VIII

[53] »Liebe Marja«, sagte die kleine Fürstin am Vormittag des 19. März nach dem Frühstück, und die Oberlippe mit dem Schnurrbärtchen zog sich nach alter Gewohnheit in die Höhe;[53] aber wie bei allen Bewohnern dieses Hauses seit dem Tag, wo die schreckliche Nachricht eingetroffen war, in der Art zu lächeln, im Ton der Stimmen, ja selbst in der Besonderheit des Gehens sich das Gefühl des Schmerzes und der Trauer kundgab, so glich sich jetzt auch das Lächeln der kleinen Fürstin der allgemeinen Stimmung an, obgleich sie deren Ursache nicht kannte, und erinnerte dadurch noch um so mehr an die allgemeine Traurigkeit.

»Liebe Marja«, sagte sie, »ich fürchte, daß das heutige ›Breakfast‹, wie euer Koch Foka es nennt, mir nicht gut bekommen ist.«

»Was ist dir denn, mein Herzchen? Du siehst so blaß aus! Ach ja, du bist sehr blaß«, sagte Prinzessin Marja erschrocken, die sofort mit ihren schweren, weichen Schritten zu ihrer Schwägerin geeilt war.

»Euer Durchlaucht, soll ich nicht Marja Bogdanowna holen lassen?« fragte ein gerade anwesendes Stubenmädchen. Marja Bogdanowna war die Hebamme aus der Kreisstadt; sie wohnte schon seit mehr als einer Woche in Lysyje-Gory.

»Das ist vielleicht wirklich das Richtige«, stimmte ihr Prinzessin Marja bei. »Ich will hingehen. Nur Mut, mein Engel!« Sie küßte Lisa und wollte das Zimmer verlassen.

»Ach nein, nein!« Und außer der durch ihren Körperzustand herbeigeführten Blässe malte sich auf dem Gesicht der kleinen Fürstin eine kindliche Furcht vor dem unabwendbaren Leiden. »Nein, es ist der Magen ... Du kannst glauben, daß es der Magen ist, Marja; sag doch auch, daß es der Magen ist ...« Und die Fürstin weinte, maßlos und eigensinnig wie ein kleines Kind, sogar etwas gekünstelt, und rang die kleinen Hände.

Die Prinzessin lief aus dem Zimmer, um Marja Bogdanowna zu holen.

»Mein Gott, o mein Gott!« hörte sie hinter sich stöhnen.[54]

Sich die kleinen, fleischigen, weißen Hände reibend, kam ihr die Hebamme schon mit ruhiger, selbstbewußter Miene entgegen.

»Marja Bogdanowna, ich glaube, es hat angefangen«, sagte Prinzessin Marja und blickte diese wichtige Person mit weitgeöffneten, erschrockenen Augen an.

»Nun, Gott sei Dank, Prinzessin,« erwiderte Marja Bogdanowna, ohne ihre Schritte zu beschleunigen. »Aber Sie als junges Mädchen dürfen davon nichts wissen.«

»Aber wie geht es denn zu, daß der Arzt aus Moskau noch nicht angekommen ist?« sagte die Prinzessin. Auf Lisas und des Fürsten Andrei Wunsch war für den vermutlichen Termin ein Moskauer Geburtshelfer zu kommen ersucht worden, und er wurde nun jeden Augenblick erwartet.

»Nun, das macht nichts, Prinzessin; seien Sie ohne Sorge!« antwortete Marja Bogdanowna. »Es wird auch ohne Arzt alles gutgehen.«

Fünf Minuten darauf hörte die Prinzessin von ihrem Zimmer aus, daß auf dem Korridor etwas Schweres getragen wurde. Sie sah aus der Tür: mehrere Diener trugen das Ledersofa, das sonst im Zimmer des Fürsten Andrei stand, aus irgendeinem Grund nach dem Schlafzimmer. Auf den Gesichtern der Träger lag eine Art von feierlichem Ernst.

Prinzessin Marja saß allein in ihrem Zimmer und horchte auf die Geräusche im Haus; ab und zu öffnete sie die Tür, wenn jemand vorbeiging, und sah zu, was sich auf dem Korridor zutrug. Einige Frauen gingen mit leisen Schritten nach der einen und nach der andern Seite hin vorüber, blickten sich nach der Prinzessin um und wandten sich von ihr ab. Sie wagte nicht zu fragen, machte die Tür wieder zu, kehrte in ihr Zimmer zurück und setzte sich bald in ihren Lehnstuhl, bald griff sie nach dem Gebetbuch, bald fiel sie vor dem Heiligenschrein auf die Knie.[55] Aber leider mußte sie zu ihrem Erstaunen bemerken, daß das Gebet ihre Aufregung nicht beruhigte. Plötzlich öffnete sich leise die Tür ihres Zimmers, und auf der Schwelle erschien, ein Tuch um den Kopf gebunden, ihre alte Kinderfrau Praskowja Sawischna, die sonst fast nie zu ihr ins Zimmer kam, da der Fürst es verboten hatte.

