[257] Welcher Russe hätte nicht, sooft er die Darstellungen der letzten Periode des Feldzuges von 1812 las, ein peinliches Gefühl des Ärgers, der Unzufriedenheit und der Unklarheit empfunden? Wer hätte sich nicht folgende Fragen vorgelegt:
Woher kam es, daß nicht alle Franzosen gefangengenommen[257] oder vernichtet wurden, obgleich alle drei Armeen sie in überlegener Zahl umringten, und obgleich die in der Auflösung begriffenen, hungernden und frierenden Franzosen sich haufenweise ergaben, und obgleich (wie uns die Geschichte erzählt) die Absicht der Russen eben darin bestand, alle Franzosen aufzuhalten, abzuschneiden und gefangenzunehmen?
Woher kam es, daß das russische Heer, welches, als es den Franzosen an Zahl nachstand, ihnen die Schlacht bei Borodino lieferte, woher kam es, daß dieses selbe Heer nun, als es die Franzosen von drei Seiten einschloß und die Absicht hatte, sie gefangenzunehmen, dieses Ziel nicht erreichte? Besitzen die Franzosen wirklich eine so gewaltige Überlegenheit über uns, daß wir, trotzdem wir sie mit numerisch stärkeren Streitkräften einschlossen, sie nicht schlagen konnten? Wie ist das zugegangen?
Die Geschichte, d.h. das, was man mit diesem Namen benennt, sagt uns in Beantwortung dieser Fragen, das sei daher gekommen, daß Kutusow und Tormasow und Tschitschagow und der und der nicht die und die Manöver ausgeführt hätten.
Aber warum führten sie diese Manöver nicht aus? Und wenn sie daran schuld waren, daß das gesteckte Ziel nicht erreicht wurde, warum wurden sie nicht vor Gericht gestellt und hingerichtet? Aber selbst wenn man zugibt, daß Kutusow, Tschitschagow usw. die Schuld an dem strategischen Mißerfolg der Russen trugen, so bleibt es doch unbegreiflich, weshalb unter den Verhältnissen, in denen sich die russischen Truppen bei Krasnoje und an der Beresina befanden (in beiden Fällen waren die Russen in der Überzahl), nicht das französische Heer mitsamt den Marschällen, den Königen und dem Kaiser gefangengenommen wurde, wenn anders die Absicht der Russen darin bestand.
Die von den russischen Kriegshistorikern gegebene Erklärung dieser sonderbaren Erscheinung, Kutusow habe den Angriff gehindert,[258] ist deswegen unrichtig, weil wir wissen, daß Kutusows Wille bei Wjasma und bei Tarutino die Truppen nicht vom Angriff zurückzuhalten vermochte.
Warum wurde das russische Heer, das mit schwächeren Kräften bei Borodino den Sieg über den Feind errang, der damals auf der Höhe seiner Kraft stand, bei Krasnoje und an der Beresina trotz seiner Überzahl von den zerrütteten Haufen der Franzosen besiegt?
Wenn die Absicht der Russen darin bestand, Napoleon und die Marschälle abzuschneiden und gefangenzunehmen, und nicht nur diese Absicht nicht erreicht wurde, sondern alle Versuche, sie zu erreichen, jedesmal auf die schmählichste Weise vereitelt wurden, so wird diese letzte Periode des Feldzuges ganz zu Recht von den Franzosen als eine Reihe von Siegen und ganz zu Unrecht von den russischen Historikern als siegreich für die Russen dargestellt.
Die russischen Kriegshistoriker, soweit sie meinen, daß die Logik für sie verbindlich ist, gelangen unwillkürlich, trotz aller lyrischen Ergüsse über Mannhaftigkeit und Hingebung, zu dem Schluß und Bekenntnis, daß der Rückzug der Franzosen von Moskau eine Reihe von Siegen Napoleons und von Niederlagen Kutusows ist. Aber auch wenn wir den nationalen Ehrgeiz ganz aus dem Spiel lassen, fühlen wir, daß dieser Schluß an und für sich einen Widerspruch enthält, da die Reihe der Siege der Franzosen sie zur völligen Vernichtung, dagegen die Reihe der Niederlagen der Russen sie zur gänzlichen Vernichtung des Feindes und zur Befreiung ihres Vaterlandes führte.
Die Quelle dieses Widerspruches liegt darin, daß die Historiker, welche diese Ereignisse unter Zugrundelegung der Briefe der Herrscher und Generale, der Berichte, Rapporte, Pläne usw.[259] studieren, für diese letzte Periode des Krieges des Jahres 1812 unrichtigerweise eine Absicht voraussetzen, die niemals bestanden hat, nämlich die Absicht, Napoleon samt seinen Marschällen und seiner Armee abzuschneiden und gefangenzunehmen.
