I

[373] Die biblische Überlieferung sagt, daß das Fehlen jeglicher Arbeit, das Nichtstun, ein wesentliches Moment der Glückseligkeit des ersten Menschen vor seinem Sündenfall gewesen sei. Die Liebe zum Müßiggang ist bei dem Menschen auch nach dem Fall dieselbe geblieben; aber es lastet nun auf dem Menschen ein Fluch, und zwar nicht nur insofern, als wir uns nur im Schweiß unseres Angesichtes unser Brot erwerben können, sondern auch insofern, als wir vermöge unserer moralischen Eigenschaften nicht zugleich müßiggehen und in unserer Seele ruhig sein können. Eine geheime Stimme sagt uns, daß wir durch Müßiggang eine Schuld auf uns laden. Könnte der Mensch einen Zustand finden, in dem er müßigginge und doch dabei das Gefühl hätte, ein nützliches Mitglied der menschlichen Gesellschaft zu sein und seine Schuldigkeit zu tun, dann hätte er damit ein Stück der ursprünglichen Glückseligkeit wiedergefunden. Und eines solchen Zustandes, in welchem der Müßiggang pflichtmäßig ist und keinem Tadel unterliegt, erfreut sich ein ganzer Stand: der Militärstand. In diesem pflichtmäßigen, tadelsfreien Müßiggang hat von jeher die hauptsächliche Anziehungskraft des Militärdienstes bestanden, und das wird auch allzeit so bleiben.

Nikolai Rostow genoß diese Glückseligkeit in vollem Umfang; er hatte nach dem Jahr 1807 in dem Pawlograder Regiment weitergedient und kommandierte bereits eine Eskadron desselben, die er von Denisow übernommen hatte.

Er war ein guter, braver Mensch geworden, in seinem Wesen ein bißchen ungehobelt, und seine Moskauer Bekannten hätten ihn wohl ein wenig mauvais genre gefunden; aber seine Kameraden, Untergebenen und Vorgesetzten liebten und achteten ihn,[373] und er fühlte sich mit seinem Leben ganz zufrieden. In der letzten Zeit, im Jahr 1809, fand er immer häufiger in den Briefen von zu Hause Klagen der Mutter über den zunehmenden Verfall der Vermögensverhältnisse, und sie schrieb ihm, es wäre Zeit, daß er nach Hause käme, um seine alten Eltern zu erfreuen und ihnen, wenn möglich, zu einem ruhigen Zustand zu verhelfen.

Wenn Nikolai derartige Briefe las, so überkam ihn immer eine Furcht, man wolle ihn aus dieser Umgebung herausreißen, in welcher er, beschirmt vor allen Wirrsalen des Lebens, ein so stilles, ruhiges Dasein führte. Er sagte sich, daß er früher oder später wieder werde in diesen Pfuhl des Lebens hinein müssen: mit Vermögensverfall und Versuchen, Besserung zu schaffen, mit Abrechnungen von Verwaltern, mit Zänkereien, Intrigen und Konnexionen, mit dem gesellschaftlichen Leben, mit Sonjas Liebe und mit dem Versprechen, das er ihr gegeben hatte. Das waren alles sehr schwierige, verwickelte Dinge, und so antwortete er denn auf die Briefe der Mutter mit kühlen, französischen Briefen, die nach einem Schema geschrieben waren und mit den Worten »Meine teure Mama« begannen und mit den Worten »Ihr gehorsamer Sohn« schlossen, aber die Frage, wann er zu kommen beabsichtige, mit Stillschweigen übergingen. Im Jahre 1810 erhielt er von seinen Angehörigen einen Brief, in dem sie ihm Nataschas Verlobung mit Bolkonski mitteilten, sowie daß die Hochzeit erst in einem Jahr stattfinden werde, weil der alte Fürst es nicht anders wolle. Durch diese Nachricht wurde Nikolai in Betrübnis und in Empörung versetzt. Erstens tat es ihm leid, Natascha, die er am liebsten von allen seinen Angehörigen hatte, aus dem Haus zu verlieren; und zweitens bedauerte er von seinem Husarenstandpunkt aus, nicht dabeigewesen zu sein, weil er dann diesem Bolkonski auseinandergesetzt[374] haben würde, daß es ganz und gar nicht eine so besondere Ehre für die Familie Rostow sei, mit ihm verwandt zu werden, und daß, wenn er Natascha wirklich liebe, er auch auf die Einwilligung des verrückten Vaters verzichten könne. Er schwankte einen Augenblick, ob er nicht um Urlaub einkommen solle, um Natascha als Braut zu sehen; aber die Manöver rückten heran, und dann kamen ihm auch die Gedanken an Sonja und an all den Wirrwarr dort, und so schob er es denn wieder auf. Aber im Frühling desselben Jahres erhielt er einen Brief von seiner Mutter, den sie ihm ohne Wissen des Grafen geschrieben hatte, und dieser Brief veranlaßte ihn nun doch hinzureisen. Sie schrieb ihm, wenn er nicht hinkäme und sich der geschäftlichen Angelegenheiten annähme, so würde das ganze Gut unter den Hammer und sie alle an den Bettelstab kommen. Der Graf sei so schwach und gutmütig, habe dem Geschäftsführer Dmitri ein solches Vertrauen geschenkt und lasse sich dermaßen von allen Leuten betrügen, daß alles immer schlechter und schlechter gehe. »Um Gottes willen, ich bitte Dich inständig, komm sofort her, wenn Du nicht mich und Deine ganze Familie unglücklich machen willst«, schrieb die Gräfin.

