu erreichen, müssen wir der Tugend das Übergewicht über das Laster verschaffen; wir müssen dahin streben, daß der ehrenhafte Mensch schon auf dieser Welt einen lebenslänglichen Lohn für seine Tugend erhalte. Aber bei der Verfolgung dieser hohen Ziele werden wir durch die äußeren politischen Einrichtungen stark behindert. Was sollen wir bei dieser Lage der Dinge tun? Sollen wir die Revolutionen begünstigen, alles umstürzen, Gewalt mit Gewalt vertreiben? ... Nein, von einem solchen Verfahren sind wir weit entfernt. Jede gewaltsame Reform ist tadelnswert, weil sie das Übel nicht bessern wird, solange die Menschen so bleiben, wie sie sind, und weil die Weisheit nicht der Gewalt bedarf.

Das ganze Streben des Ordens muß darauf gerichtet sein, charakterfeste, tugendhafte Menschen heranzubilden; alle aber müssen verbunden sein durch die Einheitlichkeit des Zieles, welches darin besteht, überall und mit allen Kräften das Laster und die Dummheit zu verfolgen, die Talente und die Tugend zu beschützen, würdige Männer aus dem Staub heraufzuheben und zu Mitgliedern unserer Bruderschaft zu machen. Nur dann wird unser Orden die Macht haben, den Beschützern der Unordnung unmerklich die Hände zu binden und sie zu zügeln und zu leiten, ohne daß sie selbst sich dessen bewußt werden. Mit einem Wort, es ist notwendig, eine allumfassende Regierungsform zu schaffen, welche sich über die ganze Welt ausdehnen muß, ohne doch die bürgerlichen Bande zu zerstören, und bei welcher alle übrigen Regierungen in ihrer gewohnten Ordnung werden fortbestehen und alles wie bisher werden tun können, mit einziger Ausnahme solcher Handlungen, die dem hohen Ziel unseres Ordens widerstreiten, das darin besteht, der Tugend zum Sieg über das Laster zu verhelfen. Dieses Ziel hat sich schon das Christentum gesetzt. Es hat die Menschen gelehrt, weise und gut zu sein[271] und zu ihrem eigenen Heil dem Beispiel und den Mahnungen der besten und weisesten Menschen zu folgen.

Damals, als alles in Finsternis begraben lag, konnte allerdings die Predigt allein als ausreichend betrachtet werden; die Neuheit der Wahrheit verlieh der Wahrheit eine besondere Kraft; aber heutzutage bedürfen wir weit stärkerer Mittel. Jetzt ist erforderlich, daß der Mensch, der sich ja durch das Streben nach Genuß leiten läßt, in der Tugend den Reiz des Genusses finde. Die Leidenschaften auszurotten ist unmöglich; wir müssen nur darauf bedacht sein, sie auf ein edles Ziel zu lenken, und daher ist notwendig, daß ein jeder seine Leidenschaften in den Grenzen der Tugend befriedigen kann, und daß unser Orden ihm dazu die Mittel an die Hand gibt.

Wenn wir erst eine gewisse Zahl würdiger Männer in jedem Staat haben werden und jeder von ihnen wieder ein paar andere heranbilden wird und sie alle eng untereinander verbunden sein werden, dann wird unserm Orden, der im stillen schon so viel für das Wohl der Menschheit getan hat, alles möglich sein, ja, alles.«

Diese Rede machte in der Loge nicht nur einen starken Eindruck, sondern sie rief sogar eine gewaltige Aufregung hervor. Die Mehrzahl der Brüder erblickte in dieser Rede die gefährlichen Ideen des Illuminatentums und nahm Pierres Rede mit einer Kälte auf, die ihn in Staunen versetzte. Der Meister vom Stuhl begann Einwendungen vorzubringen. Pierre entwickelte seine Gedanken mit immer größerer Wärme. Seit langer Zeit hatte keine Sitzung einen so stürmischen Verlauf genommen. Es bildeten sich Parteien: die einen griffen Pierre an und beschuldigten ihn des Illuminatentums; die andern standen ihm bei. Zum erstenmal drängte sich ihm bei dieser Versammlung überraschend die Tatsache auf, daß die Menschenköpfe von einer unendlichen[272] Mannigfaltigkeit sind, welche bewirkt, daß keine Wahrheit sich auch nur zwei Menschen auf die gleiche Weise darstellt. Sogar diejenigen Mitglieder, die anscheinend auf seiner Seite standen, faßten seine Idee jeder auf seine besondere Art auf, mit Einschränkungen und Abweichungen, denen Pierre nicht zustimmen konnte, da er gerade darauf besonderen Wert legte, seine Idee genau so weiterzuverbreiten, wie er selbst sie auffaßte.

Gegen den Schluß der Sitzung richtete der Meister vom Stuhl in übelwollendem, ironischem Ton an Pi erre eine tadelnde Bemerkung: er sei zu hitzig geworden und habe sich bei der Debatte nicht lediglich von Liebe zur Tugend, sondern auch von seiner Kampflust leiten lassen. Pierre gab ihm darauf keine Antwort, sondern fragte nur kurz, ob sein Antrag Annahme finden werde. Es wurde ihm erwidert, dies werde nicht der Fall sein, und Pierre verließ die Loge, ohne die üblichen Formalitäten abzuwarten, und fuhr nach Hause.

Quelle:
Tolstoj, Lev Nikolaevic: Krieg und Frieden. 4 Bde., Leipzig 1922, Band 2, S. 266-273.
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