»Ich bin hergekommen, um ein Weilchen bei dir zu sitzen, liebe Marja«, sagte die Kinderfrau. »Und dann habe ich auch die Trauungskerzen des Fürsten Andrei mitgebracht; die wollte ich vor seinem Schutzheiligen anzünden, liebes Kind«, fügte sie mit einem Seufzer hinzu.

»Ach, wie freue ich mich, daß du gekommen bist, liebe Alte!«

»Gott ist gnädig, mein Herzchen.«

Die Kinderfrau zündete vor dem Heiligenschrein die ringsum mit Gold verzierten Kerzen an und setzte sich mit ihrem Strickstrumpf an die Tür. Prinzessin Marja nahm ein Buch und begann zu lesen. Nur wenn sich Schritte oder Stimmen vernehmen ließen, blickten beide einander an, die Prinzessin erschrocken und fragend, die Kinderfrau beruhigend. Dasselbe Gefühl, welches Prinzessin Marja, in ihrem Zimmer sitzend, empfand, war in allen Teilen des Hauses verbreitet und erfüllte die Herzen aller Hausgenossen. Aufgrund eines Volksglaubens, daß die Gebärerin um so weniger leidet, je weniger Leute von ihren Leiden wissen, waren alle bemüht, sich unwissend zu stellen. Niemand sprach davon, und das Dienstpersonal zeigte auch heute das gewöhnliche gemessene, respektvolle Benehmen und die guten Manieren, die im Haus des Fürsten stets herrschten; aber allen sah man eine bestimmte, gemeinsame Sorge an und eine weiche Stimmung des Herzens und das Bewußtsein, daß sich da jetzt in diesem Augenblick etwas Großes, Unbegreifliches vollzog.

In dem großen Mädchenzimmer war kein Lachen zu hören. Im[56] Dienerzimmer saßen alle schweigend da und hielten sich für irgendeinen Bedarfsfall in Bereitschaft. Die Leute im Gesindehaus hatten Kienspäne und Kerzen angezündet und schliefen nicht. Der alte Fürst ging, mit den Hacken auftretend, in seinem Zimmer auf und ab und schickte Tichon zu Marja Bogdanowna, um sich zu erkundigen, wie es gehe. »Sage nur: ›Der Fürst läßt fragen, wie es geht‹, und dann komm wieder und melde mir, was sie gesagt hat.«

»Melde dem Fürsten, daß die Geburt begonnen hat«, sagte Marja Bogdanowna, indem sie den Abgesandten ernst und bedeutsam anblickte.

Tichon ging zurück und meldete es dem Fürsten.

»Gut«, sagte der Fürst und machte die Tür hinter sich zu; Tichon hörte aus dem Zimmer des Fürsten nicht das geringste Geräusch mehr.

Tichon wartete eine Weile und ging dann hinein, wie wenn er die Kerzen in Ordnung bringen wollte. Als er sah, daß der Fürst auf dem Sofa lag, betrachtete Tichon ihn und sein verstörtes Gesicht, schüttelte den Kopf, trat schweigend zu ihm heran und küßte ihn auf die Schulter; dann ging er wieder hinaus, ohne die Kerzen in Ordnung gebracht und ohne gesagt zu haben, warum er gekommen sei. Der feierlichste, geheimnisvollste Vorgang der Welt fuhr fort sich zu vollziehen. Der Abend verging, die Nacht kam heran. Das Gefühl der Erwartung und die weiche Seelenstimmung gegenüber dem Unbegreiflichen wurde nicht schwächer, sondern steigerte sich noch immer. Niemand schlief.


Es war eine von jenen Märznächten, wo der Winter es sich in den Kopf gesetzt zu haben scheint, das Feld zu behaupten, und nun mit verzweifeltem Ingrimm unter heftigem Sturm seinen[57] letzten Schneevorrat herabschüttet. Dem deutschen Arzt aus Moskau, der jeden Augenblick erwartet wurde, waren frische Pferde auf die große Landstraße entgegengeschickt worden, und Reiter mit Laternen waren an der Stelle postiert, wo der Landweg abzweigte, um den Arzt über die holprigen Stellen und Wasserlöcher zu geleiten.

