II

[186] Eine der handgreiflichsten und vorteilhaftesten Abweichungen von den sogenannten Regeln der Kriegskunst ist der Kampf vereinzelter Menschen gegen Menschen, die sich zu Haufen zusammengeschlossen haben. Derartige Kämpfe treten im Krieg stets auf, sobald dieser den Charakter eines Volkskriegs annimmt. Diese Kampfart besteht darin, daß nicht Haufen gegen Haufen vorgehen, sondern die Menschen sich voneinander trennen, einzeln[186] angreifen und sofort fliehen, sobald sie von größeren Streitkräften angegriffen werden, dann aber, sobald sich eine Gelegenheit bietet, selbst wieder zum Angriff übergehen. So haben es die Guerillas in Spanien gemacht, so die Gebirgsbewohner im Kaukasus, und so auch die Russen im Jahre 1812.

Einen derartigen Krieg nannte man Freischarenkrieg und glaubte, mit dieser Benennung seinen Begriff fest umschrieben zu haben. Indessen richtet sich ein solcher Krieg nicht nur nach keinen Regeln, sondern er widerstreitet geradezu einer bekannten und als unfehlbar anerkannten taktischen Regel. Diese Regel besagt, der Angreifer müsse seine Truppen konzentrieren, um im Augenblick des Kampfes stärker zu sein als der Gegner.

Der Freischarenkrieg (der, wie die Geschichte beweist, immer erfolgreich ist) widerstreitet dieser Regel geradezu.

Dieser Widerspruch kommt daher, daß die Kriegswissenschaft die Kraft der Truppen für identisch hält mit ihrer Zahl. Die Kriegswissenschaft sagt: je größer die Truppenzahl, um so größer die Kraft. Les gros bataillons ont toujours raison.

Die Kriegswissenschaft, die so spricht, hat Ähnlichkeit mit der Mechanik, wenn diese bei der Beurteilung von Kräften nur ihre Massen berücksichtigen und sagen wollte, die Kräfte seien einander gleich oder ungleich, weil ihre Massen gleich oder ungleich seien.

In Wirklichkeit aber ist die Kraft (das Quantum der geleisteten Bewegung) das Produkt aus der Masse und der Geschwindigkeit.

Bei der Kriegführung ist die Kraft der Truppen in ähnlicher Weise das Produkt aus der Masse und noch etwas anderem, einem unbekannten x.

Die Kriegswissenschaft, die in der Geschichte eine zahllose Menge von Beispielen dafür findet, daß die Masse der Truppen sich nicht mit der Kraft deckt und daß kleine Abteilungen große[187] besiegt haben, erkennt in unklarer Weise die Existenz dieses unbekannten Faktors an und sucht ihn bald in einer geometrischen Aufstellung der Truppen, bald in der Bewaffnung, bald (und dies ist das Gewöhnlichste) in der Genialität der Heerführer. Aber die Einsetzung aller dieser Werte des Faktors liefert keine Resultate, die sich mit den geschichtlichen Tatsachen in Übereinstimmung befänden.

Und doch braucht man sich nur von dieser zugunsten der Helden üblich gewordenen falschen Anschauung über die Wirksamkeit der Anordnungen der höchsten Kommandeure im Krieg freizumachen, um dieses unbekannte x zu finden.

Dieses x ist der Geist des Heeres, d.h. das größere oder geringere Verlangen aller zum Heer gehörigen Menschen, zu kämpfen und sich Gefahren zu unterziehen; und dieses Verlangen ist völlig unabhängig davon, ob die Menschen unter dem Kommando genialer oder nichtgenialer Führer kämpfen, in drei oder in zwei Linien, mit Knütteln oder mit Gewehren, die dreißigmal in einer Minute schießen. Diejenigen Menschen, die das größte Verlangen zu kämpfen haben, werden auch immer die für den Kampf vorteilhaftesten Umstände zu finden wissen.

Der Geist des Heeres ist der Multiplikator der Masse, der als Produkt die Kraft ergibt. Den Wert des Geistes des Heeres, dieses unbekannten Multiplikators, zu bestimmen und auszudrücken, ist die Aufgabe der Wissenschaft.

Diese Aufgabe wird erst dann lösbar sein, wenn wir aufhören, die Begleitumstände, unter denen die Kraft in die Erscheinung tritt, als da sind die Anordnungen des Heerführers, die Bewaffnung usw., willkürlich als den Multiplikator zu betrachten und für das ganze Unbekannte x einzusetzen, und vielmehr diese unbekannte Größe in ihrer Totalität als das anerkennen, was sie ist, nämlich als das größere oder geringere Verlangen zu kämpfen[188] und sich Gefahren auszusetzen. Erst dann können wir hoffen, daß es uns, indem wir die bekannten historischen Tatsachen durch Gleichungen ausdrücken, aufgrund einer Vergleichung des relativen Wertes dieser unbekannten Größe möglich sein wird, die unbekannte Größe selbst zu bestimmen.

Zehn Mann, zehn Bataillone oder zehn Divisionen haben mit fünfzehn Mann, Bataillonen oder Divisionen gekämpft und sie besiegt, d.h. alle ohne Rest getötet oder gefangengenommen, und selbst dabei vier verloren; es sind also auf der einen Seite vier, auf der andern fünfzehn vernichtet worden. Folglich waren die vier gleich den fünfzehn, folglich 4x = 15y. Folglich x : y = 15 : 4. Diese Gleichung ergibt nicht den Wert einer unbekannten Größe; aber sie ergibt das Verhältnis zwischen zwei unbekannten Größen. Bringt man nun allerlei herausgegriffene historische Einheiten (Schlachten, Feldzüge, Kriegsperioden) in die Form solcher Gleichungen, so ergeben sich Zahlenreihen, in denen bestimmte Gesetze vorhanden sein müssen, die man aufdecken kann.

Die taktische Regel, daß man beim Angriff in geschlossenen Massen kämpfen müsse, beim Rückzug dagegen getrennt, dient unbewußt lediglich zur Bestätigung der Wahrheit, daß die Kraft eines Heeres von seinem Geist abhängt. Um Menschen in das feindliche Feuer zu führen, ist meist ein höherer, eben nur durch Massenbewegung zu erzielender Grad von Disziplin erforderlich, als um Angreifer von sich abzuwehren. Aber diese Regel, bei der der Geist des Heeres außer acht gelassen wird, erweist sich nicht selten als unrichtig und widerspricht in besonders auffälliger Weise der Wirklichkeit da, wo sich ein starker Aufschwung oder Niedergang des Geistes der Kämpfenden zeigt: bei allen Volkskriegen.

Als die Franzosen sich im Jahre 1812 zurückzogen, hätten sie[189] sich nach der taktischen Regel getrennt verteidigen müssen; aber sie drängten sich in Haufen zusammen, weil der Geist des Heeres dermaßen gesunken war, daß nur die Masse das Heer zusammenhielt. Die Russen dagegen hätten nach der taktischen Regel in geschlossener Masse angreifen sollen; in Wirklichkeit aber teilten sie sich, weil ihr Geist so gehoben war, daß selbst einzelne ohne Befehl auf die Franzosen losschlugen und keines Zwanges dazu bedurften, um sich Mühen und Gefahren zu unterziehen.

Quelle:
Tolstoj, Lev Nikolaevic: Krieg und Frieden. 4 Bde., Leipzig 1922, Band 4, S. 186-190.
Lizenz:
Kategorien: