V

[37] »Na, dann wollen wir anfangen«, sagte Dolochow.

»Gut!« erwiderte Pierre, auf dessen Gesicht immer noch dasselbe Lächeln lag.

Der furchtbare Ernst kam jetzt allen zum Bewußtsein. Es war offenbar, daß die so leichthin begonnene Sache jetzt durch nichts mehr aufgehalten werden konnte, sondern bereits, unabhängig[37] von menschlichem Willen, von selbst ihren Lauf nahm und nun durchgeführt werden mußte. Zunächst trat Denisow bis an die Barriere vor und rief:

»Da die Gegner eine Versöhnung abgelehnt haben, so ist es jetzt wohl gefällig, anzufangen. Wollen Sie die Pistolen nehmen und bei dem Wort ›Drei‹ zu avancieren beginnen.«

»Eins! Zwei! Drei!« schrie Denisow grimmig und trat zur Seite.

Die beiden Gegner kamen sich auf den von den Sekundanten getretenen Wegen immer näher und näher und erkannten nun einander in dem Nebel. Sie hatten das Recht, während des Avancierens bis zur Barriere zu schießen, wann ein jeder wollte. Dolochow ging langsam, ohne die Pistole zu erheben, und blickte mit seinen hellen, blitzenden, blauen Augen seinem Gegner ins Gesicht. Sein Mund machte, wie immer, den Eindruck, als lächle er.

Bei dem Wort »Drei« ging Pierre mit schnellen Schritten vorwärts, irrte aber von dem zurechtgetretenen Weg ab und schritt durch den unberührten Schnee. Er hielt die Pistole in der vorgestreckten rechten Hand; es sah aus, als fürchte er, sich mit dieser Pistole selbst zu verletzen. Den linken Arm hielt er geflissentlich nach hinten, weil er sich unwillkürlich versucht fühlte, den rechten Arm mit ihm zu stützen, und wußte, daß das nicht zulässig war. Als er sechs Schritte zurückgelegt und sich von dem Weg in den Schnee verirrt hatte, blickte er zuerst nach seinen Füßen und dann schnell nach Dolochow hin, zog den Finger heran, wie es ihm gezeigt war, und schoß. Da Pierre einen so starken Knall nicht erwartet hatte, fuhr er bei seinem eigenen Schuß zusammen; darauf lächelte er über seine Schreckhaftigkeit und blieb stehen. Der Rauch, der infolge des Nebels besonders dicht war, hinderte ihn im ersten Augenblick, etwas zu sehen; aber[38] der von ihm erwartete Schuß des Gegners erfolgte nicht. Er hörte nur Dolochows eilige Schritte, und aus dem Rauch wurde dessen Gestalt sichtbar. Die eine Hand hielt er gegen seine linke Seite, die andere ließ er herunterhängen und preßte sie fest um die Pistole. Sein Gesicht war blaß. Rostow lief zu ihm hin und sagte etwas zu ihm.

»Nei-ein!« stieß Dolochow zwischen den zusammengepreßten Zähnen hervor. »Nein, es ist nicht zu Ende!« Er machte schwankend und strauchelnd noch einige Schritte bis dicht an den Säbel und fiel dann neben ihm in den Schnee. Seine linke Hand war voll Blut; er wischte es an seinem Rock ab und stützte sich auf sie. Sein Gesicht war blaß und finster und zuckte.

»Kom ...«, begann Dolochow, war aber nicht imstande, was er sagen wollte, mit einemmal herauszubringen. »Kommen Sie!« sagte er dann mit Anstrengung.

Pierre, der kaum das Schluchzen zurückhielt, lief auf Dolochow zu und wollte schon den Zwischenraum durchschreiten, der die Barrieren trennte, als Dolochow schrie: »An die Barriere!« Pierre, der nun verstand, was jener gemeint hatte, blieb an dem Säbel stehen, der seine Barriere bildete. Beide waren nur zehn Schritte voneinander entfernt. Dolochow bückte sich mit dem Kopf zum Schnee hinunter, biß gierig in den Schnee hinein, hob den Kopf wieder in die Höhe, rückte sich zurecht, zog die Beine heran, suchte den Schwerpunkt seines Körpers zu stützen und kam so zum Sitzen. Er nahm von dem kalten Schnee in den Mund und sog daran; seine Lippen zitterten, lächelten aber trotzdem; seine Augen blitzten bei der ingrimmigen Anstrengung, mit der er seine letzten Kräfte sammelte. Er hob die Pistole und begann zu zielen.

»Drehen Sie sich seitwärts! Decken Sie sich mit der Pistole!« sagte Neswizki.[39]

»Decken Sie sich!« rief sogar Denisow, der sich nicht halten konnte, seinem Gegner zu.

Pierre stand mit einem sanften Lächeln des Mitleids und der Reue da; hilflos die Arme ausbreitend und die Beine auseinanderspreizend, bot er seine breite Brust Dolochow offen dar und sah ihn traurig an. Denisow, Rostow und Neswizki schlossen unwillkürlich die Augen. Sie hörten gleichzeitig den Schuß und einen zornigen Schrei Dolochows.

»Gefehlt!« schrie Dolochow und sank kraftlos auf den Schnee nieder, mit dem Gesicht nach unten.

Pierre griff sich an den Kopf, wandte sich um und eilte in den Wald; er ging durch den tiefen Schnee und redete unzusammenhängende Worte laut vor sich hin:

»Dumm ... dumm! Der Tod ... alles Lüge ...«, sagte er mit gerunzelter Stirn einmal über das andere.

Neswizki hielt ihn an und brachte ihn nach Hause.

Rostow und Denisow transportierten den verwundeten Dolochow im Schlitten zurück.

Dolochow lag schweigend, mit geschlossenen Augen, im Schlitten und antwortete nicht auf die an ihn gerichteten Fragen. Aber als sie in die Stadt einfuhren, kam er plötzlich zu sich, hob mit Mühe den Kopf in die Höhe und ergriff den neben ihm sitzenden Rostow bei der Hand. Rostow war überrascht durch Dolochows vollständig veränderten, jetzt zärtlichen, schwärmerischen Gesichtsausdruck.

»Nun, wie ist's? Wie fühlst du dich?« fragte Rostow.

»Schlecht! Aber das ist Nebensache, mein Freund«, antwortete Dolochow mit stockender Stimme. »Wo sind wir? Ich weiß schon, in Moskau. An mir ist nichts gelegen; aber ihr wird das den Tod geben; ich habe sie gemordet ... Sie wird das nicht überstehen. Nein, das übersteht sie nicht.«[40]

»Wer denn?« fragte Rostow.

»Meine Mutter. Meine Mutter, mein guter Engel, meine angebetete Mutter!« Dolochow brach in Tränen aus und drückte Rostow die Hand.

Als er sich einigermaßen beruhigt hatte, teilte er seinen Begleitern mit, daß er bei seiner Mutter wohne, und daß, wenn seine Mutter ihn jetzt in diesem Zustand erblicke, das ihr Tod sein werde. Er bat Rostow flehentlich, zu ihr zu fahren und sie vorzubereiten.

Rostow fuhr voraus, führte den Auftrag aus und ersah zu seiner größten Verwunderung, daß Dolochow, dieser Frechling und Raufbold Dolochow, in Moskau mit seiner alten Mutter und einer verwachsenen Schwester zusammenlebte und der zärtlichste Sohn und Bruder war.

Quelle:
Tolstoj, Lev Nikolaevic: Krieg und Frieden. 4 Bde., Leipzig 1922, Band 2, S. 37-41.
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