XIII

[239] Am 22. Oktober ging Pierre gegen Mittag auf der schmutzigen, schlüpfrigen Landstraße bergan und blickte nach seinen Füßen und den Unebenheiten des Weges. Ab und zu betrachtete er die ihm wohlbekannte Menschenmenge, die ihn umgab; dann wandte er seinen Blick wieder seinen Füßen zu. Das eine wie das andere gehörte in gleicher Weise zu ihm und war ihm vertraut. Der bläuliche, krummbeinige Hund, der sogenannte Graue, lief fröhlich an der Seite des Weges; mitunter drückte er zum Beweis seiner Geschicklichkeit und seiner zufriedenen Stimmung die eine Hinterpfote gegen den Leib und hüpfte auf dreien und dann wieder auf allen vieren und stürzte mit Gebell auf die Krähen los, die auf den Kadavern saßen. Der Graue war vergnügter und sah glatter aus als in Moskau. Auf allen Seiten lag Fleisch von verschiedenen Wesen, vom Menschenfleisch bis zum Pferdefleisch, in verschiedenen Stadien der Zersetzung, und die Wölfe wagten sich wegen der marschierenden Menschen nicht heran, so daß der Graue fressen konnte, soviel er nur irgend mochte.

Es regnete seit dem Morgen, und jedesmal, wenn man meinte, nun sei es vorbei und der Himmel werde sich aufheitern, setzte nach einer kurzen Pause der Regen noch stärker ein. Die vom Regen durchtränkte Landstraße nahm kein Wasser mehr in sich auf, und in den Wagengeleisen rieselten kleine Bäche.

Pierre warf im Gehen mitunter einen Blick nach rechts[239] und links, auch zählte er die Schritte, indem er nach je drei Schritten einen Finger einbog. Sich an den Regen wendend, sagte er in seinem Innern: »Nur zu, nur zu; mach's nur immer ärger!«

Er meinte, er denke an nichts; aber seine Seele war in irgendeinem Teil ihrer fernsten Tiefe mit hehren, tröstlichen Gedanken beschäftigt. Es war dies der feinste geistige Extrakt aus seinem gestrigen Gespräch mit Karatajew.

Als Pierre tags zuvor im Nachtbiwak bei einem erlöschenden Feuer zu sehr gefroren hatte, war er aufgestanden und zu dem nächsten, besser brennenden Feuer gegangen. Bei dem Feuer, zu dem er gekommen war, saß Platon; er hatte sich mitsamt dem Kopf in einen Mantel wie in ein Meßgewand eingehüllt und erzählte den Soldaten mit seiner ausdauernden, angenehmen, aber schwachen und kränklichen Stimme eine Geschichte, die Pierre schon kannte. Es war bereits Mitternacht. Dies war die Zeit, wo Karatajew sich gewöhnlich von seinem Fieberanfall erholte und besonders lebhaft war. Als Pierre zu dem Wachfeuer kam und Platons schwache, kränkliche Stimme hörte und sein von dem Feuer hell beleuchtetes, mitleiderregendes Gesicht sah, da fühlte er eine Art von unangenehmem Stechen im Herzen. Er erschrak über sein Mitleid mit diesem Menschen und wollte wieder fortgehen; aber ein anderes Wachfeuer war nicht da, und so setzte sich denn Pierre bei diesem hin und versuchte, Platon nicht anzusehen.

»Nun, wie geht es mit deiner Gesundheit?« fragte er.

»Was kommt auf die Gesundheit an? Macht dir auch 'ne Krankheit Not, Gott schickt nicht sogleich den Tod«, erwiderte Karatajew und kehrte sofort wieder zu der begonnenen Erzählung zurück.

»Also, lieber Bruder«, fuhr Platon mit einem Lächeln auf dem[240] mageren, blassen Gesicht und einem besonders freudigen Glanz in den Augen fort. »Also, lieber Bruder ...«

Pierre kannte diese Geschichte schon lange; Karatajew hatte sie ihm allein schon etwa sechsmal erzählt, und immer mit einem besonderen Gefühl der Freude. Aber so gut er sie auch kannte, so hörte er jetzt doch zu, als wäre es etwas ganz Neues, und das stille Entzücken, das offenbar die Seele des erzählenden Karatajew erfüllte, ging auch auf Pierre über. Die Geschichte handelte von einem alten Kaufmann, der ehrbar und gottesfürchtig mit seiner Familie lebte und einmal mit einem Bekannten, einem reichen Kaufmann, nach dem Makarijew-Kloster zur Messe fuhr.

Die beiden Kaufleute kehrten in einer Herberge ein und legten sich schlafen, und am andern Tag wurde der Bekannte des Kaufmanns ermordet und beraubt aufgefunden. Ein blutiges Messer fand man unter dem Kopfkissen des alten Kaufmanns. Der Kaufmann wurde vor Gericht gestellt, mit Knutenhieben gezüchtigt und, nachdem ihm die Nasenlöcher aufgerissen waren (»wie es sich gehört, alles nach der Ordnung«, sagte Karatajew), zur Zwangsarbeit nach Sibirien verschickt.

