XIII

[462] Einige Tage darauf machte Nikolai seiner Mutter Mitteilung von seiner Liebe zu Sonja und von seinem festen Entschluß, sie zu heiraten. Die Gräfin, die schon längst bemerkt hatte, was zwischen Sonja und Nikolai vorging, und diese Mitteilung erwartet hatte, hörte ihren Sohn schweigend an und erwiderte ihm dann, er könne heiraten, wen er wolle; aber weder sie noch der Vater würden ihm zu einer solchen Ehe ihren Segen geben. Zum erstenmal in seinem Leben fühlte Nikolai, daß seine Mutter mit ihm unzufrieden sei und trotz all ihrer Liebe zu ihm nicht nachgeben werde. Mit kühler Miene, und ohne ihren Sohn anzusehen, ließ sie ihren Mann rufen; als dieser gekommen war, wollte sie ihm kurz und in kaltem Ton in Nikolais Gegenwart mitteilen, um was es sich handelte; aber sie vermochte sich doch nicht zu beherrschen, brach in Tränen des Ingrimms aus und[462] verließ das Zimmer. Der alte Graf begann, in unsicherer Art Nikolai zu ermahnen und ihn zu bitten, er möge doch diese Absicht wieder aufgeben. Nikolai erwiderte, er könne sein gegebenes Wort nicht brechen, und der Vater, der augenscheinlich verlegen war, hörte sehr bald mit dem Zureden auf und ging zur Gräfin. Bei allen Differenzen mit seinem Sohn konnte der Graf das Bewußtsein nicht loswerden, daß er diesem gegenüber durch die von ihm verschuldete Zerrüttung der Vermögensverhältnisse sich vergangen habe, und er war daher außerstande, dem Sohn zu zürnen, wenn dieser sich weigerte, ein reiches Mädchen zu heiraten, und die mitgiftlose Sonja wählte; es kam ihm bei diesem Anlaß nur noch deutlicher zum Gefühl, daß, wenn die Verhältnisse nicht so zerrüttet wären, sich gar keine bessere Frau für Nikolai wünschen ließe als gerade Sonja, und daß an dieser Zerrüttung der Verhältnisse nur er allein die Schuld trage, wegen seines Dmitri und wegen seiner Lebensgewohnheiten, die aufzugeben er nicht die Kraft besitze.

Vater und Mutter redeten über diese Angelegenheit nicht mehr mit dem Sohn; aber einige Tage darauf ließ die Gräfin Sonja zu sich rufen und machte mit einer Härte, die nicht nur dieser überraschend kam, sondern deren auch die Gräfin selbst sich nicht für fähig gehalten hätte, ihrer Nichte den Vorwurf, Nikolai verführt und dadurch ihnen mit Undank gelohnt zu haben. Sonja hörte schweigend mit niedergeschlagenen Augen die harten Worte der Gräfin an und verstand gar nicht, was diese nun eigentlich von ihr verlangte. Sie war bereit, für ihre Wohltäter jedes Opfer zu bringen, wie denn überhaupt der Gedanke der Selbstaufopferung ihre Lieblingsidee war; aber in diesem Fall war sie nicht imstande zu begreifen, wem sie ein Opfer bringen und worin es bestehen solle. Es war ihr gar nicht anders möglich, als die Gräfin und die ganze Familie Rostow zu lieben; aber auch die Liebe[463] zu Nikolai konnte sie sich nicht aus dem Herzen reißen, und sie war fest überzeugt, daß sein Glück von dieser Liebe abhing. So schwieg sie denn traurig und antwortete nicht auf die ihr gemachten Vorwürfe.

Nikolai war, wie er meinte, nicht imstande, diesen Zustand länger zu ertragen, und ging zu seiner Mutter, um sich mit dieser darüber auszusprechen. Zuerst bat er seine Mutter inständig, ihm und Sonja zu verzeihen und in ihre Ehe zu willigen; dann drohte er der Mutter, wenn sie nicht aufhöre, Sonja zu peinigen, so werde er sich mit ihr sofort heimlich verheiraten.

Die Gräfin antwortete ihm mit einer Kälte, die er an ihr noch nie kennengelernt hatte: er sei mündig; Fürst Andrei wolle ja ebenfalls ohne die Einwilligung seines Vaters heiraten, und so könne er ja dasselbe tun; aber sie werde diese Intrigantin niemals als Schwiegertochter anerkennen.

Empört über den Ausdruck »Intrigantin«, erwiderte Nikolai seiner Mutter mit erhobener Stimme, er habe nicht gedacht, daß sie ihm zumuten werde, seine Gefühle für Geld zu verkaufen; wenn dem aber doch so sei, so sage er zum letztenmal ... Aber er kam nicht dazu, jenes entscheidende Wort auszusprechen, das seine Mutter nach seinem Gesichtsausdruck mit Schrecken erwartete, und welches vielleicht für immer als peinliche Erinnerung zwischen ihnen gestanden hätte. Er kam nicht dazu, den Satz zu Ende zu sprechen, weil in diesem Augenblick Natascha, die an der Tür gehorcht hatte, mit ernstem, blassem Gesicht ins Zimmer trat.

