IV

[29] Pierre saß Dolochow und Nikolai Rostow gegenüber. Wie immer aß er viel und hastig und trank viel. Aber diejenigen, die ihn genauer kannten, sahen, daß an diesem Tag eine große Veränderung mit ihm vorgegangen war. Während des ganzen Diners verhielt er sich schweigsam und ließ entweder, die Augen zusammenkneifend und die Stirn runzelnd, seine Augen rings umherschweifen, oder er blickte mit einer Miene vollständiger Zerstreutheit starr auf einen Punkt und fingerte an seiner Nase umher. Sein Gesicht hatte einen trüben, finsteren Ausdruck. Er schien von dem, was um ihn herum vorging, nichts zu sehen und zu hören und nur über eine einzige, schwere, ja, unlösbare Frage nachzudenken.

Vor diese unlösbare, ihn peinigende Frage war er durch Andeutungen gestellt worden, die ihm die älteste der drei in Moskau wohnenden Prinzessinnen über nahe Beziehungen zwischen seiner Frau und Dolochow gemacht hatte, sowie durch einen anonymen Brief, den er heute vormittag erhalten hatte, und in welchem mit jener gemeinen Witzelei, wie sie eine Eigenheit aller anonymen Briefe ist, gesagt war, er könne doch durch seine Brille recht schlecht sehen, und das Verhältnis zwischen seiner Frau und Dolochow sei nur für ihn allein noch ein Geheimnis. Pierre hatte weder den Andeutungen der Prinzessin noch diesem Brief Glauben geschenkt; aber es war ihm furchtbar, jetzt Dolochow anzusehen, der ihm gegenübersaß. Jedesmal, wenn sein Blick unerwartet den schönen, frechen Augen Dolochows begegnete, hatte Pierre die Empfindung, daß ein garstiger, entsetzlicher Verdacht in seiner Seele rege werde, und wandte sich schnell weg. Indem er sich unwillkürlich an das ganze frühere Verhalten seiner Frau und an ihr Benehmen gegen Dolochow erinnerte, sah Pierre[30] klar, daß das, was in dem Brief gesagt war, wahr sein oder wenigstens wahr scheinen könnte, wenn es sich auf eine andere Frau als gerade die seinige bezöge. Unwillkürlich mußte Pierre daran denken, wie Dolochow, den man nach dem Feldzug dienstlich wieder völlig rehabilitiert hatte, nach Petersburg zurückgekehrt und zu ihm gekommen war. Die freundschaftlichen Beziehungen ausnutzend, in die ihn ehemals die gemeinschaftlichen Zechgelage zu Pierre gebracht hatten, war Dolochow geradezu zu ihm ins Haus gekommen, und Pierre hatte ihn bei sich wohnen lassen und ihm Geld geborgt. Pierre erinnerte sich, wie Helene lächelnd ihr Mißvergnügen darüber ausgesprochen hatte, daß Dolochow bei ihnen im Haus wohnte, und in welcher ungenierten Weise Dolochow ihm gegenüber die Schönheit seiner Frau gepriesen und wie die ser Mensch seit jener Zeit bis zur Ankunft in Moskau sie beide auch nicht für einen Augenblick verlassen hatte.

»Ja, er ist sehr schön«, dachte Pierre. »Ich kenne ihn. Meinen Namen zu entehren und mich auszulachen, würde für ihn gerade deswegen einen besonderen Reiz haben, weil ich mich für ihn bemüht, ihn aufgenommen, ihm geholfen habe. Ich kenne ihn; ich weiß, welch einen pikanten Geschmack dies nach seiner Empfindung seinem Betrug geben müßte – wenn die Sache wahr wäre. Ja, wenn die Sache wahr wäre; aber ich glaube es nicht; ich habe kein Recht, es zu glauben, und kann es nicht glauben.« Er erinnerte sich an den Ausdruck, den Dolochows Gesicht annahm, wenn er manchmal einen Anfall von Grausamkeit bekam, wie damals, als er den Reviervorsteher mit dem Bären zusammengebunden und ins Wasser geworfen hatte, oder wenn er ohne jede Ursache jemand zum Duell herausforderte, oder wenn er mit seiner Pistole das Pferd eines Fuhrmanns totschoß. Dieser selbe Ausdruck lag oft auf Dolochows Gesicht, wenn er ihn,[31] Pierre, anblickte. »Ja, er ist ein Raufbold«, dachte Pierre; »ihm macht es gar nichts aus, einen Menschen zu töten; er muß wohl meinen, daß sich alle vor ihm fürchten, und das muß ihm wohl angenehm sein. Er muß wohl denken, daß auch ich mich vor ihm fürchte. Und ich fürchte mich auch wirklich vor ihm«, dachte Pierre und merkte bei diesen Gedanken wieder, daß ein entsetzlicher, garstiger Verdacht in seiner Seele rege wurde.

