XIV

[83] Nach anderthalb Stunden betrachteten die meisten Spieler ihr eigenes Spiel nur noch als Nebensache; das ganze Interesse konzentrierte sich allein auf Rostow. Seine Schuld betrug nicht mehr sechzehnhundert Rubel, sondern es war ihm eine lange Zahlenreihe angeschrieben. Bis zehntausend hatte er sie zusammengezählt; jetzt hatte er die undeutliche Vorstellung, sie möchte wohl schon auf fünfzehntausend angewachsen sein; aber in Wirklichkeit überstieg seine Schuld schon zwanzigtausend Rubel. Dolochow hörte nicht mehr zu, was die anderen erzählten, und erzählte selbst nichts mehr; er verfolgte jede Bewegung, die[83] Rostow mit den Händen machte, und warf ab und zu einen schnellen Blick auf dessen Schuldenverzeichnis. Er hatte sich vorgenommen, das Spiel so lange fortzusetzen, bis Rostows Schuld auf dreiundvierzigtausend angewachsen sein würde. Diese Zahl hatte er deswegen gewählt, weil dreiundvierzig als Summe herauskam, wenn er seine und Sonjas Lebensjahre addierte. Rostow saß, den Kopf auf beide Arme gestützt, an dem vollgeschriebenen, mit Wein begossenen, mit Karten bedeckten Tisch. Das eine qualvolle Gefühl wurde er nicht los: diese breitknochigen, roten Hände mit der starken Behaarung, die aus den Hemdsärmeln sichtbar wurde, diese Hände, die er zugleich liebte und haßte, hielten ihn in ihrer Gewalt.

»Sechshundert Rubel, As, Paroli, die Neun ... Den Verlust wieder einzubringen, ist unmöglich! ... Und wie vergnügt hätte ich zu Hause sein können ... Der Bube auf paix ... Es ist ja gar nicht möglich! ... Warum tut er mir das nur an?« dachte Rostow und suchte in seinem Gedächtnis. Manchmal besetzte er eine Karte außerordentlich hoch; aber Dolochow weigerte sich, einen solchen Einsatz zu akzeptieren, und bestimmte selbst einen niedrigeren. Nikolai fügte sich ihm und betete bald zu Gott, wie er es auf dem Kampfplatz an der Ennsbrücke getan hatte; bald machte er sich ein Orakel zurecht, daß diejenige Karte, die ihm aus einem Haufen verbogener Karten unter dem Tisch zuerst in die Hände komme, ihn retten werde, bald zählte er, wieviel Schnüre er an seiner Husarenjacke hatte, und besetzte eine Karte, die die gleiche Augenzahl aufwies, mit dem Betrag seines letzten Verlustes; bald blickte er, gleichsam um Hilfe flehend, die Mitspieler an; bald betrachtete er das jetzt völlig kalt erscheinende Gesicht Dolochows und bemühte sich zu ergründen, was in dessen Innerm vorging.

»Er weiß doch, was dieser Verlust für mich zu bedeuten hat;[84] kann er denn wirklich meinen Ruin wollen? Er war ja doch mein Freund; ich habe ihn ja geliebt ... Aber auch er kann nichts dafür; was soll er machen, wenn das Glück ihn begünstigt? Und auch ich trage keine Schuld«, sagte er zu sich selbst. »Ich habe nichts Böses getan. Habe ich etwa jemand ermordet, jemand beleidigt, jemandem Übles gewünscht? Womit habe ich denn dieses furchtbare Unglück verdient? Und wann hat es angefangen? Es ist noch gar nicht so lange her, da trat ich an diesen Tisch heran in der Absicht, hundert Rubel zu gewinnen, für meine Mama die Schatulle zu kaufen, die ihr so gefallen hat, und wieder nach Hause zu fahren. Ich war so glücklich, so frei, so froh! Und ich wußte damals nicht einmal, wie glücklich ich war! Wann hat denn das aufgehört, und wann hat dieser neue, furchtbare Zustand begonnen? Durch welches Merkmal war dieser Umschwung gekennzeichnet? Ich habe immer ebenso auf diesem Platz an diesem Tisch gesessen und ebenso Karten ausgesucht und Karten gezogen und nach diesen breitknochigen, gewandten Händen hingeblickt. Wann hat sich das denn vollzogen, und was hat sich eigentlich vollzogen? Ich bin gesund und kräftig und immer noch derselbe, der ich war, und befinde mich immer noch auf demselben Platz. Nein, es kann nicht sein! Das Ganze wird sich in nichts auflösen!«

Er war rot geworden und in Schweiß geraten, obwohl es im Zimmer nicht heiß war. Sein Gesicht bot einen furchtbaren, kläglichen Anblick, namentlich infolge des vergeblichen Bemühens, ruhig zu scheinen.