Diese Absicht hat nie bestanden und konnte nicht bestehen, weil sie keinen Sinn hatte und ihr Erreichen vollkommen unmöglich war.
Diese Absicht hatte keinen Sinn, erstens weil die zerrüttete Armee Napoleons, so schnell sie nur konnte, aus Rußland floh, d.h. eben das tat, was jeder Russe nur wünschen konnte. Welchen Zweck konnte es haben, allerlei Operationen gegen die Franzosen auszuführen, die so schon so schnell flohen, wie sie nur konnten?
Zweitens war es sinnlos, sich Leuten in den Weg zu stellen, die ihre gesamte Energie auf die Flucht richteten.
Drittens war es sinnlos, Opfer an eigenen Leuten zu bringen zum Zweck der Vernichtung der französischen Truppen, die schon ohne äußere Ursachen in solcher Progression zugrunde gingen, daß sie ohne jede Versperrung des Weges nicht mehr Mannschaften über die Grenze bringen konnten, als sie im Dezember wirklich hinübergebracht haben, d.h. ein Hundertstel des ganzen Heeres.
Viertens war der Wunsch, den Kaiser, die Könige und Herzöge gefangenzunehmen, sinnlos, da die Gefangennahme dieser Leute die weiteren Schritte Rußlands im höchsten Grade erschwert hätte, wie das die geschicktesten Diplomaten jener Zeit, J. Maistre und andere, anerkannt haben. Noch sinnloser war der Wunsch, die französischen Armeekorps gefangenzunehmen, während doch die eigenen Truppen bis Krasnoje auf die Hälfte zusammengeschmolzen waren und man den gefangenen Armeekorps ein paar Divisionen als Eskorte hätte zuteilen müssen, und während doch die eigenen Soldaten nicht immer ihre vollen[260] Rationen erhielten und die bereits früher gefangengenommenen Feinde Hungers starben.
Der ganze tiefsinnige Plan, Napoleon und seine Armee abzuschneiden und gefangenzunehmen, war dasselbe, wie wenn ein Gärtner, um das Vieh aus dem Garten herauszutreiben, das ihm seine Beete zertritt, an das Tor liefe und das Vieh auf den Kopf schlüge. Das einzige, was man zur Entschuldigung einer solchen Handlungsweise des Gärtners sagen könnte, wäre, daß er sehr aufgeregt gewesen sei. Aber von den Urhebern jenes Projektes ließ sich auch dies nicht sagen, da sie selbst von dem Zertreten der Beete keinen Schaden hatten.
Aber abgesehen davon, daß ein Abschneiden Napoleons und seiner Armee sinnlos war, war es auch unmöglich.
Unmöglich war es deswegen, weil, wie schon die Bewegungen von Kolonnen auf eine Entfernung von fünf Werst in einer einzigen Schlacht sich erfahrungsmäßig niemals mit den Plänen decken, so auch die Wahrscheinlichkeit, daß Tschitschagow, Kutusow und Wittgenstein rechtzeitig an einem festgesetzten Punkt zusammentreffen würden, äußerst gering war, ja geradezu der Unmöglichkeit gleichkam. Und so dachte darüber auch Kutusow, der schon damals, als ihm der Plan zuging, sich dahin äußerte, Diversionen auf weite Entfernungen brächten nicht die gewünschten Resultate.
Zweitens war es unmöglich, weil, um das Beharrungsvermögen aufzuheben, mit welchem sich Napoleons Heer rückwärts bewegte, außerordentlich viel mehr Truppen erforderlich gewesen wären, als die Russen besaßen.
Drittens war dies deswegen unmöglich, weil der militärische Ausdruck »abschneiden« keinen Sinn hat. Abschneiden kann man ein Stück Brot, aber nicht eine Armee. Eine Armee abzuschneiden, ihr den Weg zu versperren, ist unmöglich, weil es ringsumher[261] immer noch viel Raum gibt, wo sie mit einem Umweg gehen kann, und weil auch die Nacht da ist, in der man nicht gesehen wird; davon könnten sich die militärischen Gelehrten schon aus den Beispielen der Kämpfe bei Krasnoje und an der Beresina überzeugen. Gefangennehmen aber kann man niemand, wenn nicht derjenige, den man gefangennimmt, damit einverstanden ist, so wie es unmöglich ist, eine Schwalbe zu greifen, obwohl man sie fassen kann, wenn sie sich einem auf die Hand setzt. Gefangennehmen kann man jemand, der sich, wie die Deutschen, nach den Regeln der Strategie und Taktik ergibt. Aber die französischen Truppen hielten das mit vollem Recht nicht für zweckmäßig, da der gleiche Tod durch Hunger und Kälte sie auf der Flucht und in der Gefangenschaft erwartete.
