XVII

[252] Die Operationen der russischen und französischen Truppen während des Rückzuges von Moskau bis zum Njemen gleichen einem Blindekuhspiel, bei dem den beiden Spielenden die Augen verbunden werden und der eine ab und zu mit einem Glöckchen klingelt, um dem Greifenden von seinem Aufenthaltsort Kenntnis zu geben. Anfangs setzt derjenige, nach dem gefahndet wird, das Glöckchen häufig in Tätigkeit, ohne seinen Feind zu fürchten; aber wenn es ihm dann schlechtgeht, dann bemüht er sich, unhörbar zu gehen, flüchtet vor seinem Feind und läuft oft, in der Meinung, ihm zu entrinnen, ihm geradezu in die Arme.[252]

Anfangs, in der ersten Periode des Marsches auf der Kalugaer Straße, machten sich die napoleonischen Truppen noch bemerkbar; später aber, als sie die Smolensker Straße erreicht hatten, flohen sie davon, indem sie den Klöppel des Glöckchens mit der Hand andrückten, und liefen oft, während sie zu entkommen wähnten, geradezu auf die Russen los.

Bei der Schnelligkeit, mit der die Franzosen flohen und die Russen hinter ihnen her waren, und der dadurch bewirkten Erschöpfung der Pferde kam das wichtigste Mittel, um eine annähernde Kenntnis der Stellung des Feindes zu gewinnen, in Wegfall: die Kavalleriepatrouillen. Außerdem konnten infolge des häufigen, schnellen Stellungswechsels beider Armeen Nachrichten, auch wenn man solche hatte, nicht zur rechten Zeit eintreffen. Wenn am Zweiten die Nachricht kam, daß die feindliche Armee am Ersten irgendwo gewesen sei, so hatte am Dritten, wo man etwas gegen sie hätte unternehmen können, diese Armee schon wieder zwei Tagesmärsche zurückgelegt und befand sich in einer ganz anderen Stellung.

Die eine Armee floh, die andere verfolgte. Hinter Smolensk boten sich den Franzosen viele verschiedene Wege dar, und man hätte meinen mögen, die Franzosen wären während ihres viertägigen Aufenthaltes in dieser Stadt in der Lage gewesen, in Erfahrung zu bringen, wo der Feind sei, sich einen nützlichen Plan zurechtzulegen und etwas Neues zu unternehmen. Aber nach der viertägigen Rast liefen ihre Haufen wieder weder nach rechts, noch nach links, sondern ohne alle Manöver und ohne alle Überlegung auf der schlechtesten Straße von allen, der alten Straße nach Krasnoje und Orscha, weiter: auf den Spuren, die sie bei ihrem Einmarsch hinterlassen hatten.

Die Franzosen, die den Feind vom Rücken her und nicht von vorn erwarteten, flohen in einem langen Zug, der sich mit[253] manchen Lücken über einen Raum von vierundzwanzig Marschstunden ausdehnte. Allen voraus floh der Kaiser, dann die Könige, dann die Herzöge. Die russische Armee, welche glaubte, Napoleon werde sich rechts wenden und über den Dnjepr gehen, was das einzig Vernünftige war, bog gleichfalls nach rechts ab und gelangte auf die große Straße nach Krasnoje. Und hier stießen, wie beim Blindekuhspiel, die Franzosen auf unsere Vorhut. Bei dem unerwarteten Anblick des Feindes gerieten die Franzosen in Verwirrung, machten vor Überraschung und Schreck halt, flohen aber dann weiter, indem sie die hinter ihnen kommenden Kameraden im Stich ließen. Hier zogen nun die einzelnen Abteilungen der Franzosen, wie wenn sie bei den russischen Truppen Spießruten liefen, drei Tage lang eine nach der andern bei diesen vorbei, zuerst die des Vizeköniges, dann die Davouts, dann die Neys. Alle ließen sie einander im Stich und ebenso ihre ganze Bagage, ihre Artillerie, verloren die Hälfte der Mannschaft und entkamen nur dadurch, daß sie in mehreren Nächten nach rechts hin im Halbkreis um die Russen herumgingen. Ney, der als letzter marschierte (weil er trotz der unglücklichen Lage der Franzosen oder gerade infolge derselben die Diele hatte schlagen wollen, auf die sie gefallen waren, und sich damit aufgehalten hatte, die Mauern von Smolensk in die Luft zu sprengen, die doch niemand störten), Ney, der mit seinem ursprünglich zehntausend Mann starken Korps als letzter marschierte, gelangte zu Napoleon mit nur tausend Mann, nachdem er alle übrigen Mannschaften und alle Kanonen verloren und bei Nacht heimlich mit Benutzung von Waldwegen den Übergang über den Dnjepr bewerkstelligt hatte.

Von Orscha setzten sie ihre Flucht auf der Wilnaer Straße fort, indem sie genau in derselben Weise weiter mit der verfolgenden[254] Armee Blindekuh spielten. An der Beresina gab es wieder Verwirrung, viele ertranken, viele ergaben sich; aber diejenigen, die mit Not und Mühe über den Fluß hinübergekommen waren, flohen weiter. Ihr höchster Befehlshaber hüllte sich in seinen Pelz, setzte sich in einen Schlitten und jagte, seine Kameraden verlassend, allein davon. Wer konnte, floh gleichfalls; wer das nicht konnte, ergab sich oder kam um.

Quelle:
Tolstoj, Lev Nikolaevic: Krieg und Frieden. 4 Bde., Leipzig 1922, Band 4, S. 252-255.
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