V

[200] Der Regen hatte aufgehört; nur der Nebel senkte sich herab, und von den Zweigen der Bäume fielen Wassertropfen. Denisow, der Jesaul und Petja ritten schweigend hinter dem Bauern mit der Zipfelmütze her, der, mit seinen auswärts gesetzten, in Bastschuhen steckenden Füßen leicht und geräuschlos über die Wurzeln und die nassen Blätter hinschreitend, sie nach dem Waldsaum hinführte.

Als sie auf einen mäßigen Abhang gelangt waren, hielt der Bauer einen Augenblick an, blickte um sich und schlug die Richtung nach einer Stelle ein, wo die Baumwand minder dicht war. Bei einer großen Eiche, die ihr Laub noch nicht abgeworfen hatte, blieb er stehen und winkte die andern geheimnisvoll mit der Hand zu sich heran.

Denisow und Petja ritten zu ihm hin. Von der Stelle, wo der Bauer stehengeblieben war, konnte man die Franzosen sehen. Gleich vor dem Wald zog sich von der halben Höhe des Abhangs ein Sommerfeld nach unten. Rechts, jenseits einer steilen Schlucht, war ein kleines Dörfchen und ein nur mäßig großes Gutshaus sichtbar, mit zerstörten Dächern. In diesem Dörfchen und in dem Gutshaus und auf dem ganzen Abhang drüben,[200] in dem Garten, bei den Ziehbrunnen, am Teich und auf dem ganzen Weg, der von der Brücke nach dem Dorf hinaufführte, waren in einer Entfernung von nicht mehr als fünf- bis sechshundert Schritt in dem wallenden Nebel Haufen von Menschen sichtbar. Es war deutlich zu hören, wie sie in einer nicht russischen Sprache die Pferde anschrien, welche sich mühsam mit den Fuhrwerken den Berg hinaufarbeiteten, und wie sie in derselben Sprache auch einander zuriefen.

»Bringt den Gefangenen her«, sagte Denisow leise, ohne die Augen von den Franzosen wegzuwenden.

Der Husar stieg vom Pferd, hob den Knaben herunter und kam mit ihm zu Denisow. Denisow wies auf die Franzosen hin und richtete an den Knaben mehrere Fragen, was dies und das für Truppen wären. Der Knabe, der seine frierenden Hände in die Taschen gesteckt hatte, blickte Denisow ängstlich mit hinaufgezogenen Brauen an; trotz seiner augenscheinlichen Bereitwilligkeit, alles zu sagen, was er wußte, verwirrte er sich in seinen Antworten und bejahte nur, was ihn Denisow fragte. Denisow wandte sich stirnrunzelnd von ihm weg und begann dem Jesaul seine Meinung auseinanderzusetzen.

Petja, der mit schnellen Bewegungen den Kopf nach allen Seiten drehte, betrachtete bald den Tambour, bald Denisow, bald den Jesaul, bald die Franzosen in dem Dorf und auf dem Weg, und war darauf bedacht, daß ihm nichts irgendwie Wichtiges entginge.

»Mag Dolochow kommen oder nicht, wir müssen den Transport nehmen! Wie?« sagte Denisow, in dessen Augen es vergnügt funkelte.

»Das Terrain ist günstig«, erwiderte der Jesaul.

»Die Infanterie schicken wir durch die Niederung, durch die Sümpfe«, fuhr Denisow fort. »Die schleichen sich an den Garten[201] heran. Und Sie reiten mit den Kosaken dort herum« (Denisow zeigte auf den Wald hinter dem Dorf), »und ich mit meinen Husaren hier herum. Und auf das Zeichen durch einen Schuß ...«

»Durch den Grund wird es nicht möglich sein; da ist es moorig«, sagte der Jesaul. »Da bleiben die Pferde stecken; wir müssen weiter links herumreiten ...«

