XII

[234] In betreff derjenigen Abteilung von Gefangenen, zu welcher Pierre gehörte, war während ihres ganzen Marsches von Moskau an seitens der französischen Behörde keine neue Verfügung eingegangen. Diese Abteilung befand sich am 22. Oktober nicht mehr mit denjenigen Truppen und Wagenzügen zusammen, mit denen sie aus Moskau ausgezogen war. Während der ersten Tagesmärsche war hinter ihr ein Wagenzug mit Zwieback gefahren: die eine Hälfte desselben hatten die Kosaken erbeutet, die andere Hälfte hatte den Gefangenentransport überholt und war weit voraus. Von den zu Fuß gehenden Kavalleristen, die ursprünglich vor dem Gefangenentransport marschiert waren, war auch nicht ein Mann mehr da; sie waren sämtlich verschwunden. An die Stelle der Artillerie, die auf den ersten Tagesmärschen vorn sichtbar gewesen war, waren jetzt die langen Wagenzüge des Marschalls Junot getreten, die von westfälischen Truppen eskortiert wurden. Hinter den Gefangenen fuhr ein Wagenzug mit Kavalleriesachen.

Von Wjasma an marschierte das französische Heer, das früher[234] in drei Teilen marschiert war, in einem einzigen Haufen. Die Symptome der Zersetzung, welche Pierre schon am ersten Rastort nach Moskau wahrgenommen hatte, hatten jetzt den höchsten Grad erreicht.

Die Landstraße, auf der sie marschierten, war zu beiden Seiten mit Pferdekadavern eingefaßt; Soldaten in zerrissener Kleidung, die von verschiedenen Truppenteilen zurückgeblieben waren, schlossen sich in stetem Wechsel bald an die marschierende Kolonne an, bald blieben sie wieder hinter ihr zurück.

Einige Male während des Marsches hatte es falschen Alarm gegeben; die Soldaten der Eskorte hatten die Gewehre erhoben, geschossen und waren Hals über Kopf, einander drängend, davongerannt; dann aber hatten sie sich wieder geordnet und sich wechselseitig wegen der grundlosen Furcht ausgeschimpft.

Diese drei zusammen marschierenden Abteilungen, das Kavalleriedepot, das Gefangenendepot und der Wagenzug Junots, bildeten immer noch eine Art von besonderem Ganzen, obwohl ein jedes der drei schnell zusammengeschmolzen war.

Von dem Kavalleriedepot, welches anfangs aus hundertzwanzig Wagen bestanden hatte, waren jetzt nicht mehr als sechzig übrig; die anderen waren teils von den Feinden erbeutet, teils im Stich gelassen. Von dem Wagenzug Junots waren ebenfalls mehrere Fuhrwerke zurückgelassen oder von den Feinden erbeutet. Drei Fuhrwerke waren von Nachzüglern des Davoutschen Korps überfallen und geplündert wor den. Aus den Gesprächen der Deutschen erfuhr Pierre, daß diesem Wagenzug eine größere Eskorte beigegeben war als dem Gefangenentransport, und daß einer ihrer Kameraden, ein deutscher Gemeiner, auf direkten Befehl des Marschalls erschossen worden war, weil man bei ihm einen dem Marschall gehörigen silbernen Löffel gefunden hatte.[235] Am meisten aber war von den drei Abteilungen das Gefangenendepot zusammengeschmolzen. Von den dreihundertdreißig Mann, die aus Moskau ausgezogen waren, waren jetzt kaum noch hundert übrig. Noch mehr als durch die Sättel des Kavalleriedepots und den Wagenzug Junots fühlten sich die eskortierenden Soldaten durch die Gefangenen beschwert und belästigt. Was die Sättel und Junots Löffel anlangte, so begriffen die Soldaten, daß diese Dinge noch zu etwas nutz sein konnten; aber wozu hungernde und frierende Soldaten ebenso frierende und hungernde Russen bewachen und beaufsichtigen mußten, die ermattet unterwegs zurückblieben und dann dem Befehl gemäß erschossen wurden, das war ihnen unbegreiflich, und diese Obliegenheit war ihnen widerwärtig. Die Soldaten der Eskorte schienen in der traurigen Lage, in der sie sich selbst befanden, sich nicht dem Gefühl des Mitleids mit den Gefangenen, das in ihnen versteckt lag, überlassen zu wollen, um dadurch ihre eigene Lage nicht noch mehr zu verschlimmern, und gingen darum mit ihnen besonders barsch und streng um.

