[182] Die Schlacht bei Borodino mit den beiden darauffolgenden Ereignissen, nämlich der Besetzung Moskaus und der Flucht der Franzosen, ohne daß neue Schlachten stattgefunden hätten, ist eine der lehrreichsten Erscheinungen der Weltgeschichte.
Alle Geschichtsschreiber sind darüber einig, daß, bei Kollisionen der Staaten und Völker, durch die Kriege sich der Grad ihrer äußeren Tatkraft bekundet und daß unmittelbar infolge der größeren oder geringeren kriegerischen Erfolge die politische Bedeutung der Staaten und Volker wächst oder abnimmt.
Wie seltsam auch die geschichtlichen Darstellungen klingen mögen, daß irgendein König oder Kaiser infolge eines Zwistes mit einem andern Kaiser oder König ein Heer sammelte, dem Heer des Feindes eine Schlacht lieferte, den Sieg davontrug, drei-, fünf- oder zehntausend Menschen tötete und infolgedessen den Staat und das ganze Volk von mehreren Millionen Menschen unterwarf, und wie unbegreiflich es auch sein mag, weshalb das Volk durch die Niederlage des Heeres allein, also eines Hundertstels der gesamten Volkskraft, sich zur Unterwerfung gezwungen sah: so bestätigen doch alle Tatsachen der Geschichte, soweit sie uns bekannt ist, die Richtigkeit des Satzes, daß größere oder kleinere Erfolge des Heeres des einen Volkes gegen das Heer des anderen Volkes die Ursachen oder wenigstens sehr bedeutsame Symptome der Zunahme oder Abnahme der Kraft der Völker sind. Das Heer hat den Sieg davongetragen, und sogleich erweitern sich die Rechte des siegreichen Volkes auf Kosten des besiegten. Das Heer hat eine Niederlage erlitten, und sogleich wird das Volk je nach dem Grad der Niederlage dieser[182] und jener Rechte beraubt und bei einer vollständigen Niederlage seines Heeres vollständig unterworfen.
So ist es nach dem Zeugnis der Geschichte von den ältesten Zeiten bis auf unsere Zeit gewesen. Alle Kriege Napoleons dienen zur Bestätigung dieses Satzes. Nach dem Maß der Niederlage der österreichischen Truppen verlor Österreich von seinen Rechten und wuchsen die Rechte und Kräfte Frankreichs. Der Sieg der Franzosen bei Jena und Auerstedt vernichtete die selbständige Existenz Preußens.
Aber nun auf einmal die Ereignisse des Jahres 1812: die Franzosen trugen in der Nähe von Moskau einen Sieg davon, nahmen Moskau ein, und darauf, ohne daß neue Schlachten stattgefunden hätten, hörte nicht etwa Rußland auf zu existieren, sondern mit der sechshunderttausend Mann starken Armee und dem nächst mit dem Napoleonischen Frankreich war es zu Ende. Der geschichtlichen Regel zuliebe die Tatsachen zu verdrehen und zu sagen, das Schlachtfeld von Borodino sei in den Händen der Russen geblieben oder es hätten nach der Einnahme von Moskau noch Schlachten stattgefunden, durch die Napoleons Heer vernichtet sei, geht nicht an.
Nach dem Sieg der Franzosen bei Borodino hat nicht nur keine Hauptschlacht, sondern überhaupt kein irgendwie bedeutender Kampf mehr stattgefunden, und doch hörte die französische Armee auf zu existieren. Was bedeutet das? Stammte dieses Beispiel aus der Geschichte Chinas, so könnten wir sagen, diese Erscheinung sei nicht historisch beglaubigt (das gewöhnliche Schlupfloch der Historiker, wenn etwas nicht auf ihren Leisten paßt), und wenn es sich um einen kurzen Zusammenstoß handelte, bei dem nur geringe Truppenmengen beteiligt gewesen wären, so könnten wir diese Erscheinung als eine Ausnahme betrachten; aber dieses Ereignis vollzog sich vor den Augen unserer Väter, für welche[183] es sich um den Fortbestand oder Untergang des Vaterlandes handelte, und dieser Krieg war der größte von allen bekannten Kriegen.
Die Periode des Feldzuges des Jahres 1812 von der Schlacht bei Borodino bis zur Vertreibung der Franzosen hat bewiesen, daß ein gewonnener Schlachtensieg keineswegs die Eroberung des Landes zur notwendigen Folge hat, ja nicht einmal ein zuverlässiges Merkmal der Eroberung ist, und daß die Kraft, die das Schicksal der Völker entscheidet, nicht in den Eroberern liegt, auch nicht einmal in den Armeen und in den Schlachten, sondern in etwas anderem.