Während sie das halblaut miteinander besprachen, knallte unten im Grund vom Teich her ein Schuß; ein weißes Rauchwölkchen wurde sichtbar; ein zweiter Schuß folgte, und von den Franzosen, die sich auf halber Höhe des Berges befanden, ertönte ein hundertstimmiger Schrei, anscheinend ein Freudenschrei. Im ersten Augenblick wichen Denisow und der Jesaul zurück. Sie waren so nahe, daß sie die Ursache dieser Schüsse und dieses Schreiens zu sein glaubten. Aber die Schüsse und das Schreien hatten ihnen nicht gegolten. Unten, durch die Sümpfe, lief ein Mann in roten Hosen. Auf ihn hatten die Franzosen offenbar geschossen, und auf ihn hatte sich das Geschrei bezogen.

»Das ist ja unser Tichon!« sagte der Jesaul.

»Wahrhaftig, er ist es«, sagte Denisow. »So ein nichtswürdiger Kerl!«

»Er kommt davon!« sagte der Jesaul, die Augen zusammenkneifend.

Der Mann, den sie Tichon nannten, lief an das Flüßchen und plumpste so hinein, daß das Wasser nach allen Seiten hoch aufspritzte; nachdem er dann für einen Augenblick verschwunden war, arbeitete er sich, ganz schwarz vom Wasser, auf allen vieren heraus und lief weiter. Die Franzosen, die hinter ihm hergelaufen waren, blieben stehen.

»Na, ein geschickter Kerl!« bemerkte der Jesaul.

»So ein Racker!« murmelte Denisow mit der gleichen ärgerlichen[202] Miene vor sich hin. »Was er nur bis jetzt gemacht haben mag?«

»Wer ist das?« fragte Petja.

»Das ist unsere Schleichpatrouille. Ich hatte ihn ausgeschickt, um uns eine ›Zunge‹ zu verschaffen.«

»Ah so«, sagte Petja schon bei Denisows ersten Worten und nickte mit dem Kopf, als ob er alles verstände, obwohl er in Wirklichkeit gar nichts verstand.


Tichon Schtscherbaty war einer der unentbehrlichsten Leute in der Freischar. Er war ein Bauer aus Pokrowskoje bei Gschatj. Als Denisow am Anfang seiner Unternehmungen nach Pokrowskoje kam und, wie immer, sich den Schulzen kommen ließ und ihn fragte, was ihm über die Franzosen bekannt sei, antwortete der Schulze, wie alle Schulzen, als wollte er sich verteidigen, sie wüßten reinweg von gar nichts. Aber als Denisow ihm auseinandergesetzt hatte, sein Zweck sei, die Franzosen zu schlagen, und ihn fragte, ob nicht umherschweifende Franzosen zu ihnen gekommen seien, da sagte der Schulze, »Mirodeure« seien allerdings mehrmals dagewesen; aber bei ihnen im Dorf habe sich nur ein einziger Mann mit diesen Dingen abgegeben, Tichon Schtscherbaty.

Denisow ließ Tichon rufen, lobte ihn wegen seiner Tatkraft und sagte ihm in Gegenwart des Schulzen einige Worte über die Treue gegen den Zaren und das Vaterland und über den Haß gegen die Franzosen; von diesen Gefühlen müßten die Söhne des Vaterlandes erfüllt sein.

»Wir tun den Franzosen nichts Schlimmes«, erwiderte Tichon, der offenbar bei diesen Worten Denisows ängstlich geworden war. »Wir haben bloß so zum Spaß mit den Jüngelchen ein bißchen herumgespielt. ›Mirodeure‹ haben wir allerdings ein[203] paar Dutzend totgeschlagen; aber sonst haben wir nichts Schlimmes getan ...«

Als am andern Tag Denisow, ohne noch an diesen Bauern zu denken, aus Pakrowskoje auszog, wurde ihm gemeldet, Tichon habe sich bei der Freischar eingestellt und gebeten, bei ihr bleiben zu dürfen. Denisow befahl, ihn zu behalten.