Als in Dorogobusch die eskortierenden Soldaten die Gefangenen in einen Pferdestall eingeschlossen hatten und dann selbst fortgegangen waren, um ihre eigenen Magazine zu plündern, hatten mehrere von den Gefangenen die Stallwand untergraben und das Weite gesucht, waren aber von den Franzosen wieder aufgegriffen und erschossen worden.

Die frühere, beim Auszug aus Moskau eingeführte Ordnung, daß die gefangenen Offiziere von den Gemeinen gesondert gingen, war schon längst geschwunden; alle, die gehen konnten, gingen zusammen, und Pierre hatte sich schon am dritten Marschtag wieder zu Karatajew und dem bläulichgrauen Hund gesellt, der sich Karatajew zu seinem Herrn erwählt hatte.

Karatajew war am dritten Tag nach dem Auszug aus[236] Moskau wieder von jenem Fieber befallen worden, an dem er in dem Moskauer Lazarett krank gelegen hatte, und je schwächer Karatajew wurde, um so mehr hielt sich Pierre von ihm fern. Pierre wußte nicht, wie es zuging; aber er mußte sich, seit Karatajew anfing schwach zu werden, Zwang antun, um zu ihm zu gehen. Wenn er sich ihm näherte und das leise Stöhnen hörte, mit dem Karatajew sich gewöhnlich an den Rastorten niederlegte, und den jetzt stärker werdenden Geruch spürte, den Karatajew ausströmte, dann ging Pierre oft so weit wie möglich von ihm weg und dachte nicht mehr an ihn.

In der Gefangenschaft, in der Baracke, hatte Pierre nicht sowohl mit dem Verstand, als vielmehr mit seinem ganzen Wesen und Leben erkannt, daß der Mensch geschaffen sei, um glücklich zu sein, daß das Glück in ihm selbst liege, in der Befriedigung der natürlichen menschlichen Bedürfnisse, und daß alles Unglück nicht vom Mangel, sondern vom Überfluß herkomme. Aber jetzt, in diesen drei letzten Marschwochen, hatte er noch eine neue, tröstliche Wahrheit erkannt: er hatte erkannt, daß es auf der Welt nichts Furchtbares gebe. Er hatte erkannt, daß, wie es auf der Welt keinen Zustand gebe, in dem der Mensch glücklich und vollkommen frei wäre, so es auch keinen Zustand gebe, in dem er unglücklich und unfrei wäre. Er hatte erkannt, daß eine Grenze der Leiden und eine Grenze der Freiheit vorhanden sei, und daß diese Grenze sehr nahe liege; daß der Mensch, der es als ein Leiden empfindet, wenn auf seinem Rosenbett ein einziges Blättchen umgeknickt ist, gerade ebenso leide, wie er jetzt litt, wenn er auf der nackten, feuchten Erde schlief und die eine Seite seines Körpers kalt, die andere warm war; daß, wenn er ehemals seine engen Ballschuhe anzog, er genauso gelitten habe wie jetzt, wo er bereits vollständig barfuß ging (sein Schuhzeug war längst hinüber) und seine Füße mit wunden Stellen und Schorf bedeckt[237] waren. Er er kannte, daß er damals, als er, vermeintlich nach seinem eigenen Willen, seine Frau geheiratet hatte, nicht freier gewesen sei als jetzt, wo man ihn für die Nacht in einem Pferdestall einschloß. Von allem, was in späterer Zeit auch er selbst Leiden nannte, was er aber zur Zeit kaum empfand, waren das Schlimmste die nackten, wunden, mit Schorf überzogenen Füße. Das Pferdefleisch war schmackhaft und nahrhaft; der Salpetergeschmack des Pulvers, das statt des Salzes verwendet wurde, war sogar angenehm; die Kälte war nicht übermäßig, und bei Tag auf dem Marsch war es immer warm, und in der Nacht hatten sie die Wachfeuer; die Läuse, die an ihm fraßen, wärmten seinen Körper. Nur eins war in der ersten Zeit schwer zu ertragen: das waren die Füße.