Jetzt saßen nun Dolochow, Denisow und Rostow ihm gegenüber und schienen sehr lustig zu sein. Rostow unterhielt sich vergnügt mit seinen beiden Freunden, von denen der eine ein tüchtiger Husar, der andere ein bekannter Raufbold und Taugenichts war, und warf mitunter einen spöttischen Blick zu Pierre hin, der bei diesem Diner durch sein in sich gekehrtes, zerstreutes Wesen und durch seine massige Gestalt auffiel. Rostow war gegen Pierre etwas gereizt, erstens, weil ihm nach seiner husarenmäßigen Anschauungsweise dieser als reicher Zivilist und als Ehemann einer schönen Frau überhaupt unsympathisch war, und zweitens, weil Pierre bei seiner Versunkenheit und Zerstreutheit ihn nicht erkannt und seine Verbeugung nicht erwidert hatte. Als auf die Gesundheit des Kaisers getrunken wurde, stand Pierre, mit seinen Gedanken beschäftigt, nicht mit auf und griff nicht nach seinem Glas.

»Aber was machen Sie denn?« rief ihm Rostow zu, indem er ihn mit begeisterten und zugleich zornigen Augen anblickte. »Hören Sie denn nicht: ›Auf die Gesundheit Seiner Majestät des Kaisers!‹«

Pierre erhob sich gehorsam mit einem Seufzer und trank sein Glas aus; dann wartete er, bis sich alle wie der setzten, und wandte sich mit seinem gutmütigen Lächeln zu Rostow.

»Ich hatte Sie gar nicht erkannt«, sagte er. Aber Rostow hatte jetzt dafür keinen Sinn; er schrie: »Hurra!«[32]

»Warum erneuerst du denn die Bekanntschaft nicht?« fragte Dolochow Rostow.

»Ach, hol ihn der Henker! Er ist ein dummer Kerl!« erwiderte Rostow.

»Gegen die Ehemänner schöner Frauen muß man sehr liebenswürdig sein«, meinte Denisow.

Pierre hörte nicht, was sie redeten, merkte aber, daß sie von ihm sprachen. Er wandte sich errötend ab.

»Nun, jetzt auf das Wohl der schönen Frauen«, sagte Dolochow und wandte sich, das Glas in der Hand, mit ernster Miene, aber mit einem Lächeln in den Mundwinkeln, an Pierre. »Auf das Wohl der schönen Frauen, mein lieber Pierre, und ihrer Liebhaber.«

Mit niedergeschlagenen Augen trank Pierre aus seinem Glas, ohne Dolochow anzusehen und ohne ihm zu antworten. Ein Lakai, welcher die Kutusowsche Kantate verteilte, legte auch Pierre, als einem der vornehmsten Gäste, ein Exemplar hin. Pierre wollte es nehmen; aber Dolochow bog sich herüber, zog ihm das Blatt aus der Hand und machte sich daran, es zu lesen. Pierre blickte ihn an, seine Pupillen schienen in das Innere der Augen hineinzusinken: der entsetzliche, garstige Verdacht, der ihn während des ganzen Diners gepeinigt hatte, stieg wieder in ihm auf und gewann über ihn die Herrschaft. Er bog sich mit seinem ganzen dicken Körper über den Tisch hinüber.

»Wie können Sie sich erdreisten, es mir wegzunehmen!« schrie er.

Als Neswizki und Pierres Nachbar zur Rechten diese herausgeschrienen Worte hörten und sahen, auf wen sie sich bezogen, wandten sie sich eilig mit erschrockenen Gesichtern zu Pierre.

»Still doch! Still! Was haben Sie denn?« flüsterten sie ihm bestürzt zu.[33]

Dolochow betrachtete den ihm gegenübersitzenden Pierre mit seinen hellen, vergnügten, grausamen Augen und lächelte dabei, als ob er sagen wollte: »Ja, so, so habe ich es gern.«

»Ich gebe es nicht zurück«, erwiderte er klar und deutlich.

Blaß, mit zitternden Lippen, riß ihm Pierre das Blatt weg.

»Sie ... Sie ... sind ein Nichtswürdiger ...! Ich fordere Sie!« stieß er heraus, schob seinen Stuhl zurück und verließ die Tafel.

In demselben Augenblick, als Pierre dies tat und diese Worte sagte, fühlte er, daß die Frage, die ihn in diesen letzten vierundzwanzig Stunden gequält hatte, die Frage, ob seine Frau schuldig sei, endgültig und zweifellos im bejahenden Sinn entschieden war. Er haßte seine Frau und war für immer von ihr geschieden.

Trotz Denisows Rat, sich in diese Angelegenheit nicht hineinzumischen, erklärte sich Rostow bereit, Dolochows Sekundant zu sein, und besprach nach Tisch mit Neswizki, der Besuchows Sekundant war, die Bedingungen des Duells. Pierre war sogleich nach Hause gefahren; Rostow, Dolochow und Denisow dagegen blieben bis zum späten Abend im Klub sitzen und hörten die Zigeuner und die Sänger an.

»Also auf Wiedersehen morgen im Sokolniki-Wald«, sagte Dolochow, als er von Rostow vor dem Portal des Klubs Abschied nahm.

»Und du bist wirklich ganz ruhig?« fragte Rostow.

Dolochow blieb stehen.

»Ja, siehst du, ich will dir mit wenigen Worten das ganze Geheimnis enthüllen, das es beim Duell gibt. Wenn du ein Duell vorhast, und du machst vorher dein Testament und schreibst zärtliche Briefe an deine Eltern und denkst daran, daß du möglicherweise getötet wirst: dann bist du ein Dummkopf und aller Wahrscheinlichkeit[34] nach verloren. Wenn du dagegen mit dem festen Vorsatz hingehst, den Gegner möglichst schnell und möglichst sicher zu töten, dann ist alles in guter Ordnung. Es ist gerade wie bei der Bärenjagd; da pflegte mir unser Bärenjäger in Kostroma zu sagen: ›Natürlich hat man allen Anlaß, sich vor einem Bären zu fürchten; aber sowie man einen sieht, ist auch die Furcht verschwunden, und die einzige Sorge ist dann, daß er nur nicht auskommt!‹ Na, geradeso geht es auch mir. Auf morgen, mein Lieber!«

Am andern Tag um acht Uhr morgens kamen Pierre und Neswizki nach dem Sokolniki-Wald und fanden dort schon Dolochow, Denisow und Rostow vor. Pierres Miene sah so aus, als wäre er mit irgendwelchen Überlegungen beschäftigt, die mit dem bevorstehenden Kampf gar nichts zu tun hätten. Sein eingefallenes Gesicht hatte eine gelbliche Farbe; er hatte in dieser Nacht offenbar nicht geschlafen. Zerstreut blickte er um sich und runzelte die Stirn, wie man es sonst wohl bei grellem Sonnenlicht tut. Zwei Gedanken beschäftigten ihn ausschließlich: daß seine Frau sich schuldig gemacht habe, woran ihm nach der schlaflosen Nacht nicht der geringste Zweifel mehr geblieben war, und daß Dolochow eigentlich schuldlos sei, da er ja keinerlei Anlaß gehabt habe, die Ehre eines ihm fremden Mannes zu schonen. »Vielleicht hätte ich an seiner Stelle dasselbe getan«, dachte Pierre. »Es ist sogar höchstwahrscheinlich, daß ich dasselbe getan hätte. Wozu also dieses Duell, dieser Mord? Entweder treffe ich ihn oder er mich in den Kopf, in den Ellenbogen, in das Knie. Ich möchte mich am liebsten davonmachen, weglaufen, mich irgendwo verbergen«, fuhr es ihm durch den Kopf. Aber gerade in dem Augenblick, wo ihm diese Gedanken kamen, fragte er mit einer besonders ruhigen, zerstreuten Miene, die den Anwesenden Respekt abnötigte: »Ist's bald so weit? Alles fertig?«[35]

Nun war alles fertig; die Säbel, welche die Barriere bezeichneten, bis zu der die Gegner avancieren sollten, waren in den Schnee gesteckt, die Pistolen geladen. Da trat Neswizki zu Pierre heran.

»Ich würde gegen meine Pflicht verstoßen, Graf«, sagte er in schüchternem Ton, »und mich des Vertrauens und der Ehre nicht würdig zeigen, die Sie mir durch die Erwählung zu Ihrem Sekundanten erwiesen haben, wenn ich Ihnen in diesem bedeutsamen, hochbedeutsamen Augenblick nicht die volle Wahrheit sagte. Ich bin der Ansicht, daß für dieses Duell kein hinreichender Grund vorhanden ist, und daß durch das, was vorgefallen ist, kein Blutvergießen gerechtfertigt wird ... Sie hatten unrecht, oder doch nicht durchaus recht; Sie sind heftig geworden ...«

»Ach ja, ich habe mich furchtbar dumm benommen«, sagte Pierre.

