VII

[48] Zwei Monate waren vergangen, seit die Nachricht von der Schlacht bei Austerlitz und dem Verschwinden des Fürsten Andrei nach Lysyje-Gory gelangt war, und trotz aller durch Vermittlung der Gesandtschaft beförderten Briefe und aller Nachforschungen war sein Leichnam nicht gefunden worden, und auch[48] unter den Gefangenen befand sich Fürst Andrei nicht. Das schlimmste für seine Angehörigen war gerade, daß doch noch eine leise Hoffnung geblieben war: er sei vielleicht von Einwohnern auf dem Schlachtfeld aufgelesen und liege nun möglicherweise genesend oder sterbend irgendwo allein, unter fremden Menschen, nicht imstande, Nachricht von sich zu geben.

In den Zeitungen, aus denen der alte Fürst zuerst von der Niederlage bei Austerlitz erfahren hatte, war, wie immer, nur sehr kurz und unbestimmt gesagt gewesen, die Russen hätten sich nach glänzendem Kampf zurückziehen müssen, und der Rückzug hätte sich in vollständiger Ordnung vollzogen. Der alte Fürst hatte aus dieser offiziellen Nachricht entnommen, daß die Unsrigen geschlagen waren. Eine Woche nach der Zeitung, die die Nachricht von der Schlacht bei Austerlitz gebracht hatte, war ein Brief von Kutusow eingelaufen, der den Fürsten von dem Schicksal benachrichtigte, das seinen Sohn betroffen hatte.

»Ihr Sohn«, schrieb Kutusow, »ist vor meinen Augen mit einer Fahne in der Hand an der Spitze eines Regiments als Held niedergesunken, würdig seines Vaters und seines Vaterlandes. Zu meinem und der ganzen Armee allgemeinem Bedauern ist bis jetzt nicht bekanntgeworden, ob er noch am Leben ist oder nicht. Aber lassen Sie uns an der Hoffnung festhalten, daß Ihr Sohn noch lebt; denn andernfalls würde unter den auf dem Schlachtfeld gefundenen Offizieren, deren Liste mir durch Parlamentäre zugestellt ist, auch er genannt sein.«

Der alte Fürst erhielt diesen Brief spätabends, als er schon allein in seinem Zimmer war; am andern Tag unternahm er, wie gewöhnlich, seinen Morgenspaziergang; aber er war dem Verwalter, dem Gärtner und dem Baumeister gegenüber schweigsam und redete, obgleich er zornig aussah, mit niemand.

Als Prinzessin Marja zur üblichen Zeit zu ihm in sein Zimmer[49] kam, stand er an der Drehbank und drechselte, sah sich aber, wie gewöhnlich, nicht nach ihr um.

»Ah, Prinzessin Marja!« sagte er auf einmal in unnatürlich klingendem Ton und warf den Drehstahl hin. Das Rad drehte sich infolge der Schwungkraft noch eine Weile weiter. Lange haftete der Prinzessin Marja dieses ersterbende Kreischen des Rades im Gedächtnis, da dieser Ton in ihrer Seele mit dem, was nun folgte, zu einem Eindruck verschmolz.

Prinzessin Marja näherte sich ihrem Vater, blickte ihm ins Gesicht und hatte plötzlich die Empfindung, als ob in ihrem Innern etwas zusammenstürzte. Ihre Augen hörten auf, deutlich zu sehen. Aus dem Gesicht des Vaters, das nicht traurig und niedergeschlagen, sondern grimmig aussah und sich mit Gewalt zwingen wollte, ruhig zu erscheinen, erkannte sie, daß in diesem Augenblick ein furchtbares Unglück über ihrem Haupt hing und auf sie herabzustürzen drohte, das schlimmste Unglück, das es im Leben gibt, ein Unglück, das ihr bisher noch unbekannt geblieben war, ein unfaßbares, nie wiedergutzumachendes Unglück, der Tod eines geliebten Menschen.

»Lieber Vater! Andrei?« fragte sie, und die anmutlose, unbeholfene Prinzessin sah in ihrem Kummer und in ihrer Selbstvergessenheit so unsagbar rührend und lieblich aus, daß der Vater ihren Blick nicht ertragen konnte und sich schluchzend abwandte.

»Ich habe Nachricht erhalten. Unter den Gefangenen ist er nicht; unter den Toten hat man ihn auch nicht gefunden. Kutusow hat geschrieben«, schrie er so laut und scharf, als ob er mit diesem Schreien die Prinzessin hinaustreiben wollte. »Er muß tot sein!«

Die Prinzessin sank nicht zu Boden und bekam keinen Schwindelanfall; blaß war sie schon vorher gewesen. Aber als sie diese Worte hörte, ging in ihrem Gesicht eine Veränderung vor, und[50] in ihren hellen, schönen Augen leuchtete ein besonderer Glanz auf. Es war, als ob eine Freudigkeit, eine Freudigkeit von höherer Art, die mit den Leiden und Freuden dieser Welt nichts gemein habe, den starken Kummer überflutete, von dem ihr Herz erfüllt war. Sie vergaß alle Furcht vor dem Vater, trat zu ihm heran, faßte ihn bei der Hand, zog ihn an sich und legte ihre Arme um seinen hageren, sehnigen Hals.