Viertens aber, und das ist der Hauptgrund, war es deswegen unmöglich, weil, seit die Welt steht, noch nie ein Krieg unter so furchtbaren Umständen geführt worden ist wie der vom Jahre 1812 und die russischen Truppen bei der Verfolgung der Franzosen alle ihre Kräfte anstrengten und nicht mehr leisten konnten, ohne sich selbst zugrunde zu richten.
Bei dem Marsch der russischen Armee von Tarutino nach Krasnoje stellte sich ein Abgang von fünfzigtausend Mann an Kranken und Nachzüglern heraus, das ist eine Zahl, die der Einwohnerschaft einer großen Gouvernementshauptstadt gleichkommt. Die Armee verlor die Hälfte ihres Bestandes ohne Schlachten.
Und von dieser Periode des Feldzuges, wo die Truppen ohne Stiefel und Pelze, bei mangelhafter Verpflegung, ohne Branntwein, monatelang im Schnee und bei fünfzehn Grad Kälte übernachteten; wo der Tag nur sieben bis acht Stunden dauerte und im übrigen Nacht war, in welcher die Wirkung der Disziplin aufhört; wo die Mannschaften nicht wie in einer Schlacht nur auf[262] einige Stunden in die Zone des Todes hineingeführt wurden, in welcher es keine Disziplin gibt, sondern monatelang jeden Augenblick mit dem Tod des Verhungerns und Erfrierens kämpfen mußten; wo in einem Monat die Hälfte der Armee umkam: von dieser Periode des Feldzuges erzählen uns die Historiker, wie Miloradowitsch einen Flankenmarsch dorthin und dorthin und Tormasow einen solchen dorthin und dorthin hätte unternehmen sollen, und wie Tschitschagow seine Truppen dorthin und dorthin hätte führen sollen (im Schnee, der bis über die Knie reichte), und wie dieser und jener den Feind zurückwarf und abschnitt usw., usw.
Die dem Heer angehörigen Russen, von denen die Hälfte starb, taten alles, was sie tun konnten und mußten, um ein der Nation würdiges Ziel zu erreichen, und konnten nichts dafür, daß andere Russen, die in ihren warmen Stuben saßen, unausführbare Pläne entwarfen.
Dieser ganze seltsame, jetzt unbegreiflich erscheinende Widerspruch zwischen dem wirklich Geschehenen und der geschichtlichen Darstellung rührt nur daher, daß die Historiker, die diese Ereignisse dargestellt haben, eine Geschichte der schönen Empfindungen und Äußerungen dieses und jenes Generals geschrieben haben, aber nicht eine Geschichte der Ereignisse.
Ihnen erscheinen irgendwelche Aussprüche Miloradowitschs und die Auszeichnungen, die diesem und jenem General zuteil wurden, und die Pläne und Vorschläge solcher Leute sehr interessant; aber für die fünfzigtausend Menschen, die in den Lazaretten und Gräbern zurückblieben, interessieren sie sich überhaupt nicht, weil dies keinen Gegenstand ihres Studiums bildet.
Und doch braucht man nur das Studium der Rapporte und der allgemeinen Kriegspläne beiseite zu lassen und in die Bewegung jener Hunderttausende von Menschen einzudringen, die an[263] den Ereignissen direkt und unmittelbar beteiligt waren: und alle die Fragen, die vorher unlösbar schienen, finden plötzlich in überaus leichter, einfacher Weise ihre unzweifelhafte Lösung.
Eine Absicht, Napoleon und seine Armee abzuschneiden, hat niemals existiert, außer in der Phantasie von etwa einem Dutzend Menschen. Diese Absicht konnte nicht existieren, weil sie sinnlos und ihre Erreichung unmöglich war.
Die Nation hatte nur eine Absicht: ihr Land von den Eindringlingen zu säubern. Diese Absicht ist erreicht worden, erstens ganz von selbst, da die Franzosen flohen und daher weiter nichts nötig war, als diese Bewegung nicht aufzuhalten; zweitens wurde diese Absicht erreicht durch die Wirksamkeit des Volkskrieges, der die Franzosen vernichtete, und drittens dadurch, daß das große russische Heer den Franzosen auf dem Fuß folgte, bereit, Gewalt anzuwenden, falls die Flucht der Franzosen zum Stillstand käme.
Das russische Heer mußte wirken wie die Peitsche auf ein laufendes Tier. Und der erfahrene Treiber wußte, daß es am vorteilhaftesten ist, die Peitsche hoch zu halten und mit ihr zu drohen, nicht aber das laufende Tier mit ihr auf den Kopf zu schlagen.
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