An dieser Stelle von Karatajews Erzählung war Pierre jetzt dazugekommen, und Karatajew fuhr fort: »Also, lieber Bruder, nach diesem Ereignis waren nun zehn Jahre oder noch mehr vergangen. Der alte Mann lebte als Sträfling. Wie es sich gehört, fügte er sich in alles und tat nichts Übles. Nur um seinen Tod betete er zu Gott. Also gut. Da waren sie einmal in einer Nacht zusammen, die Sträflinge, geradeso wie wir jetzt; und der alte Mann war auch dabei. Und da kam das Gespräch darauf, wofür ein jeder seine Strafe leide, womit er sich gegen Gott versündigt habe. Sie fingen an zu erzählen: der hatte einen Menschen ermordet, der zwei, der hatte Feuer angelegt, der war so mir[241] nichts dir nichts desertiert. Da fragten sie nun auch den alten Mann: ›Wofür leidest du denn deine Strafe, Großväterchen?‹ ›Ich, meine lieben Brüder‹, sagte er, ›leide Strafe für meine Sünden und für die Sünden der Menschheit. Ich habe keinen Menschen gemordet und habe kein fremdes Gut genommen; ich habe immer meinen bedürftigen Mitmenschen von dem Meinigen gegeben. Ich war Kaufmann, meine lieben Brüder, und besaß großen Reichtum.‹ So und so, und er erzählte ihnen, wie alles hergegangen war, alles der Reihe nach. ›Ich beklage mich nicht über mein Schicksal‹, sagte er. ›Gott hat mich heimgesucht. Nur um meine Frau und die Kinder tut es mir leid‹, sagte er. Und da brach der alte Mann in Tränen aus. Nun traf es sich zufällig, daß unter den Anwesenden auch eben jener Mensch war, der den Kaufmann ermordet hatte. ›Wo ist das gewesen, Großväterchen?‹ sagte er. ›Wann, in welchem Monat?‹ So fragte er ihn über alles aus. Und da wurde ihm weh ums Herz. Er ging so auf den alten Mann zu, und auf einmal, baff, warf er sich ihm zu Füßen. ›Um meinetwillen bist du ins Unglück geraten, lieber Alter‹, sagte er. ›Ich sage die reine Wahrheit, Kinder‹, sagte er, ›dieser Mann leidet völlig unschuldig. Ich selbst‹, sagte er, ›habe jene Tat begangen und dir, während du schliefst, das Messer unter den Kopf geschoben. Verzeih mir, Großväterchen‹, sagte er, ›um Christi willen.‹«

Karatajew schwieg, blickte mit freudigem Lächeln ins Feuer und schob die Holzscheite zurecht.

»Und da sagte der alte Mann: ›Gott wird dir verzeihen; wir sind alle vor Gott Sünder‹, sagte er. ›Ich leide für meine Sünden.‹ Und er weinte bitterlich. Und denke dir, mein lieber Falke«, sagte Karatajew, und das entzückte Lächeln auf seinem Gesicht strahlte immer heller und heller, wie wenn in dem, was er jetzt erzählen wollte, der Hauptreiz und der eigentliche Wert[242] der Erzählung läge, »und denke dir, mein lieber Falke: dieser Mörder zeigte sich selbst bei der Obrigkeit an. ›Ich habe‹, sagte er, ›sechs Menschen gemordet‹ (er war ein großer Bösewicht), ›aber am meisten bereue ich das, was ich diesem alten Mann angetan habe. Er soll nicht mehr um meinetwillen weinen.‹ Er legte ihnen alles dar; sie schrieben ein Papier und schickten es an den gehörigen Ort. Das war weit weg, und es dauerte lange, bis Prozeß und Gericht stattgefunden hatten und bis sie alle Papiere geschrieben hatten, wie es bei den Behörden sein muß. Die Sache ging bis zum Zaren. Endlich kam ein Befehl vom Zaren: der Kaufmann solle freigelassen werden, und es solle ihm eine Entschädigung gegeben werden, so hoch, wie sie ihm das Gericht zuerkannt habe. Also dieses Papier war gekommen, und nun fing man an, den alten Mann zu suchen: ›Wo ist der alte Mann, der unschuldig bestraft worden ist? Es ist ein Papier vom Zaren gekommen!‹ Da suchten sie nun.« Karatajews Unterkiefer zitterte. »Aber Gott hatte ihn schon erlöst; er war gestorben. Ja, so war das, mein lieber Falke«, schloß Karatajew seine Erzählung und blickte lange, schweigend und lächelnd, vor sich hin.

Nicht diese Erzählung selbst, sondern ihr verborgener Sinn und die schwärmerische Freude, in der Karatajews Gesicht bei dieser Erzählung erglänzte, und die verborgene Bedeutung dieser Freude, das war's, was jetzt Pierres Seele mit einer starken, wenn auch unklaren Freudenempfindung erfüllte.

Quelle:
Tolstoj, Lev Nikolaevic: Krieg und Frieden. 4 Bde., Leipzig 1922, Band 4, S. 239-243.
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