Dieser Brief verfehlte auf Nikolai seine Wirkung nicht. Nikolai besaß jenen gesunden Mittelverstand, der ihm sagte, was seine Schuldigkeit war.

Jetzt mußte er nach Hause fahren; er brauchte ja nicht gleich den Abschied zu nehmen, er konnte sich Urlaub geben lassen. Was er eigentlich, wenn er hinkam, dort tun sollte, das wußte er nicht; aber nachdem er nach dem Mittagessen ausgeschlafen hatte, ließ er seinen grauen Hengst Mars satteln, ein sehr böses Tier, das er lange nicht geritten hatte, und als er auf dem schaumbedeckten Hengst wieder nach Hause gekommen war, teilte er seinem Burschen Lawrenti (dieser frühere Bursche Denisows war bei[375] Rostow geblieben) sowie den Kameraden, die am Abend zu ihm kamen, mit, daß er um Urlaub einkommen und nach seiner Heimat reisen werde. Zwar konnte er sich nur schwer in den seltsamen Gedanken hineinfinden, daß er wegfahren sollte, ohne aus dem Stab erfahren zu haben (was ihn ganz besonders interessierte), ob er für die letzten Manöver die Beförderung zum Rittmeister oder den Annenorden erhalten werde; zwar war es ihm wunderlich, zu denken, daß er abreisen sollte, ohne dem Grafen Goluchowski das rehbraune Dreigespann verkauft zu haben, um welches dieser polnische Graf mit ihm in Unterhandlung stand (Rostow hatte mit Kameraden gewettet, er werde für die Pferde zweitausend Rubel bekommen); zwar schien es ihm unfaßbar, daß ohne ihn der Ball stattfinden sollte, den die Husaren der Panna Przezdecka zu Ehren geben wollten, aus Rivalität mit den Ulanen, die für ihre Panna Brzozowska einen Ball veranstaltet hatten: aber er wußte, daß er nun einmal aus dieser Welt, wo alles so klar und schön war, dahin fahren mußte, wo ihn nur Unsinn und Verwirrung erwartete. Nach einer Woche kam sein Urlaub. Rostows Kameraden, die Husarenoffiziere, nicht nur von seinem Regiment, sondern von der ganzen Brigade, gaben ihm ein Diner, bei dem in der Subskriptionsliste der Preis für das Gedeck auf fünfzehn Rubel angesetzt war; die Musik wurde von zwei Kapellen und von zwei Chören ausgeführt; Rostow tanzte mit dem Major Basow den Trepak; die betrunkenen Offiziere umarmten ihn, schwenkten ihn in die Luft und ließen ihn dabei hinfallen; die Soldaten der dritten Eskadron schwenkten ihn noch einmal und schrien Hurra. Dann wurde Rostow in einen Schlitten gelegt, und die Kameraden gaben ihm bis zur ersten Station das Geleit.

Bis zur Hälfte des Weges, von Krementschug bis Kiew, waren,[376] wie das immer so geht, alle Gedanken Rostows noch bei den Verhältnissen, von denen er herkam, bei seiner Eskadron; aber als er über die Hälfte hinaus war, vergaß er allmählich das rehbraune Dreigespann und seinen Wachtmeister Doschoiweika und machte sich unruhige Gedanken darüber, was für eine Situation er wohl in Otradnoje vorfinden werde. Je näher er seiner Heimat kam, um so mehr nahmen diese Gedanken an Stärke zu, gerade wie wenn die seelische Empfindung demselben Gesetz wie die Fallgeschwindigkeit der Körper, nach den Quadraten der Entfernungen, unterworfen wäre; auf der letzten Station vor Otradnoje gab er dem Postillion drei Rubel Trinkgeld, und als er endlich angekommen war, lief er wie ein Knabe atemlos die Stufen vor der Tür seines Vaterhauses hinan.