Anfangs verrichtete Tichon allerlei grobe Arbeit: er zündete die Wachfeuer an, holte Wasser, häutete Pferde ab usw.; bald aber bekundete er große Lust und Fähigkeit zum Freischärlerkrieg. Er ging nachts auf Beute aus und brachte jedesmal französische Kleidungsstücke und Waffen mit zurück, und wenn es ihm befohlen wurde, so brachte er auch Gefangene. Denisow befreite Tichon von den groben Arbeiten, nahm ihn bei Patrouillenritten mit sich und aggregierte ihn der Kosakenabteilung.

Tichon ritt nicht gern, sondern ging immer zu Fuß, blieb aber nie hinter den Reitern zurück. Seine Bewaffnung bestand aus einer Muskete, die er mehr zum Scherz trug, einer Pike und einem Beil; letzteres benutzte er mit derselben Geschicklichkeit wie ein Wolf seine Zähne, mit denen er gleich leicht einen Floh aus dem Fell herausholt und dicke Knochen zerbeißt. Tichon spaltete ebenso sicher, kräftig ausholend, mit seinem Beil einen Balken, wie er, das Beil am Eisen fassend, dünne, glatte Holzpflöcke fabrizierte und Löffel schnitzte. In Denisows Freischar nahm Tichon eine eigentümliche Ausnahmestellung ein. Wenn es erforderlich war, etwas besonders Schwieriges und Widerwärtiges auszuführen, einen Wagen mit der Schulter aus dem Schmutz herauszubringen, ein Pferd am Schwanz aus dem Sumpf herauszuziehen, ein Pferd abzuhäuten, mitten unter die Franzosen zu schleichen, an einem Tag fünfzig Werst zu gehen, dann wiesen alle lachend auf Tichon.[204]

»Was kann es dem Kerl schaden? Der hat ja die reine Pferdenatur«, sagten sie von ihm.

Einmal hatte ein Franzose, den Tichon gefangengenommen hatte, mit der Pistole auf ihn geschossen und ihn in die Weichteile des Rückens getroffen. Diese Wunde, welche Tichon nur mit Brannwein, innerlich und äußerlich, behandelte, wurde der Gegenstand der lustigsten Scherze für die ganze Freischar, und auf diese Scherze ging Tichon selbst gern ein.

»Na, Bruder, nun wirst du so was wohl nicht wieder tun? Das hat dich wohl ganz kaputtgemacht?« sagten die Kosaken lachend zu ihm.

Tichon tat, als ob er sich ärgerte, indem er absichtlich den Mund verzog und Grimassen schnitt, und schimpfte auf die Franzosen in den komischsten Ausdrücken. Dieser Vorfall hatte auf Tichon nur die Wirkung, daß er nach seiner Verwundung nur noch selten Gefangene einbrachte.

Tichon war der nützlichste und tapferste Mann in der ganzen Freischar. Niemand entdeckte häufiger als er Gelegenheiten zu Überfällen, niemand fing und tötete mehr Franzosen; und infolgedessen war er der Hanswurst aller Kosaken und Husaren und spielte selbst gern diese Rolle. Jetzt war Tichon von Denisow schon in der vorhergehenden Nacht nach Schamschewo geschickt worden, um eine »Zunge« zu holen. Aber ob nun deswegen, weil er an einem Franzosen nicht genug gehabt hatte, oder weil er in der Nacht die Zeit verschlafen hatte, genug, er hatte sich bei Tag mitten zwischen die Franzosen ins Gebüsch geschlichen und war, wie das Denisow von der Anhöhe aus mit angesehen hatte, von ihnen entdeckt worden.

Quelle:
Tolstoj, Lev Nikolaevic: Krieg und Frieden. 4 Bde., Leipzig 1922, Band 4, S. 200-205.
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