XIV

[243] »An die Plätze!« rief plötzlich eine Stimme. Unter den Gefangenen und den eskortierenden Soldaten entstand eine freudige Erregung, eine Erwartung von etwas Beglückendem, Feierlichem. Von allen Seiten erschollen Kommandorufe, und[243] zur Linken erschienen, im Trab an den Gefangenen vorbeireitend, Kavalleristen in guter Montur auf guten Pferden. Auf allen Gesichtern lag jener Ausdruck von Spannung, wie ihn die Menschen beim Herannahen hoher Machthaber zu zeigen pflegen. Die Gefangenen drängten sich in einen Haufen zusammen; man stieß sie vom Weg herunter; die Soldaten stellten sich in Reih und Glied.

»Der Kaiser! Der Kaiser! Der Marschall! Der Herzog!« wurde bei den Franzosen gerufen.

Und kaum war die wohlgenährte Eskorte vorbeigesprengt, als rasselnd eine mit vier Grauschimmeln bespannte Kutsche vorbeifuhr. Pierre sah einen Augenblick lang das ruhige, schöne, dicke weiße Gesicht eines Mannes mit dreieckigem Hut. Es war einer der Marschälle. Der Blick des Marschalls fiel auf Pierres große, auffällige Gestalt, und den Ausdruck, mit dem der Marschall die Brauen zusammenzog und das Gesicht wegwandte, deutete sich Pierre als Mitleid und als den Wunsch, dieses Mitleid zu verbergen.

Der General, der das Depot führte, trieb sein mageres Pferd an und sprengte mit rotem, erschrockenem Gesicht der Kutsche nach. Einige Offiziere traten zusammen, und viele Soldaten umringten diese Gruppe. Alle Gesichter hatten einen erregten, gespannten Ausdruck.

»Was hat er gesagt? Was hat er gesagt?« hörte Pierre sie fragen.

Während der Marschall vorbeifuhr, hatten sich die Gefangenen in einen Haufen zusammengedrängt, und Pierre hatte Karatajew erblickt, den er an diesem Vormittag noch nicht gesehen hatte. Karatajew saß, in seinen Mantel gehüllt, auf der Erde und lehnte sich an eine Birke. Auf seinem Gesicht leuchtete außer jenem Ausdruck freudiger Rührung, den es gestern bei der Erzählung[244] von dem unschuldigen Leiden des Kaufmanns gezeigt hatte, noch ein Ausdruck stiller Feierlichkeit.

Karatajew blickte Pierre mit seinen guten, runden Augen an, die jetzt von Tränen verschleiert waren, und wollte ihn augenscheinlich mit diesem Blick zu sich rufen, um ihm etwas zu sagen. Aber Pierre fürchtete zu sehr für sich selbst. Er tat, als hätte er Karatajews Blick nicht gesehen, und ging eilig weg.

Als die Gefangenen sich wieder in Bewegung setzten, blickte Pierre zurück. Karatajew saß noch am Rand des Weges bei der Birke, und zwei Franzosen standen neben ihm und sprachen miteinander. Pierre sah sich nicht wieder um. Er ging, ein wenig hinkend, den ansteigenden Weg weiter.

Von hinten, von der Stelle her, wo Karatajew saß, erscholl ein Schuß. Pierre hörte diesen Schuß deutlich; aber in dem Augenblick, wo er ihn hörte, erinnerte er sich, daß er mit einer Berechnung, die er vor dem Vorbeifahren des Marschalls begonnen hatte, noch nicht fertig war, nämlich mit einer Berechnung, wieviel Tagesmärsche sie noch bis Smolensk vor sich hätten. Und er begann zu rechnen. Die beiden französischen Soldaten, von denen der eine ein abgeschossenes, noch rauchendes Gewehr in der Hand hielt, liefen an Pierre vorbei. Sie waren beide blaß, und auf ihren Gesichtern (der eine von ihnen warf Pierre einen scheuen Blick zu) lag ein ähnlicher Ausdruck wie der, welchen Pierre an dem jungen Soldaten bei der Hinrichtung gesehen hatte. Pierre sah den Soldaten an und erinnerte sich, daß dieser Soldat vor zwei Tagen sein Hemd, das er am Wachfeuer hatte trocknen wollen, verbrannt hatte und von seinen Kameraden ausgelacht worden war.

Hinter dem Zug, von der Stelle her, wo Karatajew gesessen hatte, begann der Hund zu heulen. »So ein dummes Tier; worüber heult es denn?« dachte Pierre.[245]

Die Mitgefangenen, die neben Pierre gingen, sahen sich ebensowenig wie er nach der Stelle um, von der der Schuß ertönt war und nun das Geheul des Hundes erscholl; aber ein tiefernster Ausdruck lag auf allen Gesichtern.

Quelle:
Tolstoj, Lev Nikolaevic: Krieg und Frieden. 4 Bde., Leipzig 1922, Band 4, S. 243-246.
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