»Nun, dann erlauben Sie mir, unseren Gegnern Ihr Bedauern auszusprechen«, fuhr Neswizki fort, der, wie die übrigen Teilnehmer an diesem Rekontre (und wie überhaupt alle, die an solchen Affären beteiligt sind), noch nicht glaubte, daß es wirklich zum Zweikampf kommen werde, »und ich bin überzeugt, daß sie sich werden bereitfinden lassen, Ihre Entschuldigung anzunehmen. Sie wissen, Graf, daß es weit edler ist, einen begangenen Fehler einzugestehen, als die Sache bis zu Folgen zu treiben, die nicht wiedergutzumachen sind. Gestatten Sie mir, mit den Gegnern zu reden ...«

»Nein, was ist da erst noch zu reden!« unterbrach ihn Pierre. »Es ist mir auch so ganz recht ... Ist also alles bereit?« fuhr er fort. »Sagen Sie mir nur, wohin ich gehen und wie ich schießen soll«, fügte er mit einem unnatürlich erscheinenden, sanften Lächeln hinzu.

Er nahm die Pistole in die Hand und erkundigte sich, wie er sie[36] abzudrücken habe, da er bisher noch nie eine Pistole in der Hand gehabt hatte, was er sich schämte einzugestehen.

»Ach ja, ganz richtig, ich weiß schon, ich hatte es nur vergessen«, sagte er.

»Von Entschuldigung kann nicht die Rede sein, absolut nicht!« erwiderte Dolochow auf eine Äußerung Denisows, der auch seinerseits einen Versöhnungsversuch unternahm, und begab sich gleichfalls zu dem für das Duell ausgewählten Platz.

Dieser Platz lag etwa achtzig Schritte seitwärts von dem Weg, auf dem sie die Schlitten hatten stehenlassen. Es war eine kleine Lichtung im Fichtenwald, mit Schnee bedeckt, der infolge der warmen Temperatur der letzten Tage taute. Die Gegner standen ungefähr vierzig Schritte voneinander entfernt an den Rändern der Lichtung. Die Sekundanten zählten die Schritte ab und stellten durch ihre Fußspuren, die sich in dem tiefen, weichen Schnee stark ausprägten, kleine Steige her von den Orten, wo die Gegner standen, bis zu Neswizkis und Denisows in den Schnee gesteckten Säbeln, welche die Barriere darstellten und zehn Schritte voneinander entfernt waren. Das Tauwetter und der Nebel der letzten Tage dauerten auch heute noch fort; auf vierzig Schritte war nichts zu sehen. Seit drei Minuten war schon alles bereit; aber dennoch zögerte man noch anzufangen; alle schwiegen.

Quelle:
Tolstoj, Lev Nikolaevic: Krieg und Frieden. 4 Bde., Leipzig 1922, Band 2, S. 29-37.
Lizenz:
Kategorien:

Buchempfehlung

Strindberg, August Johan

Inferno

Inferno

Strindbergs autobiografischer Roman beschreibt seine schwersten Jahre von 1894 bis 1896, die »Infernokrise«. Von seiner zweiten Frau, Frida Uhl, getrennt leidet der Autor in Paris unter Angstzuständen, Verfolgungswahn und hegt Selbstmordabsichten. Er unternimmt alchimistische Versuche und verfällt den mystischen Betrachtungen Emanuel Swedenborgs. Visionen und Hysterien wechseln sich ab und verwischen die Grenze zwischen Genie und Wahnsinn.

146 Seiten, 9.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Romantische Geschichten. Elf Erzählungen

Romantische Geschichten. Elf Erzählungen

Romantik! Das ist auch – aber eben nicht nur – eine Epoche. Wenn wir heute etwas romantisch finden oder nennen, schwingt darin die Sehnsucht und die Leidenschaft der jungen Autoren, die seit dem Ausklang des 18. Jahrhundert ihre Gefühlswelt gegen die von der Aufklärung geforderte Vernunft verteidigt haben. So sind vor 200 Jahren wundervolle Erzählungen entstanden. Sie handeln von der Suche nach einer verlorengegangenen Welt des Wunderbaren, sind melancholisch oder mythisch oder märchenhaft, jedenfalls aber romantisch - damals wie heute. Michael Holzinger hat für diese preiswerte Leseausgabe elf der schönsten romantischen Erzählungen ausgewählt.

442 Seiten, 16.80 Euro

Ansehen bei Amazon