XVIII

[255] Man möchte meinen, in dieser Periode des Feldzuges, bei der Flucht der Franzosen, wo sie alles taten, was nur möglich war, um sich zugrunde zu richten, und wo in keiner Bewegung dieser Menschenschar, vom Einschwenken auf die Kalugaer Straße bis zur Flucht des Führers dieser Armee, der geringste Sinn und Verstand steckte, man möchte meinen, in dieser Periode des Feldzuges sei es den Historikern, die es lieben, die Taten der Massen auf den Willen eines einzelnen Mannes zurückzuführen, nun doch unmöglich, diesen Rückzug in ihrem Sinn darzustellen. Aber nein. Berge von Büchern haben die Historiker über diesen Feldzug geschrieben, und überall ist die Rede von Napoleons Anordnungen und tiefsinnigen Plänen, als von Manövern, durch die er das Heer geleitet habe, und von den genialen Anordnungen seiner Marschälle.

Der Rückzug von Malo-Jaroslawez, während Napoleon doch der Weg nach einem reichen Landstrich offenstand und er die Möglichkeit hatte, die Parallelstraße einzuschlagen, auf der ihn nachher Kutusow verfolgte, dieser nachteilige Rückzug durch eine verwüstete Gegend wird uns als das Resultat von allerlei tiefsinnigen Erwägungen erklärt. Auf ebensolche tiefsinnigen Erwägungen wird sein Rückzug von Smolensk nach Orscha zurückgeführt.[255] Dann wird uns sein Heldenmut bei Krasnoje geschildert, wo er anscheinend sich anschickte, eine Schlacht anzunehmen und sie selbst zu kommandieren, mit einem birkenen Spazierstock umherging und sagte: »Nun habe ich lange genug das Amt des Kaisers ausgefüllt; es ist an der Zeit, daß ich den Posten eines Generals übernehme.« Und trotzdem floh er gleich darauf weiter und überließ die auseinandergeratenen Teile seines Heeres, die sich hinter ihm befanden, ihrem Schicksal.

Dann wird uns die Geistesgröße der Marschälle geschildert, namentlich Neys, eine Geistesgröße, die darin bestand, daß er bei Nacht auf einem Umweg durch den Wald den Übergang über den Dnjepr bewerkstelligte und ohne seine Fahnen, ohne seine Artillerie und mit nur einem Zehntel seiner Truppen nach Orscha flüchtete.

Und endlich stellen uns die Historiker die schließliche Abreise des großen Kaisers von seiner heldenmütigen Armee als etwas Großes, Geniales dar. Sogar diese letzte Handlung, darin bestehend, daß er sich davonmachte, eine Handlung, die die menschliche Sprache als den höchsten Grad der Gemeinheit bezeichnet, deren man jedes Kind sich schämen lehrt, auch diese Handlung erhält in der Sprache der Historiker ihre Rechtfertigung.

Da, wo es nicht mehr möglich ist, die so dehnbaren Gummifäden der historischen Beurteilung noch weiter auszurecken, weil die betreffende Handlung aufs klarste alledem zuwiderläuft, was die ganze Menschheit gut und gerecht nennt, da erscheint bei den Historikern als Retter der Begriff der Größe. Die Größe schließt, wie es scheint, die Möglichkeit aus, den Maßstab des Guten und Bösen anzulegen. Für einen Großen gibt es nichts Böses. Es gibt keine Untat, die man einem großen Mann als Schuld anrechnen könnte.[256]

»Das ist groß!« sagen die Historiker, und da gibt es weder gut noch böse mehr, sondern nur groß und nicht groß. Groß ist gut, nicht groß ist böse. Die Größe ist nach der Anschauung der Historiker eine Eigenschaft gewisser besonderer Wesen, die sie Helden nennen. Und Napoleon, der sich, in einen warmen Pelz vermummt, nach Hause davonmachte, weg nicht nur von seinen Kameraden, sondern von den Menschen, die er (nach seiner Meinung) dorthin geführt hatte, Napoleon hatte die Empfindung, daß seine Handlungsweise groß sei, und sein Gewissen war ruhig.

»Vom Erhabenen« (und er sah in sich etwas Erhabenes) »zum Lächerlichen ist nur ein Schritt«, hat er gesagt. Die ganze Welt sagt seit fünfzig Jahren fortwährend: »Erhaben! Groß! Napoleon der Große!« Aber vom Erhabenen zum Lächerlichen ist nur ein Schritt!

Und niemand kommt auf den Gedanken, daß, wenn man eine Größe als existierend zugibt, die mit dem Maßstab des Guten und Bösen nicht meßbar ist, man damit nur seine eigene Nichtigkeit und unmeßbare Kleinheit zugibt.

Für uns, denen Christus den Maßstab des Guten und Bösen gegeben hat, gibt es nichts Unmeßbares. Und es gibt keine Größe, wo nicht Schlichtheit, Herzensgüte und Wahrhaftigkeit ist.

Quelle:
Tolstoj, Lev Nikolaevic: Krieg und Frieden. 4 Bde., Leipzig 1922, Band 4, S. 255-257.
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