Als Pierre am zweiten Marschtag beim Wachfeuer die Verletzungen an seinen Füßen besah, hielt er es für unmöglich, mit diesen Füßen weiterzugehen; aber als alle sich erhoben, ging auch er, nur ein wenig hinkend, und nachher, als er warm geworden war, sogar ohne Schmerz, obgleich am Abend seine Füße noch schrecklicher aussahen. Aber er sah sie gar nicht näher an und dachte an andere Dinge.

Erst jetzt begriff Pierre, welche gewaltige Lebenskraft dem Menschen innewohnt und welch ein Segen die ihm verliehene Fähigkeit, seine Aufmerksamkeit abzulenken, für ihn ist, eine Fähigkeit, die dem Sicherheitsventil an Dampfkesseln gleicht, das den überflüssigen Dampf hinausläßt, sobald seine Spannung ein bestimmtes Maß übersteigt.

Er hatte weder gesehen noch gehört, wie die zurückgebliebenen Gefangenen erschossen wurden, obgleich über hundert von ihnen schon auf diese Weise umgekommen waren. Er dachte nicht an Karatajew, der von Tag zu Tag schwächer wurde und offenbar bald demselben Schicksal verfallen mußte. Noch weniger dachte[238] Pierre an sich selbst. Je schwieriger seine Lage sich gestaltete, je schrecklicher die Zukunft war, um so weiter von seinem jetzigen Zustand abliegende Gedanken, Erinnerungen und Vorstellungen freudiger und beruhigender Art kamen ihm in den Sinn.

Quelle:
Tolstoj, Lev Nikolaevic: Krieg und Frieden. 4 Bde., Leipzig 1922, Band 4, S. 234-239.
Lizenz:
Kategorien:

Buchempfehlung

Holz, Arno

Papa Hamlet

Papa Hamlet

1889 erscheint unter dem Pseudonym Bjarne F. Holmsen diese erste gemeinsame Arbeit der beiden Freunde Arno Holz und Johannes Schlaf, die 1888 gemeinsame Wohnung bezogen hatten. Der Titelerzählung sind die kürzeren Texte »Der erste Schultag«, der den Schrecken eines Schulanfängers vor seinem gewalttätigen Lehrer beschreibt, und »Ein Tod«, der die letze Nacht eines Duellanten schildert, vorangestellt. »Papa Hamlet«, die mit Abstand wirkungsmächtigste Erzählung, beschreibt das Schiksal eines tobsüchtigen Schmierenschauspielers, der sein Kind tötet während er volltrunken in Hamletzitaten seine Jämmerlichkeit beklagt. Die Erzählung gilt als bahnbrechendes Paradebeispiel naturalistischer Dichtung.

90 Seiten, 5.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Geschichten aus dem Biedermeier. Neun Erzählungen

Geschichten aus dem Biedermeier. Neun Erzählungen

Biedermeier - das klingt in heutigen Ohren nach langweiligem Spießertum, nach geschmacklosen rosa Teetässchen in Wohnzimmern, die aussehen wie Puppenstuben und in denen es irgendwie nach »Omma« riecht. Zu Recht. Aber nicht nur. Biedermeier ist auch die Zeit einer zarten Literatur der Flucht ins Idyll, des Rückzuges ins private Glück und der Tugenden. Die Menschen im Europa nach Napoleon hatten die Nase voll von großen neuen Ideen, das aufstrebende Bürgertum forderte und entwickelte eine eigene Kunst und Kultur für sich, die unabhängig von feudaler Großmannssucht bestehen sollte. Dass das gelungen ist, zeigt Michael Holzingers Auswahl von neun Meistererzählungen aus der sogenannten Biedermeierzeit.

434 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon