XV

[87] Zu sagen: »morgen« und dabei den Ton des Anstandes zu bewahren, das war nicht schwer; aber dann nach Hause zu fahren, die Schwestern, den Bruder, die Mutter und den Vater wiederzusehen, das Geschehene zu bekennen und um Geld zu bitten, das er nach dem gegebenen Ehrenwort nicht beanspruchen konnte, das war furchtbar.

Zu Hause fand er seine Angehörigen noch munter. Die Jugend des Rostowschen Hauses saß nach der Rückkehr aus dem Theater und nach dem Abendessen am Klavier. Sowie Nikolai in den Saal trat, umfing ihn jene poetische Liebesatmosphäre, die in diesem Winter im Haus herrschte und sich jetzt nach Dolochows Antrag und dem Ball bei Jogel anscheinend über Sonjas und Nataschas Häuptern, wie die Luft vor einem Gewitter, noch mehr verdichtet hatte. Sonja und Natascha standen in den blauen Kleidern, mit denen sie im Theater gewesen waren, am Klavier, glücklich lächelnd, ein paar hübsche Erscheinungen, die sich auch ihres hübschen Aussehens bewußt waren. Wjera spielte mit Schinschin im Salon Schach. Die alte Gräfin, die auf ihren Sohn und auf ihren Mann wartete, war ebendort damit beschäftigt, zusammen mit einer alten adligen Dame, die bei ihnen im Haus wohnte, Patience zu legen. Denisow saß mit blitzenden Augen und wild zerzaustem Haar, das eine Bein nach hinten zurückgestellt, am Klavier, schlug mit seinen kurzen Fingern auf die Tasten, griff Akkorde und sang unter starker Verdrehung der Augen mit seiner nicht besonders starken, heiseren, aber richtig treffenden Stimme ein von ihm verfaßtes Gedicht: »Die Zauberin«, zu dem er eine Melodie zu finden bemüht war.


»O holde Zauberin, welch neuer Drang

Treibt zur Musik mich, die mir fremd schon lang?[88]

Das wirkt die Glut, die du in mir entzündet,

Und die in Liedern sich und Tönen kündet.«


So sang er mit leidenschaftlichem Ausdruck und blitzte die erschrockene, aber glückselige Natascha mit seinen schwarzen Achataugen an.

»Ausgezeichnet! Ganz prachtvoll!« rief Natascha. »Nun noch die zweite Strophe!« Sie hatte Nikolais Eintreten nicht bemerkt.

»Bei ihnen ist alles wie immer«, dachte Nikolai, indem er auch in den Salon sah, wo er Wjera und seine Mutter nebst der alten Dame erblickte.

»Ah, da ist ja auch Nikolai!« rief Natascha und lief auf ihn zu.

»Ist Papa schon zu Hause?« fragte er.

»Wie freue ich mich, daß du gekommen bist!« sagte Natascha, ohne auf seine Frage zu antworten. »Wir sind hier so vergnügt. Wasili Dmitrijewitsch bleibt, um mir einen Gefallen zu tun, noch einen Tag länger hier; weißt du es schon?«

»Nein, Papa ist noch nicht nach Hause gekommen«, sagte Sonja.

»Nikolai, bist du da? Komm doch her zu mir, mein lieber Junge!« rief die Mutter aus dem Salon.

Nikolai ging zur Mutter hin, küßte ihr die Hand, setzte sich schweigend zu ihr an den Tisch und blickte nach ihren Händen hin, die die Karten bald an diesen, bald an jenen Platz legten. Vom Saal her erscholl Lachen und lustiges Reden; man konnte merken, daß die andern beiden auf Natascha einredeten.

»Na, schön, schön!« rief Denisow. »Jetzt können Sie sich nun nicht mehr weigern. Sie sind uns die Barkarole schuldig, und ich bitte Sie inständig, sie nun zu singen.«

Die Gräfin blickte ihren schweigsamen Sohn an.

»Was ist dir?« fragte sie ihn.

»Ach, gar nichts«, antwortete er, als wenn ihm diese sich immer[89] wiederholende Frage schon langweilig würde. »Kommt Papa bald?«

»Ich meine wohl.«

»Bei ihnen ist alles wie immer. Sie ahnen nichts! Wo soll ich nur bleiben?« dachte Nikolai und ging wieder in den Saal, wo das Klavier stand.

Sonja saß am Klavier und schickte sich an, das Vorspiel der Barkarole zu spielen, an welcher Denisow besonderes Gefallen fand. Natascha machte sich bereit zu singen. Denisow betrachtete sie mit entzückten Augen.

Nikolai begann im Saal auf und ab zu gehen.

»Was hat er bloß davon, sie zum Singen zu veranlassen! Ihr Singen hat ja keinen Wert. Da ist doch kein Vergnügen dabei«, dachte Nikolai.

Sonja griff den ersten Akkord des Vorspiels.

»O Gott, ich bin ein verlorener, ein ehrloser Mensch. Eine Kugel in den Kopf, das ist das einzige, was mir übrigbleibt. Was soll ich mit Gesang!« dachte Nikolai. »Soll ich weggehen? Aber wohin? Es ist ja alles ganz gleich; mögen sie meinetwegen singen!«

Nikolai fuhr fort, mit finsterer Miene im Saal auf und ab zu gehen, und blickte nach Denisow und den jungen Mädchen hin, vermied es aber, ihren Blicken zu begegnen.

»Was fehlt Ihnen denn, lieber Nikolai?« schien Sonjas auf ihn gerichteter Blick zu fragen. Sie hatte sofort gesehen, daß ihm etwas zugestoßen war.

