XII

[457] Als alle sich anschickten, von Pelagia Danilowna wieder nach Hause zu fahren, richtete Natascha, die immer alles sah und bemerkte, es beim Platznehmen so ein, daß Luisa Iwanowna und sie in den Schlitten zu Herrn Dümmler stiegen, Sonja aber zu Nikolai und den Gutsmädchen.

Nikolai veranstaltete jetzt auf dem Rückweg nicht wieder ein Wettfahren, sondern fuhr gleichmäßig dahin, betrachtete bei dem seltsamen Mondschein fortwährend Sonja und suchte bei diesem alles verändernden Licht hinter den falschen Brauen und dem Schnurrbart jene seine frühere und seine jetzige Sonja zu finden, von der er sich nie mehr zu trennen beschlossen hatte. Er betrachtete sie, und als er erkannte, daß sie ganz dieselbe und doch ganz verändert sei, und als der Korkgeruch, den er noch zu spüren meinte[457] und der sich mit der Empfindung des Kusses verbunden hatte, ihn an das kurz vorher Geschehene erinnerte, da zog er mit ganzer Brust die kalte Winterluft in sich hinein; und als er die hinter ihn zurückweichende Erde und den gestirnten Himmel ansah, fühlte er sich wieder in ein Zauberland versetzt.

»Sonja, ist dir wohl?« fragte er ab und zu.

»Ja«, antwortete Sonja, »und dir?«

Auf der Hälfte des Weges übergab Nikolai dem Kutscher das Amt, die Pferde zu lenken; er selbst aber lief für einen Augenblick zu Nataschas Schlitten hin und stellte sich auf das Trittbrett.

»Natascha«, flüsterte er ihr auf französisch zu, »weißt du, ich bin in betreff Sonjas zu einem Entschluß gelangt.«

»Hast du es ihr gesagt?« fragte Natascha. Ihr ganzes Gesicht strahlte plötzlich vor Freude.

»Ach, wie sonderbar du mit diesem Schnurrbart und diesen Augenbrauen aussiehst, Natascha! Freust du dich?«

»Ich freue mich sehr; sehr freue ich mich! Ich war auf dich schon ordentlich böse. Ich wollte es dir nicht sagen; aber du hast schlecht an ihr gehandelt. Sie hat ein so goldenes Herz, Nikolai. Wie ich mich freue! Ich bin manchmal recht garstig«, fuhr Natascha fort, »aber ich habe mir doch ein Gewissen daraus gemacht, daß ich allein so glücklich war und Sonja nicht. Jetzt bin ich so froh! Nun laufe aber nur wieder zu ihr hin.«

»Nein, laß mich noch einen Augenblick hierbleiben; wie komisch du aussiehst!« sagte Nikolai, der sie immerzu betrachtete und auch an seiner Schwester etwas Neues, Ungewohntes, Liebliches, Entzückendes fand, das er früher an ihr nicht gesehen hatte. »Natascha, es ist alles so zauberhaft, nicht wahr?«

»Ja«, antwortete sie, »du hast sehr recht getan.«

»Hätte ich Natascha früher so gesehen, wie sie jetzt ist«, dachte Nikolai, »so hätte ich sie längst gefragt, was ich tun sollte, und[458] hätte alles getan, was sie mich hätte tun heißen, und alles wäre gut gewesen.«

»Also du freust dich, und ich habe recht getan?«

»Ach ja, sehr recht! Ich habe mich neulich mit Mama darüber gestritten. Mama sagte, Sonja wolle dich kapern. Wie kann man nur so etwas sagen? Ich hätte mich mit Mama beinahe ernstlich gezankt. Und ich werde nie dulden, daß jemand etwas Schlechtes von ihr sagt oder denkt; denn in ihrer Seele wohnt nichts als Gutes.«

»Also ich habe recht getan?« fragte Nikolai noch einmal und betrachtete noch einmal prüfend den Gesichtsausdruck seiner Schwester, um sicher zu sein, ob es auch wahr wäre; dann sprang er mit knarrenden Stiefeln vom Trittbrett herunter und lief wieder zu seinem Schlitten hin. Dort saß immer noch derselbe glückselig lächelnde Tscherkesse mit dem Schnurrbärtchen und den glänzenden Augen und blickte unter der Zobelkappe hervor ihn an; und dieser Tscherkesse war Sonja, und diese Sonja war mit Sicherheit seine künftige glückliche, liebende Frau.

Als sie nach Hause gekommen waren und alle drei der Mutter erzählt hatten, wie sie die Zeit bei Meljukows verbracht hatten, begaben sich die beiden jungen Mädchen auf ihr Zimmer. Nachdem sie sich ausgezogen hatten, ohne jedoch die mit Kork gemalten Schnurrbärte wegzuwischen, saßen sie noch lange da und redeten miteinander von ihrem Glück. Sie sprachen davon, wie sie nach der Verheiratung leben würden, und wie ihre Männer miteinander Freundschaft schließen würden, und wie glücklich sie als Frauen sein würden. Auf Nataschas Tisch standen noch vom Abend her zwei Spiegel, die Dunjascha da bereitgestellt hatte.

