XV

[246] Das Kavalleriedepot und die Gefangenen und der Wagenzug des Marschalls machten in dem Dorf Schamschewo halt. Alles drängte sich in Haufen um die Wachfeuer. Pierre trat an ein Wachfeuer heran, aß ein Stück gebratenes Pferdefleisch, legte sich mit dem Rücken nach dem Feuer zu und schlief sofort ein. Er schlief wieder in derselben Weise wie in Moschaisk nach der Schlacht bei Borodino.

Wieder flossen vor seiner Seele Ereignisse der Wirklichkeit mit Traumgebilden zusammen, und wieder legte jemand, ob nun er selbst oder jemand anders, ihm Gedanken dar, und es waren sogar dieselben Gedanken wie in Moschaisk.

»Das Leben ist alles. Das Leben ist Gott. Alles verändert sich, bewegt sich, und diese Bewegung ist Gott. Und solange Leben da ist, ist man sich auch mit Wonne der Gottheit in sich bewußt. Das Leben lieben heißt Gott lieben. Das Schwerste und Beseligendste von allem ist, dieses Leben bei eigenen Leiden, bei unschuldigen Leiden zu lieben.«

»Karatajew!« Unwillkürlich mußte er an diesen denken.

Und plötzlich trat ihm, wie er leibte und lebte, der längst vergessene, milde, alte Lehrer vor die Seele, der ihn in der Schweiz in der Geographie unterrichtet hatte. »Sieh her«, sagte der alte Mann, indem er ihm einen Globus zeigte. Dieser Globus war eine lebendige, wallende Kugel, die keine bestimmten Dimensionen hatte. Die ganze Oberfläche der Kugel bestand aus Tropfen,[246] die fest aneinandergedrückt waren. Und alle diese Tropfen bewegten sich und veränderten ihre Plätze, und bald flossen mehrere in einen zusammen, bald teilte sich einer in viele. Jeder Tropfen war bemüht, sich auszubreiten, möglichst viel Raum einzunehmen; aber andere, die das gleiche Streben hatten, preßten ihn zusammen, vernichteten ihn manchmal, vereinigten sich aber auch manchmal mit ihm zu einem Ganzen.

»Sieh, das ist das Leben«, sagte der alte Lehrer.

»Wie einfach und klar das ist«, dachte Pierre. »Wie ist es nur zugegangen, daß ich das früher nicht gewußt habe!«

In der Mitte ist Gott, und jeder Tropfen strebt danach, sich auszubreiten, um Ihn in möglichst großen Dimensionen widerzuspiegeln. Und der Tropfen wächst und fließt mit andern zusammen und wird zusammengepreßt und verschwindet von der Oberfläche und geht in die Tiefe und taucht wieder empor. Ein solcher Tropfen war auch Karatajew; er ist auseinandergeflossen und verschwunden. »Hast du verstanden, mein Kind?« sagte der Lehrer.

»Hast du verstanden, Donnerwetter!« schrie eine Stimme, und Pierre erwachte.

Er richtete sich auf und setzte sich hin. An dem Wachfeuer hockte ein Franzose, der soeben einen russischen Soldaten weggestoßen hatte, und briet sich am Ladestock ein Stück Fleisch. Er hatte sich die Ärmel aufgestreift, und seine sehnigen, haarigen, roten Arme mit den kurzen Fingern drehten geschickt den Ladestock. Sein braunes, finsteres Gesicht mit den zusammengezogenen Brauen war im Schein der glühenden Kohlen deutlich zu sehen.

»Dem kann das ganz egal sein!« brummte er, sich schnell nach einem andern französischen Soldaten umwendend, der hinter ihm stand. »Weg mit dem Schuft!«

Der Soldat, der den Ladestock drehte, warf Pierre einen[247] finsteren Blick zu. Pierre wandte sich ab und blickte längere Zeit in die Dunkelheit hinein. Ein gefangener russischer Soldat, eben der, welchen der Franzose weggestoßen hatte, saß dort nicht weit von dem Wachfeuer auf der Erde und tätschelte etwas mit der Hand. Schärfer hinsehend, erkannte Pierre das bläulichgraue Hündchen, das mit dem Schwanz wedelnd neben dem Soldaten saß.