Nikolai wandte sich von ihr ab. Natascha mit ihrem scharfen Spürsinn hatte ebenfalls den Gemütszustand ihres Bruders unverzüglich bemerkt. Bemerkt hatte sie ihn; aber ihr selbst war in diesem Augenblick so fröhlich zumute, sie war so himmelweit von Gram, Kummer und Reue entfernt, daß sie (wie das bei jungen[90] Leuten nicht selten vorkommt) sich absichtlich selbst täuschte. »Nein, ich bin jetzt zu vergnügt, als daß ich mir meine fröhliche Stimmung durch das Mitleid mit fremdem Kummer verderben möchte«, das war ihre Empfindung, und sie sagte sich: »Nein, ich irre mich gewiß; er ist wohl ebenso vergnügt wie ich.«

»Nun, Sonja!« sagte sie und ging ganz in die Mitte des Saales, wo ihrer Meinung nach die Akustik am besten war.

Sie hob den Kopf in die Höhe und ließ die Arme wie leblos herunterhängen, in der Art, wie es die Ballettänzerinnen tun; dann trat sie mit einer energischen Bewegung von den Hacken auf die Zehenspitzen, ging so in der Mitte des Saales ein wenig umher und blieb stehen.

»Sehen Sie wohl, was ich kann?« schien sie als Antwort auf den entzückten Blick Denisows zu sagen, der jede ihrer Bewegungen verfolgte.

»Worüber freut sie sich nur!« dachte Nikolai, indem er seine Schwester anblickte. »Daß sie dieses Treibens nicht überdrüssig wird und sich seiner nicht schämt!«

Natascha setzte mit der ersten Note ein; ihre Kehle weitete sich, die Brust trat hervor, die Augen nahmen einen ernsten Ausdruck an. Sie dachte in diesem Augenblick an niemand und an nichts, und ihrem zu einem Lächeln zurechtgelegten Munde entströmten Töne, wie sie schließlich mit den gleichen Pausen und Intervallen ein jeder hervorbringen kann, die uns aber in tausend Fällen kalt lassen, um uns im tausendundersten zu erschüttern und zu Tränen zu rühren.

In diesem Winter hatte Natascha zum erstenmal ernstliche Gesangstudien betrieben, und namentlich deswegen, weil Denisow von ihrem Gesang entzückt war. Sie sang nun nicht mehr in kinderhafter Weise, ihr Gesang wies nicht mehr jenen komisch wirkenden Eifer auf wie früher; aber sie sang noch nicht gut, wie[91] das alle Sachkundigen sagten, die sie singen hörten. »Eine noch nicht ausgebildete, aber recht schöne Stimme«, sagten alle. Aber sie sagten das gewöhnlich erst eine ziemliche Weile, nachdem ihre Stimme verstummt war. Solange diese unausgebildete Stimme mit dem unregelmäßigen Atemholen und den gezwungenen Übergängen ertönte, sagten selbst die Sachkundigen nichts und überließen sich lediglich dem Genuß dieser unausgebildeten Stimme und wünschten weiter nichts, als sie recht lange zu hören. In ihrer Stimme lag eine mädchenhafte Unberührtheit, eine Unkenntnis der eigenen Kraft und eine noch von keiner Ausbildung beeinflußte samtene Weichheit, Eigenschaften, die mit dem Mangel an eigentlicher Kunstfertigkeit so innig verschmolzen waren, daß es unmöglich schien, etwas an dieser Stimme zu ändern, ohne sie zu verderben.

»Was ist denn mit ihr?« dachte Nikolai, als er ihre Stimme hörte, und öffnete weit die Augen. »Was ist mit ihr vorgegangen?« dachte er. Und plötzlich verlor die ganze Welt für ihn jedes Interesse, und all sein Denken konzentrierte sich auf die Erwartung der folgenden Note, der folgenden musikalischen Phrase, und alles in der Welt ordnete sich in drei Taktteile: »Oh, mio crudele affetto ... Eins, zwei, drei ... eins, zwei, drei ... eins ... Oh, mio crudele affetto ... Eins, zwei, drei ... eins. Ach, wie töricht ist unser ganzes Leben!« dachte Nikolai. »All diese Dinge: Unglück und Geld und Dolochow und Bosheit und Ehre, das ist ja alles nur dummes Zeug ... aber hier, das ist das Wahre, das Richtige ... Brav, Natascha, du Liebe, Gute! ... Wie sie wohl dieses H herausbringen wird? Gut getroffen! Gott sei Dank!« Dabei hatte er selbst (ohne sich dessen bewußt zu werden, daß er mitsang), um dieses H zu verstärken, in der zweiten Stimme die Terz dieser hohen Note gesungen. »O Gott, wie schön! Habe ich es wirklich getroffen? Welch ein Glück!« dachte er.[92]

Oh, in wie schönen Schwingungen bebte diese Terz, und wie begann alles, was in Rostows Seele Gutes vorhanden war, sich zu regen! Und diese gute Regung hatte mit der ganzen Welt nichts zu tun und war höher und edler als die ganze Welt. »Was sind dagegen Spielverluste und Menschen wie Dolochow und Ehrenworte! Alles nur dummes Zeug! Man kann Mord und Diebstahl begehen und doch glücklich sein ...«

Quelle:
Tolstoj, Lev Nikolaevic: Krieg und Frieden. 4 Bde., Leipzig 1922, Band 2, S. 87-93.
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