Seine Schuld war nun ungefähr bis auf die verhängnisvolle Zahl von Dreiundvierzigtausend gestiegen. Rostow war gerade dabei, eine Karte zurechtzumachen, mit der er ein Paroli von soeben gewonnenen dreitausend Rubeln bieten wollte, da schlug Dolochow mit dem Spiel Karten auf den Tisch, legte es hin, ergriff[85] die Kreide und begann schnell mit seiner deutlichen, kräftigen Handschrift, unter der die Kreide zerbröckelte, Rostows Schuld zusammenzuzählen.

»Soupieren, soupieren! Es ist Zeit! Da sind auch die Zigeuner!« rief er.

Und wirklich traten bereits eine Anzahl von Männern und Frauen mit dunklen Gesichtern aus der Kälte herein und sagten etwas mit ihrer zigeunerhaften Aussprache. Nikolai sah, daß alles zu Ende war; aber er sagte in gleichmütigem Ton:

»Nun? Willst du nicht mehr? Und ich machte gerade eine so schöne Karte zurecht!« Er tat, als interessiere ihn vor allem der Reiz des Spieles selbst.

»Es ist alles zu Ende; ich bin verloren!« dachte er. »Jetzt bleibt mir nichts weiter übrig als eine Kugel in den Kopf.« Aber gleichzeitig sagte er in heiterem Ton:

»Na, noch eine Karte!«

»Gut«, antwortete Dolochow, der mit der Addition fertig war, »gut! Um diese einundzwanzig Rubel«, sagte er und wies auf die Zahl Einundzwanzig, welche einen Überschuß über die runde Zahl Dreiundvierzigtausend bildete. Er nahm das Spiel Karten zur Hand und machte sich bereit, die Karten abzuziehen. Rostow bog gehorsam die Ecke zurück und schrieb statt der ursprünglich beabsichtigten Zahl Sechstausend sorgfältig die Zahl Einundzwanzig hin.

»Das ist mir ganz gleich«, sagte er dabei. »Mich interessiert es nur, zu wissen, ob diese Zehn gewinnen oder verlieren wird.«

Dolochow begann ganz ernst, die Karten abzuziehen. Oh, wie haßte Rostow in diesem Augenblick diese roten Hände mit den kurzen Fingern und der starken Behaarung, die aus den Hemdsärmeln sichtbar wurde, diese Hände, die ihn in ihrer Gewalt hielten ... Die Zehn gewann.[86]

»Sie sind mir dreiundvierzigtausend Rubel schuldig, Graf«, sagte Dolochow, stand vom Tisch auf und reckte die Glieder. »Man wird doch ganz müde vom langen Sitzen«, fügte er hinzu.

»Ja, ich bin auch recht müde«, antwortete Rostow.

Dolochow unterbrach ihn, wie wenn er ihm bemerklich machen wollte, daß es sich für ihn nicht schicke, so zu scherzen.

»Wann befehlen Sie, daß ich das Geld in Empfang nehme, Graf?« fragte er.

Rostow wurde dunkelrot und rief Dolochow in ein anderes Zimmer.

»Ich bin nicht imstande, das Ganze sofort zu bezahlen; du wirst ja doch einen Wechsel von mir annehmen«, sagte er.

»Hör mal, Rostow«, erwiderte Dolochow, der ganz unverhohlen lächelte und ihm gerade ins Gesicht blickte, »du kennst das Sprichwort: Glück in der Liebe, Unglück im Spiel. Deine Kusine liebt dich; das weiß ich.«

»Oh, es ist furchtbar, sich so in der Gewalt dieses Menschen zu fühlen«, dachte Rostow. Er wußte, welch ein Schlag die Nachricht von diesem Spielverlust für seinen Vater und für seine Mutter sein würde; er wußte, welch ein Glück es für ihn sein würde, all dieser Scham und all diesem Kummer zu entgehen; und er wußte, daß Dolochow sich bewußt war, ihn von alledem befreien zu können – und nun machte es diesem Menschen noch Vergnügen, mit ihm zu spielen wie die Katze mit der Maus.

»Deine Kusine ...«, wollte Dolochow weiterreden, aber Nikolai unterbrach ihn:

»Meine Kusine hat hiermit nichts zu schaffen, und über sie ist hier nicht zu reden!« schrie er wütend.

»Also wann kann ich das Geld in Empfang nehmen?« fragte Dolochow.

»Morgen«, antwortete Rostow und verließ das Zimmer.

Quelle:
Tolstoj, Lev Nikolaevic: Krieg und Frieden. 4 Bde., Leipzig 1922, Band 2, S. 83-87.
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