Die französischen Geschichtsschreiber, welche die Lage des französischen Heeres vor dem Auszug aus Moskau schildern, suchen uns zu überzeugen, daß alles bei der großen Armee in guter Ordnung gewesen sei mit Ausnahme der Kavallerie, der Artillerie und des Trains; es habe eben an Furage zur Ernährung der Pferde und des Hornviehs gefehlt. Diesem Mangel habe nicht abgeholfen werden können, weil die Bauern der Umgegend ihr Heu verbrannt hätten, statt es den Franzosen abzulassen.
Danach hätte also die gewonnene Schlacht deswegen nicht die gewöhnlichen Resultate gehabt, weil die Bauern Karp und Wlas, die nach dem Abzug der Franzosen mit ihren Fuhrwerken nach Moskau kamen, um in der Stadt zu rauben, und überhaupt persönlich keine heldenhaften Gefühle an den Tag legten, samt der ganzen übrigen zahllosen Menge solcher Bauern, nicht für das gute Geld, das man ihnen bot, ihr Heu nach Moskau brachten, sondern es lieber verbrannten.
Stellen wir uns zwei Männer vor, die sich duellieren, und zwar mit Degen, nach allen Regeln der Fechtkunst; der Kampf hat[184] schon eine ziemliche Weile gedauert; da fühlt plötzlich einer der beiden Gegner, daß er verwundet ist; er weiß, daß die Sache kein Scherz ist, sondern es sich um sein Leben handelt; so wirft er denn den Degen weg, ergreift den ersten besten Knüttel, der ihm in die Hand kommt, und beginnt mit diesem um sich zu schlagen. Stellen wir uns nun aber weiter vor, daß der Gegner, der in so verständiger Weise das beste und einfachste Mittel zur Erreichung seines Zieles angewandt hat, zugleich für die Traditionen des Rittertums begeistert ist und deshalb den wahren Hergang verheimlichen und behaupten wollte, er habe nach allen Regeln der Kunst mit dem Degen gesiegt. Man kann sich denken, was für ein Wirrwarr und was für eine Unklarheit die Folge einer solchen Darstellung des stattgehabten Duells sein würde.
Der Fechter, der einen Kampf nach den Regeln der Kunst forderte, waren die Franzosen; der Gegner, der den Degen wegwarf und dafür zum Knüttel griff, waren die Russen; die Leute, die alles nach den Regeln der Fechtkunst zu erklären suchen, sind die Historiker, die über dieses Ereignis geschrieben haben.
Mit dem Brand von Smolensk hatte ein Krieg begonnen, der von den Traditionen aller früheren Kriege durchaus abwich. Die Einäscherung von Städten und Dörfern, der Rückzug nach den Schlachten, der Schlag bei Borodino und dann wieder der Rückzug, der Brand von Moskau, die Jagd auf Marodeure, das Abfangen der Transporte, der Freischärlerkrieg, alles dies waren Abweichungen von den Regeln.
Napoleon fühlte das, und von dem Augenblick an, wo er sich in Moskau in regelrechter Fechterhaltung hingestellt hatte und sah, daß der Gegner statt des Degens einen Knüttel gegen ihn erhob, hörte er nicht auf, sich bei Kutusow und Kaiser Alexander darüber zu beschweren, daß der Krieg gegen alle Regeln geführt werde (als ob es Regeln für die Tötung von Menschen gäbe).[185] Aber trotz der Beschwerden der Franzosen über die Verletzung der Regeln und trotzdem manche hochgestellten Russen sich gewissermaßen genierten, mit dem Knüttel zu kämpfen, und lieber nach allen Regeln der Kunst sich in Quart- oder Terzlage hingestellt oder einen kunstvollen Ausfall in der Prime gemacht hätten usw.: trotz alledem erhob sich der Knüttel des Volkskrieges in all seiner drohenden, imposanten Kraft, und ohne nach jemandes Geschmack oder irgendwelchen Regeln zu fragen, sondern in dummer Einfalt, aber in zweckmäßiger Weise, ohne viel Bedenken, hob und senkte er sich immer wieder und schlug so lange auf die Franzosen los, bis das ganze Invasionsheer vernichtet war.
Und Heil dem Volk, das nicht, wie die Franzosen im Jahre 1813, nach allen Regeln der Kunst salutiert, den Degen umwendet und den Griff desselben anmutig und höflich dem großmütigen Sieger darbietet, sondern in der schweren Prüfungsstunde, ohne danach zu fragen, wie andere Völker in ähnlichen Fällen nach Regeln gehandelt haben, schlicht und einfach den ersten besten Knüttel ergreift, der ihm vor die Hand kommt, und mit ihm so lange zuschlägt, bis in seiner Seele das Gefühl der Erbitterung und Rachsucht von dem Gefühl der Verachtung und des Mitleids abgelöst wird.
Buchempfehlung
Die Prosakomödie um das Doppelspiel des Dieners Truffaldino, der »dumm und schlau zugleich« ist, ist Goldonis erfolgreichstes Bühnenwerk und darf als Höhepunkt der Commedia dell’arte gelten.
44 Seiten, 3.80 Euro