Nachdem der Jubel der ersten Begrüßung vorbei war und Nikolai ein seltsames Gefühl der Enttäuschung über die Wirklichkeit im Vergleich mit dem Erwarteten überwunden hatte (»sie sind ja alle, wie sie immer waren; wozu habe ich mich so beeilt?«), fing er an, sich wieder in seine alten heimatlichen Verhältnisse einzuleben. Der Vater und die Mutter waren unverändert; nur waren sie ein wenig gealtert. Neu war ihm an ihnen eine gewisse Unruhe und eine manchmal hervortretende Uneinigkeit; das war früher nicht der Fall gewesen und war, wie Nikolai bald merkte, eine Folge der üblen pekuniären Lage. Sonja war schon neunzehn Jahre alt. Sie hatte schon aufgehört schöner zu werden und verhieß für die Zukunft nicht mehr, als was sie bereits besaß; aber auch dies war vollauf genügend. Ihr ganzes Wesen atmete seit Nikolais Ankunft Glückseligkeit und Liebe, und die treue unerschütterliche Liebe dieses Mädchens erfüllte ihn mit Freude. Petja und Natascha setzten Nikolai am allermeisten in Erstaunen. Petja war schon ein großer, dreizehnjähriger, hübscher, kluger, lustiger, ausgelassener Junge, dessen Stimme sich schon veränderte.[377] Über Natascha kam Nikolai zuerst lange Zeit nicht aus der Verwunderung heraus und mußte immer lachen, wenn er sie ansah.

»Du bist ganz, ganz anders als früher«, sagte er.

»Wieso? Bin ich häßlicher geworden?«

»Im Gegenteil! Aber was für eine Würde!« antwortete er. »Eine Fürstin!« flüsterte er ihr zu.

»Ja, ja, ja!« erwiderte Natascha erfreut.

Sie erzählte ihm ihren ganzen Roman mit dem Fürsten Andrei, wie er zuerst nach Otradnoje gekommen sei, und zeigte ihm seinen letzten Brief.

»Nun? Freust du dich mit mir?« fragte Natascha. »Ich bin jetzt ganz ruhig und glücklich.«

»Ich freue mich sehr«, antwortete Nikolai. »Er ist ein vortrefflicher Mensch. Nun? Bist du denn sehr verliebt?«

»Wie soll ich mich ausdrücken?« erwiderte Natascha. »Verliebt war ich in Boris, in meinen Gesanglehrer, in Denisow; aber die jetzige Empfindung ist von ganz anderer Art. Ich habe ein Gefühl der Ruhe und der Sicherheit. Ich weiß, daß es keinen besseren Menschen als ihn auf der Welt gibt, und fühle mich jetzt so wohl, so zuversichtlich. Ganz anders als früher ...«

Nikolai sprach ihr sein Mißvergnügen darüber aus, daß die Hochzeit ein Jahr aufgeschoben war; aber Natascha schalt ihn ärgerlich aus und setzte ihm auseinander, daß es nicht anders gehe; es wäre eine schlechte Handlungsweise, wenn sie gegen den Willen des Vaters in die Familie einträte, und sie habe es selbst so gewünscht.

»Du verstehst davon nichts, gar nichts verstehst du davon!« rief sie.

Nikolai machte keine weiteren Entgegnungen, sondern stimmte ihr bei.

Der Bruder wunderte sich oft, wenn er sie betrachtete. Sie sah[378] gar nicht aus wie eine liebende, von ihrem Bräutigam getrennte Braut. Sie zeigte sich in gleichmäßiger Weise ruhig und heiter, ganz wie früher. Nikolai war darüber erstaunt und gelangte infolgedessen sogar dazu, die Verlobung mit Bolkonski mit einem gewissen Mißtrauen anzusehen. Er glaubte nicht daran, daß Nataschas Lebensschicksal bereits entschieden sei, und diese Auffassung war bei ihm um so eher möglich, da er den Fürsten Andrei nie mit ihr zusammen gesehen hatte. Es wollte ihm immer scheinen, als ob bei dieser in Aussicht genommenen Heirat etwas nicht seine Richtigkeit hätte.

»Wozu denn dieser Aufschub? Und warum ist die Verlobung nicht veröffentlicht?« dachte er. Als er einmal mit seiner Mutter über Natascha sprach, fand er zu seinem Erstaunen und teilweise auch zu seiner Genugtuung, daß die Mutter genau ebenso in der Tiefe ihres Herzens sich mit Bezug auf diese Heirat manchmal eines leisen Mißtrauens nicht erwehren konnte.

»Da schreibt er nun«, sagte sie mit jenem geheimen mißgünstigen Gefühl, das eine Mutter stets gegen das künftige Eheglück ihrer Tochter empfindet, und zeigte dabei ihrem Sohn einen Brief des Fürsten Andrei, »da schreibt er nun, er werde nicht vor dem Dezember kommen. Was kann denn das für ein Grund sein, der ihn zurückhält? Wahrscheinlich doch Kränklichkeit! Er hat eine sehr schwache Gesundheit. Aber sage so etwas nicht zu Natascha. Laß dich dadurch nicht täuschen, daß sie heiter ist; das kommt nur daher, daß sie jetzt noch ihre letzte Mädchenzeit auskosten möchte; aber ich weiß, wie ihr jedesmal zumute ist, wenn wir Briefe von ihm bekommen. Indessen, so Gott will, wird ja alles noch gut werden; er ist ein vortrefflicher Mensch.« So schloß die Gräfin übrigens jedesmal, wenn sie sich über den Fürsten Andrei aussprach.

Quelle:
Tolstoj, Lev Nikolaevic: Krieg und Frieden. 4 Bde., Leipzig 1922, Band 2, S. 373-379.
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