»Nun? Bist du auch hergekommen?« sagte Pierre. »Ja, ja, Pla ...«, begann er, sprach aber nicht zu Ende.

Vor seinem geistigen Auge tauchten plötzlich gleichzeitig mehrere miteinander zusammenhängende Erinnerungen auf: an den Blick, mit dem Platon ihn angesehen hatte, als er unter dem Baum saß, und an den Schuß, der an dieser Stelle ertönt war, und an das Geheul des Hundes, und an die Verbrechergesichter der beiden Franzosen, die an ihm vorbeigelaufen waren, und an das abgeschossene, rauchende Gewehr, und dazu kam der Gedanke, daß Karatajew an diesem Rastort fehlte, und er war schon nahe daran, zu begreifen, daß Karatajew getötet worden sei: aber gerade in diesem Augenblick stieg in seiner Seele (Gott weiß wodurch hervorgerufen) die Erinnerung an einen Abend empor, den er mit einer schönen Polin im Sommer auf dem Balkon seines Hauses in Kiew verlebt hatte. Und ohne die Eindrücke des heutigen Tages zusammenzufassen und ein Fazit daraus zu ziehen, schloß Pierre die Augen, und das Bild der sommerlichen Landschaft floß zusammen mit der Erinnerung an ein Bad und an die flüssige, wallende Kugel, und er ließ sich in irgendein Gewässer hineinsinken, so daß das Wasser über seinem Kopf zusammenschlug.


Vor Sonnenaufgang weckten ihn laute, rasch aufeinanderfolgende Schüsse und Rufe. Einige Franzosen liefen an Pierre vorbei.[248]

»Die Kosaken!« schrie einer von ihnen, und einen Augenblick darauf sah Pierre eine Schar russischer Gesichter um sich.

Lange konnte er nicht begreifen, was mit ihm vorging. Von allen Seiten hörte er Freudenrufe seiner Kameraden.

»Brüder! Liebe Landsleute! Teure Freunde!« riefen alte Soldaten unter Tränen und umarmten die Kosaken und Husaren.

Die Husaren und Kosaken umringten die Gefangenen und boten ihnen eifrig dies und das an, der eine Kleider, ein anderer Stiefel, ein anderer Brot. Pierre saß mitten unter ihnen; er schluchzte und konnte kein Wort hervorbringen; er umarmte den ersten Soldaten, der ihm nahe kam, und küßte ihn weinend.


Dolochow stand bei dem Gutshaus, dessen Dach zertrümmert war, am Tor und ließ eine Schar entwaffneter Franzosen an sich vorüberziehen. Die Franzosen, die durch alles Vorgefallene in starker Aufregung waren, redeten laut untereinander; aber wenn sie bei Dolochow vorbeikamen, der sich leicht mit der Peitsche gegen die Stiefel schlug und sie mit seinem kalten, gläsernen, nichts Gutes verkündenden Blick ansah, dann verstummte ihr Gespräch. Auf der andern Seite stand ein Kosak Dolochows und zählte die Gefangenen, indem er die Hunderte mit einem Kreidestrich am Tor notierte.

»Wieviel sind es jetzt?« fragte Dolochow den Kosaken, der die Gefangenen zählte.

»Im dritten Hundert«, antwortete der Kosak.

»Einer hinter dem andern, einer hinter dem andern!« sagte Dolochow auf französisch, der sich diesen Ausdruck von den Franzosen zu eigen gemacht hatte, und während seine Augen die vorübergehenden Gefangenen musterten, leuchtete in ihnen ein grausamer Glanz auf.[249]

Denisow ging mit finsterem Gesicht und mit abgenommener Mütze hinter den Kosaken her, die Petja Rostows Leiche nach der Grube trugen, die im Garten gegraben war.

Quelle:
Tolstoj, Lev Nikolaevic: Krieg und Frieden. 4 Bde., Leipzig 1922, Band 4, S. 246-250.
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