IV

[194] Es war ein warmer, regnerischer Herbsttag. Himmel und Horizont hatten ein und dieselbe Farbe, die Farbe trüben Wassers. Bald war es, als senkte sich ein Nebel herab, bald auf einmal fiel ein schräger, kräftiger Regen.

Auf einem mageren Vollblut mit eingefallenen Weichen ritt Denisow, in Filzmantel und Schaffellmütze, von denen das Wasser herunterlief. Ebenso wie das Pferd, das den Kopf schief hielt und die Ohren andrückte, kniff auch er bei dem schrägen Regen das Gesicht zusammen und spähte aufmerksam nach vorn. Sein mager gewordenes, von einem dichten, kurzen, schwarzen Bart bedecktes Gesicht trug einen ärgerlichen Ausdruck.[194]

Neben ihm ritt, gleichfalls in Filzmantel und Schaffellmütze, auf einem wohlgenährten, kräftigen donischen Pferd ein Kosaken-Jesaul1, Denisows Gehilfe.

Der Jesaul Lowaiski war ein langer, blonder Mensch, flach wie ein Brett, mit weißem Gesicht, schmalen, hellen Augen und ruhigem, selbstbewußtem Ausdruck in Gesicht und Haltung. Obgleich man nicht sagen konnte, worin eigentlich die Besonderheit des Pferdes und des Reiters bestand, so wurde einem doch beim ersten Blick auf den Jesaul und Denisow klar, daß Denisow sich naß und unbehaglich fühlte und ein Mensch war, der auf einem Pferd saß, daß dagegen der Jesaul sich in so ruhiger, gemächlicher Stimmung befand wie immer und nicht ein Mensch war, der auf einem Pferd saß, sondern ein Mensch, der mit dem Pferd zusammen ein einziges Wesen von verdoppelter Kraft bildete.

Ein wenig vor ihnen ging ein Bauer, der ihnen als Wegweiser diente, in einem grauen Kaftan und mit einer weißen Zipfelmütze, völlig durchnäßt.

Nahe hinter ihnen ritt auf einem mageren, schlanken Kirgisenpferdchen mit langem Schweif und gewaltiger Mähne und mit blutig gerissenem Maul ein junger Offizier in einem blauen französischen Mantel.

Neben ihm ritt ein Husar, der hinter sich auf der Kruppe des Pferdes einen Knaben, in einer zerrissenen französischen Uniform und mit einer blauen Mütze, sitzen hatte. Der Knabe hielt sich mit seinen vor Kälte roten Händen an dem Husaren fest, schlenkerte mit seinen nackten Füßen, um sie zu erwärmen, und blickte mit hochgezogenen Brauen erstaunt um sich. Dies war der am Morgen gefangengenommene französische Tambour.[195]

Dahinter folgten in langem Zug, je drei oder vier nebeneinander, auf dem schmalen, ausgefahrenen Waldweg Husaren und dann Kosaken, teils in Filzmänteln, teils in französischen Mänteln, teils in Pferdedecken, die sie sich über den Kopf geworfen hatten. Die Pferde, Füchse sowohl wie Braune, sahen von dem Regenwasser, das an ihnen herablief, sämtlich wie Rappen aus. Die Hälse der Pferde erschienen infolge der durchnäßten Mähnen auffällig schlank. Ein dichter Dampf stieg von den Pferden in die Höhe. Die Kleidung und die Sättel und die Zügel, alles war naß, schlüpfrig und weich, ebenso wie auch der Erdboden und die abgefallenen Blätter, mit denen der Weg bedeckt war. Die Menschen saßen zusammengekauert da, darauf bedacht, sich nicht zu bewegen, um das Wasser, das bis auf den Körper durchgedrungen war und sich unter dem Gesäß, an den Knien und am Hals gesammelt hatte, zu wärmen und kein neues, kaltes hineinzulassen. In der Mitte zwischen den langen Reihen der Kosaken polterten die beiden Trainwagen mit ihren französischen Pferden und vorgespannten gesattelten Kosakenpferden über die Baumstümpfe und Äste weg und plätscherten in dem Wasser, das die Geleise füllte.

Denisows Pferd geriet, beim Umgehen einer Pfütze auf dem Weg, zu weit zur Seite und quetschte ihm das Knie gegen einen Baum.

»Ha, du Satan!« rief Denisow grimmig und schlug zähnefletschend das Pferd dreimal mit der Peitsche, wobei er sich und seine Kameraden mit Schmutz bespritzte.

Denisow war übler Laune, sowohl wegen des Regens, als auch vor Hunger (seit dem Morgen hatte niemand von ihnen etwas gegessen), namentlich aber weil von Dolochow immer noch keine Nachrichten da waren und weil der Mann, den er abgesandt hatte, um eine »Zunge« zu fangen, nicht zurückgekehrt war.[196]

»Eine solche Gelegenheit, einen Transport zu überfallen, kommt so leicht nicht wieder. Den Überfall allein auszuführen ist zu riskant, und schiebe ich die Sache auf einen andern Tag auf, so nimmt mir eines der größeren Freikorps die Beute vor der Nase weg«, dachte Denisow und blickte unausgesetzt nach vorn, in der Hoffnung, den erwarteten Boten von Dolochow zu erblicken.

Als sie auf einen Durchhau gekommen waren, durch den man weit nach rechts sehen konnte, hielt Denisow an.

»Da kommt jemand geritten«, sagte er.

Der Jesaul sah nach der Richtung hin, nach welcher Denisow zeigte.

»Es sind zwei, ein Offizier und ein Kosak. Aber es ist nicht mutmaßlich, daß es der Oberstleutnant selbst ist«, sagte der Jesaul, der gern Worte gebrauchte, die den Kosaken nicht mundgerecht sind.