Prinzessin Marja hatte schon längst aufgehört, in dem Buch zu lesen; sie saß schweigend da und richtete ihre glänzenden Augen auf das runzlige, ihr bis in die kleinsten Einzelheiten bekannte Gesicht der Kinderfrau: auf eine graue Haarsträhne, die sich unter dem Tuch hervorgestohlen hatte, und auf das herunterhängende Hautsäckchen unter dem Kinn.

Die Kinderfrau Sawischna erzählte, den Strickstrumpf in den Händen haltend, mit leiser Stimme, ohne ihre eigenen Worte selbst zu hören und zu verstehen, eine Geschichte, die sie schon hundertmal erzählt hatte: wie die selige Fürstin in Kischinew die Prinzessin Marja zur Welt gebracht habe, unter Beihilfe nur einer moldauischen Bäuerin statt einer Hebamme.

»Gott ist gnädig; die Ärzte sind ganz überflüssig«, sagte sie.

Plötzlich drückte ein Windstoß heftig gegen ein Fenster der Stube, aus welchem der Vorsetzrahmen herausgenommen war (auf Anordnung des Fürsten wurde alljährlich, sobald die Lerchen erschienen, in jedem Zimmer ein Vorsetzrahmen entfernt), stieß einen schlecht vorgelegten Riegel auf, blähte den schweren seidenen Vorhang, trieb eine Menge kalter Schneeluft ins Zimmer und blies die Kerze aus. Prinzessin Marja schrak zusammen; die Kinderfrau legte ihren Strickstrumpf hin, ging zum Fenster, bog sich hinaus und suchte den losgerissenen Fensterflügel zu fassen. Der kalte Wind ließ die Enden ihres Kopftuches und die hervorgedrungenen grauen Haarsträhnen flattern.

»Prinzessin, liebe Prinzessin, es kommt jemand in der Allee gefahren!«[58] sagte sie und hielt den Fensterflügel in der Hand, ohne ihn zuzumachen. »Es sind Laternen dabei; gewiß der Doktor ...«

»Ach, Gott sei Dank, Gott sei Dank!« rief Prinzessin Marja. »Ich muß ihm entgegengehen; er versteht kein Russisch.«

Sie warf einen Schal um und eilte dem Ankommenden entgegen. Als sie durch das Vorzimmer ging, sah sie durch ein Fenster, daß eine Equipage und Leute mit Laternen vor dem Portal standen. Sie trat auf den Treppenflur. Oben, auf dem Geländerpfosten, stand ein Talglicht und tropfte im Zugwind. Der Diener Philipp stand, mit einer Miene höchster Überraschung ein zweites Licht in der Hand, tiefer unten, auf dem ersten Treppenabsatz. Noch weiter unten, hinter der Biegung, waren auf der Treppe sich nähernde Schritte in weichen Stiefeln vernehmbar. Und eine Stimme, die der Prinzessin Marja bekannt schien, sagte etwas.

»Gott sei Dank!« sagte die Stimme. »Und mein Vater?«

»Seine Durchlaucht haben sich zur Ruhe begeben«, antwortete die Stimme des Haushofmeisters Demian, der bereits unten war.

Dann sagte die andere Stimme noch etwas, und Demian antwortete wieder, und nun kamen die Schritte in den weichen Stiefeln schneller auf dem hinter der Biegung nicht sichtbaren Teil der Treppe herauf.

»Das ist Andrei!« dachte Prinzessin Marja. »Nein, es kann nicht sein; das wäre doch zu wunderbar.« Aber in demselben Augenblick, wo sie das dachte, erschien auf dem Treppenabsatz, wo der Diener mit dem Licht stand, das Gesicht und die Gestalt des Fürsten Andrei, im Pelz, mit schneebedecktem Kragen. Ja, er war es, jedoch blaß und mager und mit einem veränderten, seltsam weichen, aber unruhigen Gesichtsausdruck. Nun hatte er das obere Ende der Treppe erreicht und umarmte seine Schwester.

»Ihr habt meinen Brief nicht erhalten?« fragte er. Dann[59] kehrte er wieder um, ohne eine Antwort abzuwarten, die er auch nicht erhalten hätte, da die Prinzessin nicht imstande war zu reden, und stieg mit dem Geburtshelfer, der nach ihm in das Haus getreten war (Fürst Andrei hatte ihn auf der letzten Station getroffen), schnellen Schrittes noch einmal die Treppe hinauf und umarmte seine Schwester zum zweitenmal.

»Welch eine Fügung, liebe Marja«, sagte er, warf Pelz und Stiefel ab und ging nach dem Zimmer seiner Frau.

Quelle:
Tolstoj, Lev Nikolaevic: Krieg und Frieden. 4 Bde., Leipzig 1922, Band 2, S. 53-60.
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