»Lieber Nikolai, du redest Unsinn; sei still, sei still! Ich sage dir, sei still ...!« rief sie, fast schreiend, um seine Stimme zu übertönen.

»Mama, liebste, teuerste Mama, die Sache hängt ja ganz anders zusammen ... Beste Mama, Sie arme ...«, wandte sie sich an[464] die Mutter, welche in dem Gefühl, daß ein unheilbarer Bruch unmittelbar bevorstehe, ihren Sohn voll Entsetzen ansah, aber aus Hartnäckigkeit und Kampfeseifer nicht nachgeben wollte und konnte.

»Lieber Nikolai, ich will es dir nachher gleich erklären, geh jetzt hinaus; hören Sie mich an, beste Mama!« sagte sie zu der Mutter.

Ihre Worte waren ja sinnlos; aber sie erzielten die Wirkung, die sie mit ihnen beabsichtigte.

Die Gräfin verbarg, krampfhaft aufschluchzend, ihr Gesicht an der Brust der Tochter; Nikolai aber stand auf, griff sich an den Kopf und ging aus dem Zimmer.

Natascha machte es sich zur Aufgabe, das Werk der Versöhnung durchzuführen, und brachte es dahin, daß Nikolai von der Mutter das Versprechen erhielt, Sonja werde rücksichtsvoll behandelt werden, und selbst versprach, nichts ohne Vorwissen der Eltern zu unternehmen.

Mit dem festen Vorsatz, sobald er seine Angelegenheiten beim Regiment geordnet haben würde, den Abschied zu nehmen, nach Hause zurückzukehren und Sonja zu heiraten, reiste Nikolai, in ernster, trüber Stimmung wegen der Mißhelligkeit mit seinen Eltern, aber, wie es ihm wenigstens vorkam, leidenschaftlich verliebt, Anfang Januar wieder zu seinem Regiment.

Nach Nikolais Abreise wurde es im Rostowschen Haus trauriger als je vorher. Die Gräfin erkrankte infolge der seelischen Erregungen.

Sonja war niedergeschlagen, sowohl infolge der Trennung von Nikolai als auch in noch höherem Grad infolge des feindseligen Tones, dessen sich die Gräfin im Verkehr mit ihr nicht enthalten konnte. Der Graf steckte tiefer als je in Sorgen wegen des üblen Zustandes seiner Angelegenheiten, zu dessen Behebung irgendwelche[465] entscheidenden Maßnahmen erforderlich waren. Es mußten notwendig das Haus in Moskau und das Landhaus bei Moskau verkauft werden, und um diesen Verkauf zu bewerkstelligen, mußten sie nach Moskau fahren. Aber der Gesundheitszustand der Gräfin veranlaßte, daß die Abreise von einem Tag zum andern verschoben wurde.

Natascha, welche die erste Zeit der Trennung von ihrem Bräutigam leicht und sogar fröhlich überstanden hatte, wurde jetzt mit jedem Tag aufgeregter und unruhiger. Der Gedanke, daß ihre beste Lebenszeit, die sie auf die Liebe zu ihm hätte verwenden können, nun so unnütz und zwecklos verlorenging, ohne daß jemand etwas davon hatte, dieser Gedanke quälte sie unaufhörlich. Seine Briefe verstimmten sie meistens. Es war ihr kränkend, denken zu müssen, daß, während sie nur in dem Gedanken an ihn lebte, er ein wahres, volles Leben führte, neue Orte und neue Menschen sah, die ihn interessierten. Je frischer und lebhafter seine Briefe waren, um so mehr Verdruß erregten sie ihr. Ihre eigenen Briefe an ihn gewährten ihr keinen Trost, sondern bildeten für sie nur eine widerwärtige Pflicht, bei deren Erfüllung sie sich nicht so geben konnte, wie es ihre Natur war. Sie verstand nicht zu schreiben, weil sie es nicht für möglich hielt, in einem Brief wahrheitsgemäß auch nur den tausendsten Teil dessen zum Ausdruck zu bringen, was sie mit der Stimme, dem Lächeln und dem Blick auszudrücken gewohnt war. Sie schrieb ihm schematisch einförmige, trockene Briefe, denen sie selbst keinen Wert beimaß, und bei denen die Gräfin ihr im unreinen die orthographischen Fehler korrigierte.

Das Befinden der Gräfin wollte sich immer noch nicht bessern; aber ein weiterer Aufschub der Reise nach Moskau war nicht mehr möglich. Es mußte die Aussteuer beschafft und das Haus verkauft werden; dazu kam noch, daß sich erwarten ließ, Fürst[466] Andrei werde sich zuerst in Moskau aufhalten, wo in diesem Winter Fürst Nikolai Andrejewitsch wohnte; ja, Natascha war sogar davon überzeugt, daß ihr Bräutigam bereits dort angekommen sei.

So blieb denn die Gräfin auf dem Land, während der Graf Ende Januar nach Moskau reiste und Sonja und Natascha mitnahm.

Quelle:
Tolstoj, Lev Nikolaevic: Krieg und Frieden. 4 Bde., Leipzig 1922, Band 2, S. 462-467.
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