Die Reiter, die einen Abhang herunterritten, verschwanden ihnen aus den Augen und wurden erst nach einigen Minuten wieder sichtbar. Voran ritt in müdem Galopp, das Pferd mit der Peitsche antreibend, ein Offizier, mit zerzaustem Haar, durch und durch naß; die Hose hatte sich ihm bis über die Knie hinaufgeschoben. Hinter ihm trabte, in den Steigbügeln stehend, ein Kosak. Der Offizier, ein ganz junges Bürschchen, mit breitem Gesicht von frischer, gesunder Farbe und mit lebhaften, fröhlichen Augen, sprengte zu Denisow heran und überreichte ihm einen durchnäßten Brief.

»Vom General«, sagte der Offizier. »Verzeihen Sie, daß der Brief nicht ganz trocken ist.«

Denisow nahm mit finsterem Gesicht den Brief in Empfang und brach ihn auf.

»Da haben nun alle gesagt, es sei gefährlich, sehr gefährlich«,[197] sagte der Offizier, zu dem Jesaul gewandt, während Denisow den ihm überbrachten Brief las. »Übrigens hatten wir, ich und Komarow« (er zeigte auf den Kosaken), »unsere Vorbereitungen getroffen. Wir haben jeder zwei Pistolen ... Aber was ist denn das?« fragte er, als er den französischen Tambour erblickte. »Ein Gefangener? Sind Sie denn schon in einem Kampf gewesen? Darf ich mit ihm reden?«

»Rostow! Petja!« rief in diesem Augenblick Denisow, der den Brief mit den Augen überflogen hatte. »Aber warum hast du denn nicht gesagt, wer du bist?« Und Denisow wandte sich lächelnd um und streckte dem Offizier die Hand entgegen.

Der Offizier war Petja Rostow.

Auf dem ganzen Weg hatte Petja sich darauf vorbereitet, wie er in einer eines Erwachsenen und Offiziers würdigen Weise, ohne auf die frühere Bekanntschaft hinzudeuten, sich Denisow gegenüber benehmen wollte. Aber sobald Denisow ihm zulächelte, strahlte Petja sofort über das ganze Gesicht, errötete vor Freude und vergaß den dienstlichen Ton, auf den er sich vorbereitet hatte: er fing an zu erzählen, wie er an den Franzosen vorbeigeritten sei, und wie er sich darüber gefreut habe, daß ihm ein solcher Auftrag erteilt sei, und daß er schon an der Schlacht bei Wjasma teilgenommen habe, und daß sich dort ein Husar besonders ausgezeichnet habe.

»Nun, ich freue mich, dich wiederzusehen«, unterbrach ihn Denisow, und sein Gesicht nahm wieder einen ernsten Ausdruck an.

»Michail Feoklitytsch«, wandte er sich an den Jesaul. »Das ist wieder von dem Deutschen. Der junge Mann hier dient bei ihm.«

Und Denisow erzählte dem Jesaul den Inhalt des soeben überbrachten Schreibens, der in der erneuten Aufforderung des deutschen[198] Generals bestand, sich zum Zweck eines Überfalls auf den Transport mit ihm zu vereinigen.

»Wenn wir ihn morgen nicht nehmen, schnappt er ihn uns vor der Nase fort«, schloß er.

Während Denisow mit dem Jesaul sprach, brachte Petja, der über Denisows kalten Ton betroffen war und befürchtete, an diesem Ton sei der Zustand seiner Hose schuld, unter dem Mantel, so daß es niemand bemerken sollte, seine hinaufgerutschte Hose in Ordnung, wobei er sich alle Mühe gab, eine möglichst militärische Miene zu machen.

»Werde ich von Euer Hochwohlgeboren noch einen Befehl erhalten?« sagte er zu Denisow, indem er die Hand an den Mützenschirm legte und wieder zu dem Spiel »Adjutant und General« zurückkehrte, auf das er sich vorbereitet hatte, »oder soll ich bei Euer Hochwohlgeboren bleiben?«

»Einen Befehl?« erwiderte Denisow nachdenklich. »Aber darfst du denn bis morgen hierbleiben?«

»Ach, bitte, bitte ... Darf ich bei Ihnen bleiben?« rief Petja.

»Was hast du eigentlich für einen Befehl vom General? Sollst du gleich wieder zurückkommen?« fragte Denisow.

Petja errötete.

»Er hat nichts befohlen; ich denke, ich darf?« erwiderte er in fragendem Ton.

»Nun gut«, antwortete Denisow.

Und sich zu seinen Untergebenen wendend, ordnete er an, die Freischar solle sich nach dem bestimmten Rastort beim Wächterhäuschen im Wald begeben; der Offizier auf dem Kirgisenpferd aber (dieser hatte die Obliegenheiten eines Adjutanten) solle hinreiten, um Dolochow aufzusuchen und zu hören, ob er am Abend kommen werde. Denisow selbst beabsichtigte mit dem Jesaul und Petja an den Waldsaum zu reiten, der nach Schamschewo[199] zu lag, um diejenige Stelle des französischen Nachtlagers, gegen die sich am nächsten Tag der Angriff richten sollte, in Augenschein zu nehmen.

»Nun, Alterchen«, wandte er sich an den Bauer, der ihnen als Wegweiser diente, »führe uns nach Schamschewo.«

Denisow, Petja und der Jesaul, begleitet von einigen Kosaken und dem Husaren, der den Gefangenen mit auf seinem Pferd hatte, ritten links durch eine Schlucht nach dem Waldrand zu.

Fußnoten

1 = Hauptmann, Rittmeister.

Anmerkung des Übersetzers.


Quelle:
Tolstoj, Lev Nikolaevic: Krieg und Frieden. 4 Bde., Leipzig 1922, Band 4, S. 194-200.
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