»Aber wann, wann wird das alles geschehen? Ich fürchte, niemals ... Es wäre gar zu schön!« sagte Natascha, stand auf und trat zu den Spiegeln hin.[459]

»Setz dich hin, Natascha; vielleicht wirst du ihn sehen«, sagte Sonja.

Natascha zündete die Kerzen an und setzte sich.

»Ich sehe jemand mit einem Schnurrbart«, sagte Natascha, die ihr eigenes Gesicht sah.

»Man darf dabei nicht lachen, gnädiges Fräulein«, ermahnte Dunjascha.

Natascha fand mit Hilfe Sonjas und des Stubenmädchens die richtige Stellung der Spiegel heraus; ihr Gesicht nahm einen ernsten Ausdruck an, und sie verstummte. Lange saß sie so da, blickte auf die Reihe der sich immer weiter entfernenden Kerzen in den Spiegeln und erwartete, aufgrund früher gehörter Erzählungen, in diesem letzten, verschwimmenden, undeutlichen Rechteck bald einen Sarg, bald ihn, den Fürsten Andrei, zu sehen. Aber trotz aller ihrer Bereitwilligkeit, den kleinsten Fleck für das Bild eines Menschen oder auch eines Sarges zu nehmen, sah sie schlechthin gar nichts. Sie begann häufig mit den Augen zu zwinkern und trat von den Spiegeln zurück.

»Warum sehen andere etwas, und ich sehe nichts?« sagte sie. »Nun, setz du dich hin, Sonja; heute mußt du es unbedingt tun«, fuhr sie fort. »Tu es nur für mich. Mir ist heute so bange!«

Sonja setzte sich an die Spiegel, brachte die Stellung in Ordnung und begann hineinzusehen.

»Ja, Fräulein Sonja wird ganz bestimmt etwas sehen«, flüsterte Dunjascha. »Aber Sie lachen ja immer.«

Sonja hörte diese Worte und hörte auch, wie Natascha flüsternd sagte:

»Ich bin auch überzeugt, daß sie etwas sehen wird; sie hat auch im vorigen Jahr etwas gesehen.«

Etwa drei Minuten lang schwiegen sie alle. »Ganz bestimmt ...«,[460] flüsterte Natascha, brachte aber den begonnenen Satz nicht zu Ende, da Sonja plötzlich denjenigen Spiegel, den sie hielt, wegstieß und die Augen mit der Hand bedeckte.

»Ach, Natascha!« sagte sie.

»Hast du etwas gesehen? Hast du etwas gesehen? Was hast du gesehen?« rief Natascha und fing schnell den Spiegel auf, so daß er nicht hinfiel.

Sonja hatte überhaupt nichts gesehen; als sie Natascha sagen hörte: »Ganz bestimmt ...«, hatte sie gerade mit den Augen blinzeln und aufstehen wollen. Denn sie hatte Dunjascha und Natascha nicht dadurch, daß sie tat, als sähe sie etwas, täuschen wollen, und es war ihr lästig geworden, so dazusitzen. Sie wußte selbst nicht, wie und infolge wovon ihr der Schrei entfahren war, als sie die Augen mit der Hand bedeckte.

»Hast du ihn gesehen?« fragte Natascha und ergriff ihre Hand.

»Ja. Warte mal ... ich ... ich habe ihn gesehen«, antwortete Sonja unwillkürlich, wiewohl sie noch nicht einmal wußte, wen Natascha mit dem Wort »ihn« meinte, ob den Fürsten Andrei oder Nikolai.

»Aber warum soll ich denn nicht sagen, daß ich etwas gesehen habe?« ging es ihr schnell durch den Kopf. »Es sehen ja doch andere Mädchen etwas! Und wer kann mir beweisen, ob ich etwas gesehen habe oder nicht?«

»Ja, ich habe ihn gesehen«, sagte sie.

»Wie denn, wie denn? Stand er oder lag er?«

»Nein, ich sah ... Anfangs war lange nichts da, und auf einmal sah ich, daß er dalag.«

»Andrei lag da? Er ist also krank?« fragte Natascha erschrocken und blickte ihre Freundin mit starren Augen an.

»Nein, im Gegenteil, im Gegenteil, sein Gesicht war heiter,[461] und er wandte sich zu mir um.« Und in dem Augenblick, wo sie sprach, glaubte sie selbst, das, was sie berichtete, gesehen zu haben.

»Nun, und dann, Sonja?«

»Dann konnte ich nichts mehr deutlich erkennen; es war etwas Blaues und Rotes da ...«

»Sonja! Wann wird er zurückkommen? Wann werde ich ihn wiedersehen? Mein Gott, wie ich mich ängstige, daß ihm oder mir etwas zustößt; um alles ängstige ich mich ...«, rief Natascha, und ohne auf Sonjas Tröstungen zu antworten, legte sie sich ins Bett und lag noch lange, nachdem das Licht ausgelöscht war, mit offenen Augen, ohne sich zu rühren, da und blickte nach dem kalten Licht des Mondes, das durch die befrorenen Fensterscheiben drang.

Quelle:
Tolstoj, Lev Nikolaevic: Krieg und Frieden. 4 Bde., Leipzig 1922, Band 2, S. 457-462.
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