»Lieber Vater«, sagte sie, »wenden Sie sich nicht von mir weg. Lassen Sie uns zusammen weinen.«

»Diese Schurken, diese Halunken!« schrie der Alte und drehte sein Gesicht von ihr fort. »Vernichten die Armee! Vernichten so viele Menschenleben! Warum und wozu? Geh, geh, und sage es Lisa.«

Die Prinzessin ließ sich kraftlos in einen Lehnsessel neben ihrem Vater sinken und brach in Tränen aus. Sie glaubte ihren Bruder vor sich zu sehen, wie er mit seiner zugleich zärtlichen und hochmütigen Miene von ihr und von Lisa Abschied nahm; sie glaubte ihn vor sich zu sehen, wie er freundlich und spöttisch sich das Heiligenbild um den Hals hängte. »Ob er wohl zum Glauben gelangt ist? Ob er wohl seinen Unglauben bereut hat? Ist er jetzt dort, dort in der Stätte der ewigen Ruhe und Seligkeit?« dachte sie.

»Lieber Vater, sagen Sie mir, wie es geschehen ist«, bat sie weinend.

»Geh nur, geh. Er ist in der Schlacht gefallen, bei der man die besten Männer Rußlands auf die Schlachtbank geführt und Rußlands Ruhm geopfert hat. Gehen Sie, Prinzessin Marja. Geh hin, und sage es Lisa. Ich werde auch kommen.«

Als Prinzessin Marja von ihrem Vater zurückkehrte, saß die kleine Fürstin bei ihrer Handarbeit und schaute ihr mit dem besonderen, nach innen gekehrten, ruhigen, glücklichen Blick entgegen,[51] wie er nur schwangeren Frauen eigen ist. Es war offenbar, daß ihre Augen die Prinzessin Marja gar nicht sahen, sondern in die Tiefe, in ihr eigenes Innere blickten, in ein glückverheißendes Geheimnis, das sich da in ihr vollzog.

»Marja«, sagte sie, indem sie von dem Stickrahmen abrückte und sich zurücklehnte, »gib einmal deine Hand her.«

Sie nahm die Hand der Prinzessin und legte sie sich auf den Leib. Ihre Augen lächelten; sie wartete auf etwas. Die Oberlippe mit dem Schnurrbärtchen zog sich in die Höhe und verharrte mit einem Ausdruck kindlicher Glückseligkeit in dieser Haltung.

Prinzessin Marja kniete vor ihr nieder und verbarg ihr Gesicht in den Kleiderfalten ihrer Schwägerin.

»Da, da! Fühlst du es? Mir ist so sonderbar zumute. Weißt du, Marja, ich werde es sehr lieb haben«, sagte Lisa und blickte sie mit glückstrahlenden Augen an.

Prinzessin Marja konnte den Kopf nicht in die Höhe heben; sie weinte.

»Was ist dir, Marja?«

»Nichts ... Es ist mir nur so bange ... so bange um Andrei«, antwortete sie und trocknete ihre Tränen an dem Knie ihrer Schwägerin ab.

Noch mehrere Male im Lauf dieses Vormittags setzte Prinzessin Marja dazu an, ihre Schwägerin vorzubereiten, und begann dabei jedesmal zu weinen. Die kleine Fürstin, so wenig Scharfblick sie auch besaß, geriet doch in Unruhe über diese Tränen, deren Ursache sie nicht begriff. Sie sagte nichts; aber sie blickte aufgeregt um sich, als ob sie etwas suchte. Vor dem Mittagessen kam in ihr Zimmer der alte Fürst, vor dem sie stets Furcht hatte; sein Gesicht zeigte jetzt eine besondere Unruhe und zornige Erregung, und ohne ein Wort zu sagen, ging er wieder hinaus. Sie blickte die Prinzessin Marja an und versank dann in Gedanken,[52] wobei ihre Augen jenen Ausdruck einer nach innen gerichteten Aufmerksamkeit annahmen, wie er bei schwangeren Frauen häufig ist. Plötzlich brach sie in Tränen aus.

»Habt ihr Nachricht von Andrei?«

»Nein; du weißt, daß noch keine Nachricht dasein kann; aber der Vater beunruhigt sich, und auch mir ist bange.«

»Also es ist nichts gekommen?«

»Nein, nichts«, antwortete Prinzessin Marja und blickte mit ihren leuchtenden Augen ihre Schwägerin fest an.

Sie hatte sich dafür entschieden, ihr nichts zu sagen, und auch ihren Vater überredet, der kleinen Fürstin den Empfang der schrecklichen Nachricht bis zu ihrer bevorstehenden Entbindung zu verheimlichen. Prinzessin Marja und der alte Fürst trugen und verbargen ihren Kummer, ein jeder auf seine Weise. Der alte Fürst wollte nicht mehr hoffen: er sagte sich, Fürst Andrei sei tot, und obgleich er einen seiner Angestellten nach Österreich schickte, um nach Spuren von seinem Sohn zu suchen, bestellte er doch bereits in Moskau ein Denkmal für ihn, das er in seinem Garten aufstellen wollte, und sagte zu allen, sein Sohn sei im Kampf gefallen. Er bemühte sich, seine frühere Lebensweise unverändert fortzuführen; aber die Kraft versagte ihm: er ging weniger, aß weniger, schlief weniger und wurde mit jedem Tag schwächer. Prinzessin Marja dagegen hoffte noch. Sie betete für ihren Bruder wie für einen Lebenden und erwartete jeden Augenblick Nachrichten über seine Heimkehr.

Quelle:
Tolstoj, Lev Nikolaevic: Krieg und Frieden. 4 Bde., Leipzig 1922, Band 2, S. 48-53.
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